Ein bisschen schwanger geht nicht
Zweifellos
steigt bei traditionellen DJs
derzeit die Unruhe: Die Tanzenden
stimmen offenbar mit den Füßen ab und besuchen in Scharen Events mit Live-Musik wie das Innsbrucker Tangofestival, über das
ich im letzten Artikel berichtet habe. Und die Rückmeldungen klingen überwiegend
begeistert.
Mich
wundert das kein bisschen – eher die Tatsache, dass man es jetzt erst merkt:
Viele moderne Ensembles bieten einen
neuen Sound, abwechslungsreichere Interpretationen und vor allem tänzerisch inspirierende
Energie. Das haben inzwischen auch viele Veranstalter
gemerkt und engagieren fast im Wochentakt Live-Musiker – obwohl es vor einiger
Zeit noch hieß, solche Events seien nicht finanzierbar.
Das
macht natürlich Menschen nervös, die ausschließlich auf Konserven-Musik alter Machart setzen oder – noch schlimmer – als DJ
zwischen den Live-Sets mit ihren Historien-Klängen
fast so alt aussehen wie ihre Playlists.
Minuten
nach dem Erscheinen meines vorigen Artikels stellte die Tangolehrerin,
Veranstalterin und DJane Melina Sedó
auf einem Facebook-Forum für DJs die (von mir übersetzte) Frage:
„Zeitgenössische Orchester?
Um die Jahrtausendwende benutzten
etliche DJs zeitgenössische Orchester (El Arranque, Fernandez Fierro ...) in
Milongas.
Später beschränkten sich die meisten
DJs auf die klassischen Orchester. Für mich war das keine große Veränderung, da
ich nur sehr selten eine zeitgenössische Gruppe oder Neo / Electro gespielt
habe. Vielleicht einmal pro Milonga.
Seit einigen Jahren sind bei
Milongas oder Encuentros wieder neue zeitgenössische Orchester zu hören – ich
denke, auch bei Marathons. (…)
Nur aus Neugier: Wer setzt moderne
Orchester in seinen Sets ein? Und was sind die Gründe dafür?
Ich befinde mich in einem Dilemma,
weil ich wirklich denke, dass zeitgenössische Tangomusik und Musiker
unterstützt werden sollten, aber ich mag das ‚alte Zeug‘ viel lieber. Aus
diesem Grund verwende ich ausschließlich Musik von 1927-1960 (…). Ihr könnt
mich einen Hardliner nennen. Aber das wusstest ihr schon.”
Aber nein,
nicht doch… Was mich aber wirklich verblüffte, ist, dass Melina frank und frei zugibt:
„Mein Wissen über
zeitgenössische Tango-Orchester ist sehr begrenzt, da ich so gut wie nie
Veranstaltungen mit Live-Musik besuche. Nur selten, wenn wir zu einem Festival
eingeladen werden. Daher kenne ich nur (dem Namen nach) sehr wenige Orchester.“
Ah so. Also, ich würde nie ein Tangoblog betreiben und moderne Musik propagieren, wenn mir die traditionellen Vorbilder unbekannt
wären. Aber das sind halt meine überkommenen Vorstellungen von fairem
Wettbewerb…
Es gab heute bereits zahlreiche Kommentare. Zu meinem Erstaunen war ein größerer Teil der Schreiber
zeitgenössischen Ensembles gegenüber durchaus aufgeschlossen:
„Ich streue in meine
Sets häufig zeitgenössische Orchester ein, die Coverversionen der ‚alten Sachen‘
spielen. 1) Es ist musikalisch interessant und 2) und vor allem: Die Tänzer
mögen es. Besonders, wenn sie die Orchester kennen, zum Beispiel auf Festivals
auf ihre Live-Sets treffen. Und 3) Tango hat sich immer weiterentwickelt.”
Zudem sei es eine schöne Überraschung, einmal etwas Unbekanntes
aufzulegen.
Überwiegend möchte man genau das aber lieber nicht, es
könnte die Gäste irritieren. Aber:
„Von den Tanzenden
aus gesehen: Sie sind froh, etwas anderes zu hören, aber nichts zu
unterschiedliches. Einige merken gar nicht, dass ich nicht D'Arienzo oder
Pugliese gespielt habe.“
Zudem möchte man doch – wie Melina Sedó – den jungen Musikern etwas Gutes tun:
„Das Kaufen von Musik
der aktuellen Orchester ist auch ein Weg, um den Lebensunterhalt und die Entwicklung
der Musiker von heute zu unterstützen.“
Da scheiden sich aber bereits die Geister:
„Wenn ich kann,
versuche ich, nicht eine, sondern ZWEI Kopien ihrer Alben zu kaufen, nur um
zusätzliche Unterstützung zu geben. Trotzdem spiele ich sie nicht auf Milongas.“
Tendenziell plädiert man für homöopathische Dosen:
„Aber ich würde
maximal eine solche Tanda pro Milonga unterbringen. Meistens am Ende.“
„Ich spiele immer eine
oder zwei Tandas moderner Orchester.“
Natürlich rät auch Theresa
Faus zu äußerster Vorsicht:
„Ich bin sehr wählerisch
mit modernen Orchestern. Viele haben Geigen mit schlechter Intonation, manche
sind extrem energetisch, ohne das musikalische Niveau der ‚Originale‘ zu
erreichen, manche verwenden immer wieder oberflächliche Effekte, manche spielen
eher wie Kammermusik und regen mich nicht zum Tanzen an. Oft sind die Aufnahmen
schlechter als die Live-Performance.
So habe ich in meinem
DJing selten moderne Orchester gespielt, aber mit der jüngsten Erfahrung überlege
ich mir, ein bisschen mehr zu spielen.“
Bei den Hardlinern
ist die Sache klar:
„Ich bin nicht gegen
zeitgenössische Orchester, aber warum Coverversionen spielen, wenn das Original
viel besser ist?“
„Das Problem bei
Orchestern, die im Stil der Großen spielen, ist, dass sie es nicht sehr gut
machen.“
Dabei halte ich diesen Hinweis für sehr berechtigt:
„Repertoires
traditioneller Orchester sind meist auch Coverversionen. Es gibt über ein Dutzend
Versionen von ‚Remembranza(s)‘.“
Natürlich erwähnt ausgerechnet Melina Sedó tänzerische Qualitätsprobleme:
„Fügen Sie die
zeitgenössischen Orchester hinzu, und die Musik wird für die Tänzer viel
schwieriger. Sicher, das Niveau des Tanzens hat sich in den letzten 20 Jahren
weiterentwickelt, aber nicht so sehr, wie die Leute es gerne glauben möchten.
Als DJ, Lehrer und Tänzer sehe und erlebe ich viele Tänzer, die mit den
Herausforderungen der späteren Musik zu kämpfen haben und daher anfangen, die Musik wieder
zu ignorieren und sich mehr auf die Schritte zu konzentrieren. Dieses Thema ist
eine ganze Kiste der Pandora.“
Ansonsten bastelt man an einer neuen Kiste: Live-Musik sei halt nur live toll, nicht als Konserve:
„Ich denke, der
einzige Vorteil der zeitgenössischen Orchester ist wirklich, dass sie ‚zeitgenössisch‘
sind, was bedeutet, dass sie den magischen Aspekt der LIVE-Musik wie in der
EdO-Zeit in die Milonga bringen können. Das extensive Spielen von Aufnahmen
eines zeitgenössischen Orchesters ist jedoch nicht konkurrenzfähig zu den
EdO-Aufnahmen.“
Das Lustigste
zum Schluss: Für Melina Sedó hört
bekanntlich der Tango-Spaß in den Fünfzigern auf. Umso skandalöser ihre
Erfahrungen, dass man inzwischen auch auf den Encuentros diese Schallmauer durchbricht. Lediglich auf ihren
Veranstaltungen könne man noch sicher vor solcher Modernität sein.
„Das Problem ist nur,
dass bei Encuentros, zu denen ich als Kunde gehe, immer mehr DJs 60-er, 70-er und
zeitgenössische Orchester spielen. Manchmal 3 von 4 DJs eines Events. Es gibt
sogar DJs, die während eines Sets keine Tanda von Di Sarli spielen. (…) Zahlreiche
Encuentro-DJs spielen viele neuere Sachen. Und nichts Lyrisches und
Romantisches mehr. Nur hochenergetische oder dramatische Musik...“
Gütiger Himmel! Das ist ja so, als würden die Protestanten den Vatikan übernehmen!
Ich bin höchst gespannt, was noch kommt. Ich fürchte, es
wird nicht reichen, ins alte Geplemper einige moderne Globuli zu rollen. Erst neulich erlebte ich das wieder auf
einer Milonga: Die Playlist roch
nach Angstschweiß – in den ersten
anderthalb Stunden nur ja nichts spielen, was Anstoß erregen könnte! Das
Problem ist nur. Wenn dann nach 22 Uhr die erste etwas ambitioniertere Tanda
kommt, bin nicht nur ich schon im Halbschlaf, den Autoschlüssel bereits in der
Hand.
Und es ist natürlich Schwachsinn, in modernen Ensembles nur Lieferanten von Coverversionen der EdO zu sehen - viele von ihnen bieten weit mehr. Aber dazu sollte man sich intensiver mit ihnen beschäftigen...
Und es ist natürlich Schwachsinn, in modernen Ensembles nur Lieferanten von Coverversionen der EdO zu sehen - viele von ihnen bieten weit mehr. Aber dazu sollte man sich intensiver mit ihnen beschäftigen...
Man muss sich halt entscheiden, ob man die Langeweile lediglich etwas einschränken will oder ein frisches, vielfältiges Programm spielt –
und zwar von Anfang an!
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