Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 24
Um gleich auf eine erwartbare Kritik einzugehen: Nein, was ich hier schreibe, habe ich nicht in YouTube-Videos verfolgt, sondern es basiert auf meinen persönlichen Erfahrungen auf dem Parkett. Und dies nicht allein in grauer Vorzeit, sondern auch ziemlich aktuell – wobei ich natürlich alles tue, um die Schilderung solcher Erlebnisse nicht rückverfolgbar zu machen!
Eine sehr gute Tänzerin zeichnet sicherlich eine ganze Reihe von Vorzügen aus. Für mich kristallisiert sich allerdings eine bestimmte Fähigkeit immer mehr heraus, welche in der Beschreibung ziemlich simpel klingt:
Sie kann auf einem Bein stehen. Und dies beliebig lange.
Wieso ist das derartig wichtig?
Man bemerkt diese Fähigkeit bereits nach wenigen Tangoschritten. Tangueras, welche unseren Tanz erst in den letzten Jahren kennengelernt haben, fallen ziemlich unvermittelt von einem Fuß auf den anderen. Klar – mit Balance konnten sie sich in den üblichen Kursen kaum beschäftigen. Tango ist ja nur Gehen…
Leider ist er so viel mehr!
Wichtig wäre schon mal eine stabile Achse, für welche man nicht nur die Rücken-, sondern ebenso die Bauchmuskulatur einsetzen sollte – inklusive einer ausgeglichenen Belastung der Fußballen. Im Endeffekt muss man sich selber in einem stabilen Gleichgewicht bewegen. Ohne dass der Po nach hinten und der Kopf nach vorne hängt.
Der Fluch der heute üblichen engen Tanzhaltung ist halt, dass man all dies nicht mehr zu benötigen scheint, sondern sich an den Partner hängt. Auf vier Füßen klappt das Herumtraben dann so einigermaßen…
Solche Partnerinnen nerven mich erheblich, da ich sie pro Musikstück drei Minuten lang übers Parkett schleppen darf. Vor allem aber gelingt es mir kaum, Verzögerungen oder Pausen zu interpretieren, da die Dame nach einer Fußbelastung mangels Balance – also eigenem Stand auf einem Bein – unverzüglich auf den anderen Fuß plumpst. Verzierungen, so sie denn überhaupt kommen, wirken schematisch und geraten viel zu knapp.
Ein weiterer Nachteil des fehlenden Gleichgewichts ist auch, dass die Bewegungen (z.B. Ochos) nicht groß, rund und elegant ausfallen, sondern verkürzt und linear. Klar – man muss halt die Zeit zur Belastung des einen Beins möglichst einschränken, weil man sonst ins Trudeln kommt. Drehungen werden sehr schnell wieder abgebrochen, anstatt diese Aktionen länger zu genießen.
Statt eines Eintauchens in Adagio-Passagen wird der ganze Tango durchgetrappelt. Sinnlichkeit kommt so nicht auf. Ich muss da stets an Schlafzimmer-Szenen in alten Filmen denken, in denen der Regisseur zwar keine nackten Turnübungen zeigen durfte, dafür aber andeutungsvoll die Kerzen flackern und die Gardinen wehen ließ. Bei neuzeitlich ausgebildeten Tangueras rumpelt stattdessen das Rollo herunter – und ich höre förmlich den Dialogsatz: „Schatz, jetzt nicht, ich muss noch den Einkaufszettel für morgen schreiben.“
Weiterhin sollte die Tänzerin nicht synchron zu den Schritten des Mannes tanzen, sondern zeitverzögert: Ihre Bewegungen sind ja die Reaktion auf das, was der Tanguero macht – und das geht nicht in Nullzeit!
Manchmal haben sogar die Argentinier recht – zum Beispiel mit dem Satz: „El Tango pasa entre los Pasos“ – „Der Tango geschieht zwischen den Schritten“. Wie soll er da hineinpassen, wenn man diese Phasen so erbärmlich kurzhält?
Sehr schön beschreibt diesen Umstand die argentinische Tangolehrerin Susana Miller:
„In der Musik tut sich eine ganze Welt auf zwischen einem Beat und dem nächsten. Und wenn du jemand in deinen Armen hältst oder in jemandes Armen liegst, fühlst du genau: Wie viel dieser Welt füllt er aus zwischen einem Beat und dem nächsten. Darum dreht sich so gut wie alles. Es ist eigentlich fast nichts. Aber der ganze Unterschied zwischen einem Tänzer, der okay ist und einem, der einfach ‚wow‘ ist, liegt darin, wie viel er weiß über diesen einen Beat und den folgenden. (…) Zwischen zwei Beats findest du eine ganze Welt. (…) Das ist es, was du in deinem Körper empfindest, wenn ein echter Tänzer mit dir tanzt.“
Quelle: Tangodanza 1/2006, S. 73 (Tja, lang ist's her...)
Sicherlich muss auch der Tänzer diese Fähigkeit zur „Zeitdehnung“ aufweisen – nur: Wie soll er sie umsetzen, wenn seine Partnerin zwischendrin auf den nächsten Fuß plumpst? Zudem gilt: Wer mehr macht, ist weniger stabil. Daher kommt dem „führenden“ Partner eher die Aufgabe zu, Soloaktionen der „Folgenden“ (hoffentlich mit sehr wenig Kraft) im Lot zu halten. Dennoch freue ich mich immer darüber, wenn auch ich mal auf einem Bein drehen darf, da meine Tanzpartnerin dies durch ihre Stabilität ermöglicht.
Leider sind solche Wunschvorstellungen heute weitgehend Theorie. Daher finde ich es jedes Mal amüsant, wenn ich das weibliche Lamento vom „fehlenden Tanzpartner“ höre – oder die Doktrin, man müsse unbedingt Tangokurse belegen. Echt, meine Damen: Entscheidende tänzerische Fähigkeiten könntet ihr ganz alleine und kostenlos erwerben: Einfach den Wohnzimmerteppich wegrollen, geeignete Musik laufen lassen – und nach Möglichkeit noch einen Spiegel aufstellen. Vorbilder für überzeugende Soloaktionen gibt es haufenweise im Internet.
Zum Beispiel dieses:
https://www.youtube.com/watch?v=p2nut8Jo2Sw
Haben Sie beobachtet, wie oft die Tänzerin nur auf einem
Bein steht und mit dem anderen in der Luft agiert? Und wie toll sich solche Aktionen zu moderner Tangomusik umsetzen lassen? Und klar, die Tanguera arbeitet hier mit sehr zartem Wandkontakt. Solche feinen Berührungen sind für den Partner ein Hochgenuss!
Ich warne allerdings: Solche Übungen kosten nicht
nur Schweiß und vielleicht auch Tränen, sondern sollten sich über Monate hinziehen.
Und sie haben nicht den Unterhaltungswert eines Festivals mit diversen Placebo-Workshops! Das Allerschlimmste: Man kann seinen neuen Tangofummel nicht ausführen...
Der Vorteil: Ihr würdet in der heutigen Tangopopulation gigantisch auffallen und früher oder später nicht nur einen, sondern eine Menge Tanzpartner kriegen! Und zwar, weil ihr euch nach dem Gefühl der Tänzer „leicht“ bewegt – was ja nur heißt, dass ihr euer Gleichgewicht allein hinbekommt, ohne dass der Partner euch halten muss.
Stets sollte man sich bemühen, die Phasen zwischen den Bodenberührungen (also den „Schritten“) so lange wie möglich zu gestalten. Das nennt man „Schweben“. Dazu sind natürlich auch große Bewegungen (heute im Tango verpönt) eher geeignet als kleine. Leider beschäftigen sich die heutigen Tangokurse eher mit den unumgänglichen Parkett-Kontakten als mit der Zeit dazwischen. Als Tangolehrer würde ich einmal über dieses Thema nachdenken!
Liebe Tänzerinnen, nehmen Sie sich bei Ihren Soloaktionen einen Storch oder Flamingo zum Vorbild! Wobei Vögel den Vorteil haben, dass ihre Wirbelsäule in Beckennähe waagrecht und nicht senkrecht steht. Da gestaltet sich die Balance auf einem Bein einfacher. Und fliegen können die Biester auch noch!
Tja, vielleicht war die Sache mit dem aufrechten Gang
in der Evolution eine Schnapsidee. Doch sorry – da müssen wir Menschen jetzt durch – also Bauch rein und Hintern zusammenkneifen!
Zum Spaß noch die teutonische Version des Verkaufs von Verzierungen („Adornos“). Kennzeichen: viel Gerede, keine Musik:
https://www.youtube.com/watch?v=b5Snf5waN1E
Herr Riedl, ich bin begeistert. Endlich mal ein Artikel, der hält, was er verspricht: Das sind alles Dinge, die ein guter Tangolehrer garantiert nicht erzählt!
AntwortenLöschenBesten Dank für den Hinweis!
LöschenSie müssen aber nicht unbedingt Kommentare schreiben, wenn Ihnen nichts einfällt. Akute geistige Notwehr natürlich ausgenommen.
Entschuldigung, aber eine kleine Retourkutsche an den Oberlehrer, der jüngst unsere Deutschkenntnisse auf die Probe stellte. Der Satz „Eine sehr gute Tänzerin (Singular) zeichnen ( Plural) sicherlich eine ganze Reihe von Vorzügen aus“ stimmt nicht. Es müsste heißen: eine gute Tänzerin zeichnet eine Reihe von….aus“. Auch umgekehrt „eine Reihe von Vorzügen“, bliebe es beim Singular, „zeichnet eine…aus“. Macht aber nichts, nur munter weiter mit der „Deutschstunde“. Siegfried Lenz hat mir da schon besser gefallen, nur Tango konnte er halt nicht tanzen😎 soweit ich weiß
LöschenHerzlichen Dank!
LöschenIch staune immer wieder, mit welcher Akribie fleißige Leser meine Texte überprüfen. Ich werde den Fehler natürlich umgehend korrigieren.
Leider kann ich Ihnen keine gute Mitarbeitsnote eintragen, da Sie Ihren Namen verschweigen.
Dennoch: Durch solche Unterstützung werden meine Texte nahezu perfekt - was will man mehr?
Und wenn ich dann noch an die vielen Leserinnen und Leser denke, welche in meinen Beiträgen das Richtige suchen - Wahnsinn!
Auch wenn ich bestimmt kein Rechtschreib-Taliban bin, muss ich da widersprechen: In diesem Satz ist "die gute Tänzerin" das Objekt singular und "die Reihe von Vorzügen" das Subjekt plural. Insofern ist die Schreibung richtig.
AntwortenLöschenMuss leider meiner eigenen Korrektur schon wieder widersprechen, denn eine Reihe ist ja singular, also müsste es wirklich heißen "zeichnet". Eines muss ich aber dem Autor zugute halten, obwohl ich inhaltlich selten mit ihm übereinstimme: Es ist sehr selten, so gut wie überhaupt nicht, dass ich auf diesem Blog Rechteschreibfehler finde.
AntwortenLöschenBesten Dank! Ich versuche halt, Form und Inhalt zur Deckung zu bringen.
LöschenIch habe – wie immer in solchen Fällen – das Problem nun meiner hauseigenen studierten Germanistin vorgelegt. Das Ergebnis: Es ist beides möglich.
AntwortenLöschen„Folgt einer singularischen Mengenangabe das 'Gemessene' im Plural, kann das Verb in der Regel sowohl im Singular als auch im Plural stehen. Beides ist standardsprachlich korrekt; allerdings überwiegt der Singular, denn das eigentliche Subjekt steht ja ebenfalls im Singular. Orientiert man sich also ausschließlich an grammatischen Kriterien, dann wählt man den Singular.
• Ein Kilogramm Kartoffeln wird/werden geschält.
• Ein Drittel der Mitglieder stimmte/stimmten ab.
• Eine Menge illustrer Gäste hat/haben sich niedergelassen.
Aufgrund der Bedeutung ist aber auch der Plural korrekt, denn es geht in allen diesen Fällen um mehrere Dinge. Eine Ausnahme stellt der Ausdruck Gruppe dar, der nur mit Singular möglich ist.“
https://www.duden.de/sprachwissen/sprachratgeber/Subjekt-im-Singular%2C-Verb-im-Plural
Ich werde wegen der grammatikalischen Richtigkeit den Singular wählen.
P.S. Der Begriff „Rechtschreib-Taliban“ ist ein Oxymoron. Viele radikale Muslime können weder lesen noch schreiben. Daher ihre ziemlich bildungsfeindliche Tendenz.