Weihnachten ist nichts für Feiglinge

 

„Früher war mehr Lametta“ – diesen Satz von Loriot kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen: Nach sudetendeutscher Tradition musste an einem Weihnachtsbaum mindestens ein Kilo dieser Silberfäden hängen – und natürlich nicht einfach so über die Zweige geworfen! Nein: Jedes „Lamettum“ (Singular?) hatte im Abstand von zwei Millimetern zum nächsten platziert zu werden.

Das war nur eines der vielen Rituale, die in der Adventszeit bis zum Fest penibel einzuhalten waren. Mir nahe Menschen wissen: Wer mir in dem Zusammenhang Dinge aufdrücken will, die angeblich „zum Fest gehören“, kann mich damit mehr ärgern als mit der Behauptung, auf Piazzollas Musik könne man nicht tanzen. Bei einer kritischen Belastung mit Glühwein, Spekulatius, zu unterschreibenden Glückwunschkarten und adventlich-musikalischem Geplürre nehme ich Reißaus.

Dabei übte Weihnachten auf mich in sehr jungen Jahren natürlich eine große Faszination aus: die Düfte, Lichter, der Tannenbaum mit den Kerzen, die Geschenke darunter… Mein Favorit war ein Kaufladen – damals kein Plastikding, sondern aus Holz und Metall mit vielen Gläschen und Schächtelchen, die irgendwelche bunten Zuckerpillen enthielten, einer Registrierkasse, einer Waage und vielem mehr. Beim nächsten Fest wurde das Ding wieder aufgebaut, bestückt mit neuen Artikeln. Damit konnte ich mich stundenlang beschäftigen – leider auch die Erwachsenen, welche rund um die Uhr bei mir einkaufen mussten.

Das gute Stück ruht heute noch auf unserem Dachboden – nicht so leider der tolle Kran, mit dem ich damals die Illusion entwickelte, technisch begabt zu sein. Auch die wurde bald von der Realität überholt.


Richtung Pubertät ließ meine Begeisterung für die weihnachtlichen Festspiele allmählich nach. Eine Zeitlang bereicherte ich das Programm am Heiligabend mit passenden Liedern auf der Blockflöte. In der Volksschule (so hieß die damals) erhielt man Unterricht mit der „Blödflocke“ – und insbesondere meinem Vater war anzusehen, dass er ein Ende meiner Darbietungen herbeisehnte. Weitere Instrumente erlernte ich dann lieber nicht mehr.

Ab zweistelligem Alter nervte mich der adventliche Countdown zusehends. Schon Anfang Dezember durfte ich keine Kumpels mehr zu mir nach Hause einladen, da – Originalton Mutter – die Wohnung nun zum Fest „gerichtet“ werden müsse. Sprich: General-Hausputz bei arktischen Temperaturen, da tagelang alle Fenster und Türen aufgerissen wurden, ständiges Gedröhne des Staubsaugers.

Bereits in aller Früh war meine Mutter in ihrem „Kampfanzug“, der Kittelschürze, in der Küche beim Zerhäckseln irgendwelchen übelriechenden Gemüses für die mittägliche Suppe anzutreffen, während ich noch schlaftrunken beim Frühstück saß. Noch heute enthält für mich der Duft von Marmelade kleine Beimengungen gehackten Zwiebelaromas.

Fett oder scharfe Gewürze galten familiär als reines Gift, während es bei Kohlenhydraten keine Obergrenze gab: In der sudetendeutschen Küche dominieren schließlich Kuchen und Mehlspeisen. Ebenfalls als unbekömmlich angesehen wurden neue Backwaren. Deshalb gab es nie frisches Brot oder Semmeln, sondern stets die alte Ware, die ja zunächst noch verbraucht werden musste. Gegessen wurde auch ansonsten nach Haltbarkeitsdatum. Daher lautete meines Vaters Frage beim Abendessen regelmäßig: „Was muss denn weg?“

Daher wuchs ich mit altem Brot, Margarine und Gelbwurst auf. Die erste Currywurst an der Imbissbude mit Sechzehn glich für mich einem geschmacklichen Urknall.  

Nahte der Heiligabend, häuften sich die Aufträge meiner Mutter an die restlichen Familienangehörigen. Der Grundsatz lautete: Was man täglich braucht, wird im Keller aufbewahrt, was jährlich einmal benötigt wird, in der Küche. Mein Vater und ich trafen uns meist auf der Treppe, um irgendwelches Zeugs runter- oder raufzuschleppen. Meine zunehmend mauligen Kommentare konterte mein Vater mit dem legendären Satz: „Gerhard, merk dir: Der Haushalt geht vor!“    

Vom Ablauf des Heiligabends hatte meine Mutter strengste Vorstellungen: Es musste genauso sein wie in den Jahren zuvor, nur schöner. Zentrum der weihnachtlichen Códigos war der Baum. Im Sudetenland trieb man mit dem Nadelprodukt höchsten Aufwand: Standen die Seitenzweige nicht völlig symmetrisch, wurden sie entfernt und in neue, passende Bohrlöcher am Stamm eingelassen. Und natürlich mussten es echte Kerzen sowie der Christbaumschmuck sein, den meine Mutter aus dem Sudetenland herübergerettet hatte.

Was fast regelmäßig zum Krach führte, war ihre Unzufriedenheit mit dem Aussehen des Baumes: Was das denn für ein krummer Krüppel sei – in der alten Heimat habe man sowas nicht aufgestellt! Und was mein Papa auch tat (und das meist sehr unwillig): Von irgendeiner Seite war die Fichte stets schief – eigentlich logisch. Öfters wurde auch lange und krisenhaft nach der Christbaumspitze gesucht.

Was ich damals lernte: Weihnachten ist nichts für Feiglinge.  

Was sich Gerd Dudenhöffer Jahrzehnte später ausdachte, hätte man im Original bei uns besichtigen können:


https://www.youtube.com/watch?v=NH2ZfXDftfA

Wem das Grauen noch nicht reichen sollte:

https://www.youtube.com/watch?v=cXsjWxPvIoM

https://www.youtube.com/watch?v=b7iDpMM8OkU

Ein anderer Quell für den Heiligabend-Zoff war die Unzufriedenheit meiner Mutter mit den Geschenken. Der Hauptgrund: Weder mein Vater noch ich verfügten über das geringste Talent, passende Weihnachtsgaben zu finden. Selber war es meinem alten Herrn eigentlich egal, was er bekam: meist Socken, Krawatten oder Taschentücher.

Gerne wurde zu Weihnachten auch diese Geschichte erzählt. Im Sudetenland war es üblich, dass es die Bescherung am ersten Feiertag in der Früh gab. Wenn die Kinder abends im Bett waren, bauten die Eltern heimlich im Wohnzimmer den Christbaum und die Geschenke auf. Am Heiligabend wurde gut gegessen und getrunken. Einmal – ich konnte noch kaum laufen – zog sich die Feier etwas länger hin, so dass meine Eltern erst gegen fünf Uhr früh mit der Deko fertig waren und sich todmüde schlafen legen wollten Da senkte sich die Türklinke – und daran hing: ich! Irgendwie war es mir gelungen, über das Gitter meines Bettchens zu klettern und mich an der Wohnzimmertür hochzuziehen. Das hieß es für meine Eltern: Weitermachen mit den Weihnachtsritualen!

Als die beiden ins höhere Alter kamen, zogen sie es vor, den Weihnachtsaufwand zu reduzieren. Statt der lamettageschmückten Fichte oder Tanne gab es einen Weihnachtsbaum aus Plastik zum Zusammenstecken – und elektrische Kerzen. Trotz meiner traumatischen Weihnachtserfahrungen fand ich das schade.

Vielleicht muss es daher bei uns jedes Jahr ein echter Baum sein – zwar ohne Lametta, aber mit Bienenwachskerzen. Und mit einigen Kugeln und einem Glöckchen, das noch aus der Heimat meiner Eltern stammt.

Im Alter hängt man halt an nostalgischen Ritualen

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