Schlag nach bei Cassiel

 

Klar, dass der Niedergang des Cassiel-Blogs „Tangoplauderei“ die Konservativen im Tango schmerzt. Wiederholt hat es Versuche gegeben, den missionarischen Stil des pseudoymen Bloggers fortzuführen. Doch von Christian Birkholz bis Arthur Dent reichte das schreiberische Talent bei Weitem nicht. Es ist halt ein Unterschied, ob man auf Facebook einige Sätze hinkloppt oder einen längeren Text verfasst – noch dazu über ein Thema. 

Um nicht missverstanden zu werden: Aus meiner Sicht hat Cassiel häufig ziemlichen Unsinn verfasst – aber doch immerhin in einer Machart, die viele Leser überzeugte. Schließlich hat er zehn Jahre maßgeblich dazu beigetragen, die deutschsprachige Tangoszene mehrheitlich auf einen reaktionären Kurs zu bringen. Das gelingt nicht, wenn man langweilig und uninteressant schreibt. Man muss schon eine Menge Ahnung vom Tango haben, um erfolgreich zu sein. 

Interessant ist die zeitliche Entwicklung des Blogs. Als Cassiel es Anfang 2009 etablierte, ging es ihm noch um die „Kleinigkeiten am Rande“. Im Jahr darauf wurde der Stil zusehends dogmatischer, was nicht alle Leser goutierten. In den Kommentaren liest man ziemlich viel Widerspruch. Hier sein erster Artikel: 

https://tangoplauderei.blogspot.com/2009/02/willkommen-bei-der-plauderei-uber-den.html

Ich fürchte, das Erscheinen meines Tangobuches, die Weigerung der „Tangodanza“, seine Rezension zu drucken und der Shitstorm gegen mich, den Cassiel anschließend entfachte, haben wesentlich zur Radikalisierung seines Blogs beigetragen. Danach musste jeder Kommentator damit rechnen, selber heftig attackiert zu werden, wenn er vom dortigen Mainstream abweichende Ansichten vertrat. Bezeichnend, dass dann auch die Bielefelder Tangozeitschrift ganze Breitseiten abbekam.  

Als mit der Zeit selbst auf diesem Blog einige Schreiber für mein Buch eintraten, machte Cassiel einen folgenschweren Fehler: Er blockierte – ganz gegen seine sonstigen Gepflogenheiten – die entsprechenden Kommentarstränge und weigert sich bis heute, trotz etlicher Aufforderungen seiner Leser, hartnäckig, sich auf eine inhaltliche Diskussion zu diesem Thema einzulassen. Das brauche er nicht nochmal, so seine Einlassung dazu.

Im Gegensatz dazu kann man auf meiner Seite immer wieder lesen, was ich über Cassiels Ideen zu sagen habe. Diese Diskrepanz hat, so meine feste Überzeugung, zum Niedergang der „Tangoplauderei" entscheidend beigetragen.

Ich finde es immer wieder interessant, auf diesem Blog nachzulesen, wie sich Ansichten und Stimmungen im Tango verändern. Hier ein Beispiel:

Einer der ersten ideologisch geprägten Artikel war 2009 „Ein flammendes Plädoyer für el cabeceo". Obwohl daran schon zu erkennen war, dass man sich als „Cabeceo-Skeptiker“ beim Meister einen Spreißel einziehen würde, gab es damals noch ziemlich viele kritische Rückmeldungen. Einige davon halte ich für sehr nachdenkenswert und möchte sie daher in Auszügen wiedergeben. 

„Auf einer internationalen Milonga ist es mir letzte Woche z.B. so ergangen: (…) Zunächst galten - aus reiner Sicherheit - meine Blicke ausschließlich den Tanzenden. Dann aber wanderte mein Blick auch um die Tanzfläche herum, und natürlich ließen sich Blickkontakte da nicht vermeiden. Und bevor ich überhaupt irgendwie lächeln oder sonstwie auf einen Blick eines Tangueros reagieren konnte, war ich schon eindeutig aufgefordert worden.
Dieses ruhige ‚Spiel‘, oder besser ‚vorsichtige Vorfühlen‘ durch einen Blick gab es nicht. Ich hatte eigentlich kaum eine Wahl, sondern fühlte mich fast gezwungen, den Tanz anzunehmen. Genau so, als ob der Herr direkt vor mir gestanden hätte. Alles andere als den Tanz anzunehmen wäre sehr unhöflich gewesen, auch wenn es nicht alle so unmittelbar mitbekommen hätten. (…)

Und wenn ich ehrlich bin, dann muss ich auch gestehen, dass ich es immer sehr nett finde, wenn ein Herr sich die Mühe macht, zu mir zu kommen und mich direkt auffordert. Quer durch den Raum aufgefordert zu werden überfordert und verunsichert mich häufig. Es wäre ein Alptraum für mich, zu denken, dass ich aufgefordert worden bin, dann aber feststellen muss, dass ich da etwas missverstanden habe... schrecklich.“

Dies schrieb übrigens eine gewisse „Raxie“, die sich im nächsten Jahr durch besonders gehässige Anwürfe gegen mein Tangobuch hervortat – mithin eine unverdächtige Zeugin.

Interessant auch die Ausführungen eines Tangueros, der den Cabeceo generell schätzt. Umso überzeugender finde ich sein differenziertes Urteil:    

„Mich stört allerdings sehr (!) jedwede extremistische Festlegung darauf. (…) Daher plädiere ich entschieden gegen jede absolutistische Verpflichtung zu dieser Methode, gegen jede Ausschließlichkeit bzgl. erlaubter Aufforderungsmethode! Es kommt doch immer auf die konkreten Umstände an, und die sollten jeweils flexibel beantwortet werden. (…)

Ich kenne beispielsweise ebenfalls etliche Tangueras, die auch nach Jahren noch keine Kenntnis über ‚Mirada y Cabeceo haben (…) oder die einfach nicht gut damit umzugehen wissen: Sie lassen ihre Brille im Etui (weil sie beim Tanzen stören könnte), sie starren unverwandt auf die Tanzenden ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, beziehungsweise plaudern ohne Pause mit ihrer Leidensgenossin.
Denen dann den sehr zweischneidigen Rat zu geben, eine verbale Aufforderung in jedem Fall abzulehnen, bewirkt lediglich Folgendes: Erstens werden diese Tangueras zuverlässig noch längere Phasen als bisher lediglich sitzen statt tanzen, und zweitens werden noch mehr Beginner-Männer frustriert die Tango-Szene wieder verlassen(…) Langfristig schadet das der Kultur und damit dem Fortbestand der Tango-Szene!
Genauso wie übrigens auch jene stolze Tanguera, die - weil's ja jetzt sooo schön einfach geht - nur bei den drei Top-Tänzern des Abends den Blick sucht und beim geringsten Zweifel an den Qualitäten des per Mirada anfragenden Tangueros einfach zur Seite geguckt. Das ist bei einem ‚Cabeceo-only‘-Diktat nämlich ein oft gesehenes Ergebnis, sozusagen eine ‚aus dem Ruder gelaufene Abhilfe‘.“
 

Zitiert wird auch ein anderer Schreiber, der ebenso auf die Kultur der Freundlichkeit im Tango hinweist: 

„Tangotänzer vergessen gerne, dass Tango nicht der einzige Tanz ist - und dass bei anderen Tanzabenden dasselbe Grundproblem besteht, um das es eigentlich geht: Eine Aufforderung wie die Antwort darauf sollten so sein, dass beide Beteiligten sachte und respektvoll genug vorgehen, dass, selbst wenn die Aufforderung nicht angenommen wird, sich beide in Ordnung damit fühlen.
Die Frage nach Cabeceo oder nicht ist falsch. Es geht stattdessen um die Frage, ob die jeweilige Tangoszene eine gute Kultur des gegenseitigen Umgangs hat. (…)
Also Leute: Es kommt nicht darauf an, ob man mit Augen oder Mund auffordert, es kommt darauf an, wie man es tut. Immer freundlich sein und niemanden bedrängen oder dreimal hintereinander fragen, wenn er/sie nie Ja sagt. (…)

Ich tanze seit 8 Jahren Tango, war schon in ziemlich vielen Städten (…) und kenne auch diverse andere Tanzszenen ganz gut. Und ich muss sagen, dass das Auffordern bei Tango am dysfunktionalsten ist - vor allem in Szenen, in denen es den Cabeceo gibt. Ganz schlimm: Orte, wo irgendwelche argentinische Machos rumlaufen und Frauen erzählen, es zieme sich nicht für eine Frau zu fragen - und die dann Tänzerinnen blacklisten, die es trotzdem tun...

Daher bin ich dafür, aufzufordern/anzunehmen/abzulehnen, wie es sich eben am natürlichsten aus der Situation heraus ergibt: Manchmal ist verbal viel natürlicher, manchmal ergibt es sich per Blickkontakt. Worauf es ankommt ist, dass man rücksichtsvoll ist, um niemandem den Abend zu verderben."

Über den Sinn von Traditionen denkt dieser Leser nach:

„Ich habe da einen etwas radikalen Ansatz, obwohl ich mit 54 wohl auch schon zu den ‚Tradierten‘ gehöre: Traditionen sollte man pflegen, wenn sie gut sind. ‚Gut‘ heißt für mich beim Tango immer bezogen auf die Sozialkompetenz. Beispiel: Wenn ich es mit tradierten Verhaltensweisen Newbies in der Szene schwer mache, dann sollte ich mindestens mal darüber nachdenken! Traditionen, die keine andere Funktion haben als andere - nicht Wissende - auszuschließen, würde ich ablehnen.“ 

Man könnte die Corona-Pause sicherlich dazu nutzen, über solche Sichtweisen einmal nachzudenken!

Aber selbstverständlich bekomme auch ich mein Fett ab (obwohl ich auf diesem Blog noch keine Zeile veröffentlicht habe):

„Dass ein Herr Riedl dies nicht begreift, der sogar Verschwörungstheorien entwickelt, wonach solche Rituale, genauso wie die Tatsache, dass es wesentlich mehr traditionelle Milongas als andere gibt, wie er sagt ‚von oben gesteuert sind‘ wundert mich nicht (der Herr hat noch immer nicht begriffen, dass jeder, der eine Milonga veranstalten will, entscheiden kann welcher Art diese Milonga sein soll), aber wieso Ihre Unsicherheit?“

Mist, da wurde ich doch – lange vor den Querdenkern – als „Verschwörungstheoretiker“ entlarvt! Und dass mir ein falsches Zitat untergeschoben wurde, hat keinen gestört…

https://tangoplauderei.blogspot.com/2009/04/ein-flammendes-pladoyer-fur-el-cabeceo.html

Aber vielleicht hat man mich ja auch verwechselt: 

„Anonym hat gesagt…

Der Gerhart dreht gerade durch .....

[#22] 12. Mai 2015 um 21:09 

cassiel hat gesagt…

Wer ist Gerhart?

[#23] 12. Mai 2015 um 21:33

Anonym hat gesagt…

Na Gerhart Riegel

[#24] 12. Mai 2015 um 21:58 

cassiel hat gesagt…

@anonym 
Aha. Du weißt aber schon, dass er sich Gerhard Riedl schreibt?

[#26] 12. Mai 2015 um 22:36

https://tangoplauderei.blogspot.com/2015/05/von-der-unmoeglichkeit-den-Tango-vorherzusehen.html

Schweigen… Nein, weiß er natürlich nicht.

Dennoch kann ich nur empfehlen, immer mal wieder bei Cassiel nachzuschlagen. Vor allem den Damen – der Gute ist (nicht nur beim Cabeceo) wahrlich ein Frauenversteher. Nur bei ihm sowie Shakespeare erhält man das Vokabular, um bei der weiblichen Fraktion zu punkten.

So wie im Cole Porter-Musical „Kiss me Kate“ (1948, also beste EdO), zu dem der Berliner Kabarettist Günter Neumann die hinreißende Übersetzung verfasste:

Die bess'ren Damen gewinnt man nur
Durch Beherrschung der Lit'ratur.
Du wirst Eindruck schinden, zitierst du kess
Aeschylos und Euripides.
Homer gibt dir über Frauen Macht!
Homer ist der, wenn man trotzdem lacht!
Die Mädchen verehr‘n deinen Kunstverstand,
Hast du 'n Knüller von Schiller zur Hand.
Aber Shakespeare ist der Clou - du wirst im „Salong" zum Löwen,
Rezitierst du immerzu den Schwan von „Stratford am Avon"

(…)

Lässt Sie dich nicht ans goldblonde Feenhaar,
Dann komm' wütend an wie König Lehar.
Rezitierst du Herrn Shakespeare's Sonette,
Zieht sie zärtlich dich zur Lagerstätte,
Zeigst du Schwermut wie Herzog Orsino,
Wird die Liebe so schön wie im Kino!

Schlag' nach bei Shakespeare, und die Frau'n sind hin!
Jawoll, sie sind alle hin!

Bestimmt, sie sind alle hin!

https://musikguru.de/cole-porter/songtext-schlag-nach-bei-shakespeare-444060.html

Den Gesang liefert das legendäre Duo Wolfgang Neuss und Wolfgang Müller:


 

Kommentare

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