Fünf Prozent


Kann jeder und jede Tango lernen? Im Internet ist man sich da ganz sicher:
 
Bei uns kann wirklich jeder Tango Argentino lernen!

Wir zeigen Euch Tango so, dass Ihr schon nach wenigen Stunden gut und sicher über das Parkett gleiten könnt. Ab der ersten Unterrichtsstunde lernt ihr zu improvisieren.

Jeder kann Tango lernen – davon ist das Tanzpaar überzeugt.

Jeder, der auf 2 Beinen stehen kann, ist in der Lage, Tango zu lernen.

Der Tango Argentino des 21. Jahrhunderts basiert auf den natürlichen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers, so dass jeder ihn lernen kann.

Tango kann jeder lernen!

Tango ist für alle Menschen geeignet und kann in jedem Alter gelernt werden.
 
Die Mehrheit kann nicht irren. Oder doch?

Seit längerer Zeit ist mir klar, dass man letztlich zwei Arten von kritischen Artikeln schreiben kann:

Bei der einen Sorte bezieht man sich auf eine kleine Gruppe von Menschen, welche möglichst unpopulär oder Gegenstand von Neid ist: Finanzberater, Versicherungsvertreter, Politiker, DJs oder Tangolehrer. Dafür erhält man ein relativ großes Feedback, oft sehr positiv. Selbst, wenn die Satire ziemlich deftig ausfällt, finden es viele witzig:
 
Haha, was die anderen wieder machen...

Die andere Sorte von Texten betrifft eine Mehrheit der Leser und hält ihnen einen Spiegel vor. Hier ist die öffentliche Resonanz gleich null. Wer gibt schon gerne zu, dass man sich selber bei Fehlern oder Schwächen ertappt sieht?

Bin ich eventuell selbst gemeint? Kann doch gar nicht sein... 

Da es Blogger-Kollegen gibt, welche ihre Leser geradezu um Stellungnahmen anbetteln, füge ich hinzu: Einen direkten Zusammenhang zwischen Zugriffsrate und Kommentarzahl konnte ich noch nie feststellen. Man schweigt vielleicht peinlich berührt, liest es aber dennoch.

Daher werde ich auch weiterhin Texte wie diesen verfassen, welcher ziemlich sicher zu der letzteren Sorte gehört – schon deshalb, weil es in der Tangoszene kaum jemand wagen wird, diese Gedanken auszusprechen.

„Jeder kann Tango argentino lernen“: Gibt man diesen Satz in eine Suchmaschine ein, erhält man binnen weniger Minuten haufenweise Zitate, von denen ich einige anfangs veröffentlicht habe. Die Mehrheit der Tangolehrer ist sich natürlich einig: Klar ist jede(r) in der Lage, diesen Tanz zu erlernen – manchmal noch garniert mit weiteren Glücksversprechen: Innerhalb kürzester Zeit (manchmal sogar gleich nach der „Schnupperstunde“) könne man schon auf Milongas mithalten. Ist ja alles ganz easy…

Natürlich kann ich bei Veranstaltern von Kursen und Workshops verstehen, dass sie solche Sachen behaupten müssen – irgendwelche Einschränkungen würden sich stark umsatzmindernd auswirken.

Da ich mit derlei Aktivitäten kein Geld verdienen muss, erlaube ich mir die Feststellung: Die Behauptung, jede(r) könne Tango lernen, ist zumindest stark irreführend: Wer das liest, stellt sich wohl vor, auch sie (oder er) könne dereinst engumschlungen bis brünstig im Flow der Musik über das Parkett gleiten – möglichst noch mit den verzwirbelten Fußaktionen, wie sie auf den Werbefotos und Videos von Lehrerpaaren zu bestaunen sind.

Mit Verlaub: Das ist geblümter Schwachsinn.

Auf einer üblichen Milonga sieht man meist eine größere Zahl von Anfängern sowie etliche Paare, die ich grob der tänzerischen Mittelstufe zuordnen würde (obwohl sie teilweise schon jahrelang tanzen). Und wirklich sehr gute bis tolle Tanzpaare, gar mit einem individuellen Stil? Ganz vereinzelt!

Öfters habe ich schon scherzhaft die Vermutung geäußert, es müsse wohl – analog zur H.G. Wells „Zeitmaschine“, „Morlocken“ geben, welche des Nachts aus ihren Höhlen kommen und die guten Tänzer (alias Eloi) fressen. Im Ernst: Bei dem großen Zustrom, den der argentinische Tango seit Jahren hat, müsste sich doch im Lauf der Zeit eine solide Spitzengruppe gebildet haben! Davon ist weit und breit wenig zu sehen.

Dazu kommt, dass man durch die Konzentration auf historische Tangomusik (und damit den Ausschluss von „schwierigen“ Komponisten wie Piazzolla) nun wirklich das Menschenmögliche getan hat, um den Tanzenden simpel umzusetzende Klänge zu bieten. Zudem wird im „traditionellen“ Tango seit Jahren Front gegen alles gemacht, was tänzerisch anspruchsvoll werden könnte: keine Ganchos, Boleos, Volcadas oder gar Hebefiguren und Sprünge verächtlich nennt man all dies „Bühnentango“ und propagiert weiß Gott schlichte Tanzweisen.

Nicht einmal das alles scheint zu helfen.

Ich fürchte, im Kern bleibt nur diese Erklärung: Um Tango wirklich gut zu tanzen, sind tänzerische Begabung sowie eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur erforderlich – vor allem Willensstärke und Frustrationstoleranz – sowie natürlich Kreativität plus Spaß am Tanzen, und das kiloweise!

Insbesondere dem weiblichen Sehnsuchtsseufzer „Ach, Tango würde ich auch gerne lernen“ stehe ich inzwischen höchst skeptisch gegenüber (nicht nur wegen des Konjunktivs): Unzählige Male habe ich erlebt, wie sich die Begeisterung sehr schnell legt, wenn klar wird, dass man ständig den Bauch einziehen, die Achse stabilisieren und nach vorne belasten soll. Und vor allem, wenn man merkt: Mit einer Tangostunde pro Woche erreicht man sehr wenig. Dazu kommen noch unerfreuliche Erfahrungen: Erstaunlicherweise bevorzugen die Männer junge, schlanke und durchtrainierte Frauen und nicht solche, die sich mit der Stabilität einer Packung Kunsthonig herumschieben lassen wollen…

Daher ist die Zahl von Abbrecherinnen in unserem Tanz riesig – Männer sind da vernünftiger: Sie gehen mehrheitlich gar nicht erst hin.

Dazu kommt ein schwer zu beschreibendes Persönlichkeitsmerkmal: zu wissen, wer man ist und was man will. Tango ist kein Tanz der Konjunktive: Er erfordert klare Signale, eine entschlossene Körpersprache, und zwar bei beiden Tanzenden. Und er setzt voraus, sich vorbehaltlos auf einen – vielleicht wildfremden – Partner einzulassen. Guter Tango ist eine Gratwanderung zwischen Spannung und Sanftheit, Nähe und Distanz, ein Tanz auf der Rasierklinge.

Und die Musik macht es nicht leichter: Schon öfters hörte ich die Äußerung, man könne beim Tango „keinen klaren Rhythmus“ ausmachen. So falsch ist das nicht: Ich kenne keinen anderen Tanz, der bis heute ohne Percussion auskommt. Aber gerade das macht ihn ja (für manche) so faszinierend. Man tanzt eben die gesamte Musik und nicht nur den Takt – wie verwirrend!

Daher: Ohne „Blut, Schweiß und Tränen“ wird man das Glückgefühl eines „Traumtangos“ nicht erreichen.

Um daher endlich auf die Überschrift des Artikels zu kommen: Ich glaube nicht, dass Tango für mehr als fünf Prozent der Menschen die geeignete Betätigung ist. Und ich fürchte, das sieht in Argentinien nicht anders aus als bei uns!

Nun wäre es ja schön, wenn wir dieses kleine Segment auf unseren Milongas begrüßen dürften. Ich meine jedoch, das ist nicht der Fall. Wer beim Tanzen mehr macht als das Übliche, wird eher verdächtigt als bewundert. Glücklicherweise bietet die Tangobranche aber heute nicht nur das Tanzen, sondern viele Arten von Entertainment und Freizeit-Verschönerung. Die Kolleginnen von „Berlin Tango Vibes“ haben das kürzlich sehr treffend beschrieben:

Damit man mich nicht missversteht: Natürlich kann jede(r) Tango lernen, wenn man darunter das Abmarschieren tangoähnlicher Schritte versteht. Und dazu kommt ja noch, falls man einander nicht nach hinten hängend aus dem Weg geht, der „Kuschelfaktor“ – auch ganz nett und ab einer gewissen Altersstufe außerhalb von Milongas oft nur schwer zu bekommen…

Daher habe ich für Tango-Anfänger(innen) – je nachdem – zwei Tipps:

Wenn Sie dauerhaft das Gefühl haben, im Tango eher Frust als Lust zu erleben: Hören Sie auf damit! Es gibt sportliche Betätigungen, die gesünder sind als sich verschwitzt und in abgestandener Luft zu meist langweiliger Musik zu bewegen – noch dazu, wenn die Tanzpartner alles tun, um Ihre Aktionen zu behindern! Und feste Rangordnungen sowie ideologische Festlegungen finden Sie auch im Trachtenverein…

Sollte Ihnen nur der Tanz Probleme machen, die soziale Atmosphäre von Tangoveranstaltungen dagegen Freude bereiten: Es gibt im Tango verschiedenste Betätigungen, bei welchen Sie auch mit nur geringer Parkett-Aktivität voll eingebunden sind – kandidieren Sie für den Vorstand eines Tangovereins, organisieren Sie Milongas, verkaufen Sie Tangokleidung und Schuhe oder legen Sie die Musik auf!

Und schlimmstenfalls können Sie immer noch Tangolehrer werden…
 

 

Kommentare

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