Ente gut, alles gut?
Die Seite „Berlin Tango Vibes“ und mein Blog eint das Bemühen, auch in Corona-Zeiten das Thema Tango nicht untergehen zu lassen.
Leider sind viele Texte dort ziemlich kurz und enden häufig an dem Punkt, wo es interessant würde. Es würde mich freuen, wenn in der Bundeshauptstadt – nicht nur bei unserem Tanz – die Tendenz, Probleme zu Ende zu denken, zunähme.
Dies gilt nicht für den neuesten Beitrag auf dem Berliner Blog, den Laura Knight „Tango-Disneyland“ überschreibt. Und – Potztausend – sie meint damit tatsächlich das Tango-Mekka am Rio de la Plata! Bereits das hätte noch vor fünf Jahren gereicht, um einen Dschihad auf traditionellen Tangoseiten auszulösen!
Bereits die Einleitung des Artikels kommt mir irgendwie bekannt vor:
„Die einen pilgern nach Mekka, die anderen nach Jerusalem, wieder andere nach Rom oder zum Bodhi-Baum, echte Yogis müssen mal in Indien gewesen sein und Tango-Aficionadxs? Na klar, in Buenos Aires. Kaum ein*e Tango-Lehrer*in, auf dessen*deren Website nicht mindestens ein längerer Buenos Aires-Aufenthalt herausgestellt wird und kaum ein*e langjährige*r Tanguerx, der*die nicht zumindest mal mit dem Gedanken gespielt hat, dorthin zu reisen.“
Richtig – in meinem Tangobuch hieß es schon 2010 (allerdings ohne die schrecklichen Gender-Verstümmelungen):
„Das Label ‚IBAG‘ (‚in Buenos Aires gewesen‘) gilt inzwischen als absolutes Qualitätssiegel – so wie bei Moslems die mindestens einmal im Leben zu absolvierende Pilgerfahrt (Hadsch) nach Mekka (kennen wir als Karl May-Leser doch von ‚Hadschi Halef Omar‘).“
Man wolle durch einen Besuch dort, so die Autorin, den „wahren Tango“ erfahren. Das klinge schön, sei aber nicht wirklich wahr. Dazu lässt sie den legendären Carlos Gavito sprechen, der glücklicherweise so viel gesagt hat, dass man zu fast jedem Tangothema etwas Erhebendes findet:
„Tango war eine Musik der Immigranten – daher hat er keine Nationalität. Sein einziger Reisepass ist das Gefühl.“
Ohne mich natürlich im Mindesten mit solchen Granden vergleichen zu wollen – aber in meinem Tangobuch steht dazu seit zehn Jahren:
„Diese Musik ist, schon von ihrer Entstehung her, zutiefst multikulturell. Niemand bestreitet den Anteil argentinischer Komponisten, Musiker, Textdichter und Tänzer, doch gibt es – bis heute – kaum eine Region unseres Globus‘, die nicht ihren Beitrag zum Tango geleistet hätte und immer noch leistet.“
Man könne zwar in Buenos Aires die altehrwürdigen Milongas und andere Gedenkstätten besuchen, die besten Lehrerpaare dagegen seien meist in Europa unterwegs. Dadurch sinke das tänzerische Niveau in der Tangometropole. Als deren „großer Fan“ muss die Autorin zugeben:
„Gerne gebe ich mich als Tango-Touristin dann der Illusion hin, dort näher am ‚echten Tango‘ zu sein. Aber das ist eben in großen Teilen nur eine Illusion (…)
Ich bin schließlich hier, um etwas ‚Ursprüngliches‘ zu erleben, was es schon immer gab (solange es den Tango gibt, zumindest), und nicht etwas, was nur existiert, weil ich und viele andere dorthin kommen, um danach zu suchen. Etwas, was extra für uns am Leben gehalten wird. Mir wird ein bisschen schwindelig bei dem Gedanken.“
Keine Sorge – das ist nur die Empfindung, wenn man endlich aufhört, sich selber zu beschwindeln!
Laura Knight endet versöhnlich: Immerhin bleibe Buenos Aires ja der internationale Treffpunkt der Tangoszene mit einer Fülle von Begegnungen – so ihr Text aus der „Prä-Corona-Zeit“.
Hier der Artikel in vollem Wortlaut:
https://berlintangovibes.com/2020/11/08/tango-disneyland/
Weil wir grade dabei sind: Verglichen mit den deutschen Tango-Business geht es den Kolleginnen und Kollegen in Argentinien derzeit wirklich grausig schlecht. Viele, die dereinst am Tango gut verdienten, müssen sich nun an Suppenküchen anstellen. Ich habe dazu bislang nichts geschrieben, weil mir die direkten Erfahrungen fehlen – ich war noch nie in Buenos Aires.
Was mich aber schon wundert: Darüber lese ich in deutschen Tango-Verlautbarungen so gut wie nichts – stattdessen wird heftig fürs eigene Einkommen getrommelt. Ich finde das schon merkwürdig: Früher die viel gepriesenen Stars des „Disneylands“ – und nun die ignorierten Hungerleider...
So viel zur häufig beschworenen weltweiten Verbundenheit im Tango.
Immerhin aber erfreulich, dass nun die Relativierungen zunehmen. Noch vor wenigen Jahren war der Tango ja noch ideologisch durchgestylt: Authentischer Tango in Buenos Aires mit festgefügten Musik- und Verhaltensregeln. Wiederspruch zwecklos bis gefährlich. Und jede anständige Milonga hatte sich am angeblichen „argentinischen Vorbild“ zu orientieren.
Bereits vor mehr als vier Jahren habe ich in einem Artikel die ketzerische Behauptung aufgestellt:
„Buenos Aires ist auch nicht mehr das, was es nie war…“
Ich schrieb damals:
„Die Blaupause, welche man für die restliche Welt einfordert, bezieht sich also auf gar kein Original, sondern eher eine Wunschvorstellung, wie es in Buenos Aires angeblich mal war oder es zumindest sein sollte!
Mich erinnert das an die weltweiten ‚Oktoberfeste‘, auf denen das Bier noch würziger, die Deandl noch fescher und die Buam noch uriger sind als in der bayerischen Landeshauptstadt. Mag der japanische Tourist auch stets jodelnde Bayern, blumengeschmückte Kühe und resche Sennerinnen (oder umgekehrt) erwarten – die Realität im Südstaat der BRD sieht (Gott sei Dank) etwas normaler aus. Aber man darf sich ja solche Wunschprojektionen schaffen und diese dann ‚Oktoberfest‘ oder ‚traditionelle Milonga‘ nennen."
https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/07/buenos-aires-ist-auch-nicht-mehr-das.html
Das Disneyland zu bestaunen heißt halt auch, dass man einer Ente aufsitzt – gerade im Entenhausen des Tango. Darf man, wenn es einen glücklich macht. Nur sollte man in klaren Stunden das erkennen, was Laura Knight so formuliert:
„Tango ist eben kein totes Objekt, wir können ihn nicht erleben, ohne ihn zu verändern.“
In meinem Tangobuch lautet die entsprechende Passage:
„Sich gegen die Evolution zu sperren ist keine gute biologische Strategie
– und Überlebenschancen hat vor allem das Lebendige.“
P.S. Wer das Tango-Disneyland noch etwas genießen möchte:
Kommentare
Kommentar veröffentlichen