Die Quadratur der Ronda


Die Quadratur des Kreises ist ein klassisches Problem der Geometrie. Die Aufgabe besteht darin, aus einem gegebenen Kreis in endlich vielen Schritten ein Quadrat mit demselben Flächeninhalt zu konstruieren. (…) Beschränkt man die Konstruktionsmittel auf Lineal und Zirkel, so ist die Aufgabe aufgrund der Transzendenz von π unlösbar; dies konnte 1882 von dem deutschen Mathematiker Ferdinand von Lindemann bewiesen werden.

In regelmäßigen Abständen kloppt man sich im Münchner Tango zum Thema „Ronda-Disziplin“: Rücksichtslos und egomanisch gehe es auf den dortigen Tanzflächen zu. Gut, für Blogger ist das natürlich der Stoff, aus dem die Zitate sind.
So schrieb Kollege Cassiel anlässlich eines Besuchs in der bayerischen Metropole:

„Ich war von einigen Wochen in München und muss berichten, München ist – tango-mäßig – zur Metropole gewachsen (es gibt in meiner Gedankenwelt das Metropolenphänomen im Tango). Um es neutral zu formulieren: die Ronda war faktisch nicht vorhanden. Die lokalen Tangogrößen nahmen – zumindest nach meiner Wahrnehmung – großzügig jeden Platz in Anspruch, der gerade frei war. Ich fand es anstrengend. Das ist eine Beobachtung, die ich eigentlich nur in Großstädten gemacht habe (Berlin, Paris, Wien, Zürich, London usw.). Die örtlichen Tangogrößen halten sich möglicherweise für so genial, dass sie Sonderrechte beanspruchen.“

Mehrfach habe ich über solche Debatten berichtet:

Da ich kürzlich wieder einmal eine größere Milonga dort besuchte, muss ich dem Blogger grundsätzlich leider Recht geben: Auf dem Parkett ging es schon ziemlich wild zu, allerdings mit eher gemischter Beteiligung. Normalerweise schaffe ich es, auf einer mehrstündigen Veranstaltung ohne jede Berührung eines anderen Paars durchzukommen – an dem Abend jedoch konnte ich drei oder vier leichte Kontakte nicht vermeiden. Nichts Schlimmes und eigentlich kaum erwähnenswert, wäre da nicht der ständige Stress, ausweichen oder abstoppen zu müssen. Irgendwann ist meine Konzentrationsfähigkeit dann erschöpft.

Verständlich, dass man bei solchen Zuständen laut nach strengen Regeln ruft und Tanzspur-Verordnungen wie die folgende propagiert, welche mein Tangofreund Peter Ripota noch mit liebevollen Ausschmückungen bedacht hat:



Der Vergleich mit dem Straßenverkehr wird  gern bemüht: Da gebe es ja auch Gesetze mit dem entsprechenden Wald an Schildern (hierzulande übrigens zirka 20 Millionen) – trotz des ganzen Aufwands jedoch auch 2,6 Millionen Unfälle, 400000 Verletzte und über 3000 Verkehrstote jährlich.

Angesichts dieser Zahlen könnte man bereits leichte Zweifel an der Effizienz genauester Regeln und harter Strafen haben. Im Tango kommt noch hinzu, dass wirkliche Verletzungen exotische Raritäten darstellen, da man dort nicht mit 100 PS, sondern höchsten mit einer „Pony-Stärke“ unterwegs ist. Doch ist die Pista halt kein Ponyhof: Wenn der Anteil derer, welche kaum auf ihre Umgebung achten, ein Drittel der Tanzenden übersteigt, wird es mühsam.

„Rücksichtslos“ würde ich so ein Verhalten aber nicht nennen, daher machen irgendwelche „Moral-Appelle“ auch keinen Sinn! Es handelt sich schlicht um die mangelnde Fähigkeit, sein Umfeld im Blick zu behalten und improvisiert sowie blitzschnell zu reagieren.

Doch fangen wir einmal vorne an:

Seit Jahren schüttle ich den Kopf angesichts der „Lemmings-Mentalität“ der Tangoszene, speziell in Metropolen: Wenn viele ein Event besuchen, rennt der Rest auch noch hin. Hunderte von Artgenossen können schließlich nicht irren… Gerade Frauen meinen, wenn denn Tänzer en masse anwesend sind, seien Aufforderungen garantiert. Ein tragischer Irrtum!

Und falls dann, wie zu erwarten, das Parkett hackedicht voll ist, wundert man sich über Behinderungen und Rempler. Ich kenne jede Menge Milongas mit sehr abwechslungsreicher, toller Musik, auf deren Parkett so viel Platz ist, dass man völlig risikolos seine Runden ziehen könnte. Aber da ist ja „nichts los“… Schon aus diesem Grund ist das Gejammer über die allfälligen Pista-Gefahren vermeidbar.

Statt in der Tangostunde über Códigos zu schwadronieren, rate ich Tangolehrern dringend, die Navigationskünste der Lernenden zu schulen. Das begänne schon damit, den Herren der Schöpfung strikt zu verbieten, ständig auf die Füße zu starren und stattdessen lieber den Blick in der Umgebung schweifen zu lassen. Man muss nämlich nicht ständig nachsehen, ob die Dame auch weiterhin zwei Füße hat – es bleibt dabei: Sie verfügt in der Regel über einen linken und einen rechten, aber keinen „falschen“!

Und die Frauen sollten ihre Augen nur dann schließen, wenn auf dem Parkett viel Platz ist. Andernfalls würden sie durchaus Gefahren erkennen, welche ihrem Partner entgehen, da sie im Moment den besseren Blickwinkel haben und den Mann stoppen könnten, wenn er wieder mal entschlossen nach hinten schreitet oder durch eine Seitbewegung dabei ist, in die Spur eines anderen Tanzpaars zu geraten.

Auch ein anderes Thema wird im Unterricht sträflich vernachlässigt: die Balance. Sie ist eine Grundvoraussetzung dafür, auf jedem Schritt anhalten zu können und nicht wegen der Gleichgewichtsprobleme sofort aufs andere Bein zu rumpeln, ob man nun will oder nicht. Daher, wer’s noch nicht wissen sollte: Der freie Fuß verharrt stets für einen Augenblick neben dem belasteten – auf diese Weise erhält man sich für weitere Bewegungen alle Optionen!

Das Wichtigste aber: Das Improvisationsvermögen könnte man schulen, indem von vornherein auf das Lehren fester Schrittfolgen verzichtet wird. Immer wieder sehe ich Tänzer, welche auf Gedeih und Verderb ein vorgefertigtes Muster abtanzen – ob sich da nun ein anderes Paar befindet oder nicht. So sind Zusammenstöße halt vorprogrammiert. Und man sollte bevorzugt Aktionen üben, die sich zum Ausweichen besonders eignen.

Die Erzeugung von Stress auf der Tanzfläche ist daher für mich weniger eine Charakterfrage denn ein Symptom mangelnder Fähigkeiten – die gerade Männer ungern zugeben, was in Selbstüberschätzung mündet. Verbieten hilft da weniger als ein besseres tänzerisches Training.

Tatsächlich scheinen mir daher die Probleme im Straßen- und Pistenverkehr vergleichbar: Die übermäßige Propagierung von „Regeln“ führt nicht zu geübteren Fahrern oder Tänzern, sondern lockt Rechthaber an: „Ich hatte ja Vorfahrt.“ Ein bessere Unterweisung – sowohl in der Fahr- als auch Tanzschule – könnte solchen Zeitgenossen klarmachen, dass sie noch nicht halb so gut fahren oder tanzen, wie sie meinen. Auch bei Autofahrern würde ein regelmäßiges – gerne auch verpflichtend vorgeschriebenes – Fahrtraining mehr bringen als das Aufstellen von immer noch mehr Schildern.

Und selbst wenn der „Verbots-Weg“ erfolgreich wäre, kommt man bestenfalls zu einem Resultat, wie man es auf Encuentros und ähnlichen Events betrachten kann: Ein fantasieloses, reduziertes Hintereinanderher-Gedackel. Seltsam – während gerade Männern der Kolonnenverkehr auf der Autobahn gigantisch gegen den Strich geht, verteidigen sie hier die Schleichfahrt mit Zähnen und Klauen.

Daher wird man die „Quadratur der Ronda“ so wenig lösen können wie die des Kreises: Wenn sie denn machbar wäre, würde eine Tanzweise entstehen, die mich jedenfalls nicht reizen könnte, beim Tango zu bleiben.

Mein Motto beim Autofahren und Tanzen lautet jedenfalls: vorausschauend agieren, nicht ärgern, lieber ausweichen als Recht haben. Denn ein Satz wie der folgende mag zwar löblich sein – als Grabsteininschrift hätte ich ihn jedoch lieber nicht:

                                                        „Ich kam von rechts.“

P.S. Mein Text ist nicht als Kritik an der besuchten Münchner Milonga zu verstehen! Ich fand es dort ansonsten recht schön und werde sicherlich wieder einmal hinfahren!

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.