Neues von anno dazumal


Eine sehr interessante Frage wird derzeit in einer Facebook-Gruppe für Tango DJs besprochen. Da sie aber geschlossen ist, werde ich – um Aufregungen zu vermeiden – die Quelle nicht nennen.

Ein mir näher bekannter DJ fragte dort:

„Wann haben DJs angefangen, mit Tandas in Buenos Aires zu spielen?
Was ist der Ursprung dieses Brauchs? Wann hat er in Europa angefangen?
Ich würde sagen, in München hat es etwa vor 15 Jahren begonnen,  also um 2003/2005, habe ich recht?

Zweifellos ein Thema mit hoher Brisanz: Das Siegel der „traditionellen Milonga“ verlangt ja nicht nur eine strikte Auswahl von Musikstücken, die keinesfalls nach 1960 aufgenommen sein dürfen, sondern auch deren vorschriftsmäßige Anordnung in Tandas (also Tanzrunden von drei bis vier Titeln), welche von einer andersartigen, möglichst wenig tanzbaren Zwischenmusik (Cortina = „Vorhang“) unterbrochen werden. Und auch innerhalb einer Tanda gilt es als grobes Vergehen, die Interpreten zu mischen – ja, selbst Aufnahmen aus verschiedenen Schaffensperioden eines Orchesters oder mit unterschiedlichen Sängern gelten als höchst verdächtig.

Und während das gemeine Tangovolk von der zu tanzenden Musik wenig bis keine Ahnung hat, gibt es eine kleine Gruppe von mit Heilswissen versehenen Exegeten am früheren Plattenpult, welche die ihr Anvertrauten vor der Schädigung mit illegalen Klängen schützen – und die im Gegensatz zum lieben Gott nicht alles, aber alles besser wissen.

Da es dort als Axiom gilt, sich auf die Tradition der Época de Oro zu beziehen, welche Mitte bis Ende der 1930-er Jahre begann, wäre zu erwarten, dass man das heute verwendete Musikschema lückenlos auf diese Zeit zurückverfolgen könnte.

Doch die über 50 Antworten der beteiligten, durchaus hochgradigen Experten zeigen überraschenderweise: Nix Genaues weiß man nicht…

Ein großes Problem der Verfechter „traditioneller Milongas“ ist es schon mal, dass bis in die 1950-er Jahre hinein auf Tangoveranstaltungen die Live-Musik dominierte, es also gar keine DJs gab. In einer der zitierten Quellen heißt es:

„In den 40-er und 50-er Jahren hatten Milongas gewöhnlich ein Tango-Orchester, ein Jazzorchester, und besonders in den fünfziger Jahren eines mit ‚tropischer Musik‘ (Danzon, Mambo, Chachacha). Wenn die Milonga sehr wichtig war, gab es ein anderes Tango-Orchester, das weniger berühmt war als das Hauptorchester. (…) Dann tanzten sie ungefähr 35 Minuten lang ohne Unterbrechung zu jedem Orchester, und im Wechsel des Tango-Orchesters wurden die drei Genres gemischt (Tango, Vals und Milonga). Als das Orchester seine Aufführung beendet hatte, wurde der Vorhang (buchstäblich) abgesenkt, und diese Zeitspanne dauerte es, bis sich das nächste Orchester niederlassen konnte ... vielleicht etwa zehn Minuten?  

Amüsant ist auch die folgende Erkenntnis:

„Nicht im Tango, aber im Standard war es schon 1960 und sicher auch früher so, dass die Livemusik 5 Stücke spielte, und dann kam eine kurze Pause, in der man die Partnerin zum Platz brachte. Meist mit einer Ansage. Das ist also viel älter, erst Ende der 60er wurden diese Dinge abgelegt und vergessen.“

Tja, hätte der Schreiber in den letzten 50 Jahren mal einen Faschingsball besucht, wüsste er, dass dies heute noch so ist! Nicht nur Tanzende, sondern auch Musiker brauchen halt nach einigen Stücken eine Pause, was zeitlich begrenzte Tanzrunden nötig macht – übrigens oft auch mit einem musikalischen Signal bei deren Ende.

Aber auch andere Erklärungsmuster werden angeboten:

„Was die Herkunft angeht – eine  interessante Theorie ist: Als man Tango-Musik zuerst im Radio spielte, wurden vier Aufnahmen geboten, dann eine Werbung.“

Vielleicht lag es auch daran, dass man zu Frühzeiten in „Academías“ genannten Rotlichtlokalen eine Blechmarke („Lata“) kaufen musste, um mit einer Taxitänzerin (um es vornehm auszudrücken) einige Stücke tanzen zu dürfen. Die Cortina zeigte dann an, dass die Zeit abgelaufen war.

Mit Schallplatten konnte – schon wegen der unzureichenden Verstärkungstechnik nur in sehr kleinen Veranstaltungen aufgelegt werden. Ein Kommentator berichtet, dies sei in den „Surcos des Discos“ ab den 1930-er bis 40-er Jahren üblich gewesen.  

Im Laufe der 1950-er Jahre waren wegen des Besucher-Rückgangs größere Orchester nicht mehr zu bezahlen; es schlug die große Stunde der DJs, welche zuerst mit Schallplatten, später mittels Musikkassetten und schließlich CDs auflegten.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Aufteilung der Musik war eher technisch denn ideologisch bestimmt.

Ab wann es denn nun das heute gängige Format der „Tandas und Cortinas“ mit all seinen Reglements gab? Dazu existieren eher vage Vorstellungen:

Der sehr bekannte Tänzer El Flaco Dany (geboren 1936) wird so zitiert:

„Dany hat mir gesagt, dass das Tanda-Cortina Konzept in den 1950-er und 1960-er Jahren weniger klar definiert wurde und dass andere Rhythmen sehr beliebt waren und in der Zeit wieder getanzt wurden, so dass die Milonga nicht nur um Tango-Milonga-Vals herum aufgebaut war.“

Ein anderer Schreiber berichtet vom Gespräch mit einem alten Milonguero:

„Auf der anderen Seite, als ich ihn gefragt habe, wann Tandas und Cortinas kamen, schien er die Worte und ihre Bedeutung nicht zu verstehen. Das hat mich dazu gebracht, dass die Verwendung dieser Worte in den frühen 80-er Jahren entstanden sein könnte.“

Oder so:

„Also, ich nehme an, die Erfindung muss in den 1990 er oder 1980 er Jahren während der Renaissance des Tango gewesen sein. Gespräche mit älteren Milongueros scheinen das zu bestätigen.“

Eine sehr bekannte traditionelle DJane schiebt den Termin sogar noch weiter hinaus:

Als ich 95 angefangen habe, Tango zu tanzen, schien es nicht ein festes Konzept zu geben, wie man Musik präsentiert. (…) Im Jahr 2004, als ich mit dem DJing angefangen hatte, waren Tandas und Cortinas in der kleinen Untergruppe von denen, die Tango de Salon (Social Tango) getanzt haben, Standard geworden. Aber es gab immer noch viele Milongas da draußen, die nicht so funktioniert haben. (…) Ich erinnere mich auch noch an Picherna, der gespielt hat, was immer er mochte, in welcher Reihenfolge auch immer.“

Félix Picherna (1936-2016) war tatsächlich ein „DJ-Urgestein“, das es selbst in Buenos Aires wagte, ein sehr eigenwilliges Musikprogramm aufzulegen. Beispielsweise mischte er in einer Tanda Troilo und Tanturi, und als er einmal die betreffende Musikkassette nicht finden konnte, nahm er statt Tanturi Biagi, was ihm noch besser gefiel.

Er sei dafür von manchen Tänzern verflucht worden, wie er in einem sehr interessanten Video berichtet. Ebenso fanden es nicht alle gut, dass er per Mikrofon in die Musik hineinrief: „Und jetzt das Beste“ – oder am Ende der Tanda: „Das Beste kommt noch!“

Wenn man ihn reden sieht und hört, wird einem der Unterschied zwischen jemandem wie ihm klar, der seine persönliche Musikleidenschaft auslebt – und den heutigen, oft blässlichen Gestalten mit den Kopfhörern, den Computer-Freaks, die statt Empathie eine Musikdatei ihr Eigen nennen und ja nichts falsch machen wollen…



Daher, liebe „traditionelle DJs“, solltet ihr bitte zur Kenntnis nehmen:

Beruft euch bitte nicht auf „Hergebrachtes“ – in der „Goldenen Ära“ gab es kaum DJs, und schon gar nicht wurde nach dem heutigen Kanon aufgelegt. Da spielten Live-Orchester, und zwar ein Sammelsurium von Tango und anderen Musikgattungen. Wer das hehre Wort „Tradition“ ständig im Mund führt, sollte sich damit schon intensiver beschäftigen. Und bitte mehr Mut es geht nicht ums Leben, sondern nur um Tanzmusik.

Die heutige, berechenbare Langeweile der Playlisten gibt es jedenfalls seit höchstens 30 Jahren – und ich hoffe, nicht mehr lange!

P.S. Wer sich näher über solche „erfundenen Traditionen“ informieren will:

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