Liebes Tagebuch… 66

 Ich denke immer wieder über kritische Anmerkungen zu meinen Artikeln nach: Stimmt es tatsächlich, wenn ich öfters schildere, man hätte vor 15 und mehr Jahren kreativer und lebendiger getanzt? Dass die heutigen Regulierungen und Normierungen vieles von der Faszination kaputtmachen, die uns dereinst immer wieder zum Tango lockte?

Oder kapiere ich es schlichtweg nicht, was heute gerne als tänzerischer Fortschritt angepriesen wird? Dass der jetzt vielfach praktizierte Tango in konstant enger Haltung sowie zu historischer Musik und mit dem Verzicht auf größere Bewegungen eine positive Evolution darstellt? Treten daher Leute wie ich seit Jahren auf der Stelle, weil sie sich einer Weiterentwicklung verschließen?

Ich möchte dazu zwei Erlebnisse schildern, die ich auf einer Milonga kurz hintereinander hatte. Damit diverse Kritiker meines Schreibens nicht gleich wieder den Moralischen kriegen: Ich werde Ort und Zeit dieser Beobachtungen verschweigen und auch sonst alles mir Mögliche tun, um eine Rückverfolgung zu erschweren.

Zudem will ich die beteiligten Personen überhaupt nicht abwerten. Sie können alle sehr gut Tango tanzen. Worum es mir geht: Sie sind halt zum Teil Produkte einer Entwicklung, die ich seit vielen Jahren als problematisch betrachte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Die eine Tänzerin kenne ich seit vielen Jahren, obwohl sich unsere Wege wegen der geografischen Entfernung nur ab und zu kreuzen. Ich kann mich noch an unsere erste Begegnung erinnern, wo sie ziemlich viel herumsaß, was mich schließlich bewog, sie aufzufordern.

Es wäre gelogen zu behaupten, dass unser Tanz locker und mühelos verlief. Sie war Anfängerin und zudem heftig verkrampft. Den Grund erfuhr ich in einem kurzen Gespräch hinterher. Nach meiner Erinnerung klagte sie mir ihr Leid, dass der Tango sie zwar sehr fasziniere, sie aber auch das Gefühl habe, überhaupt nicht weiterzukommen.

Ich sprach ihr damals Mut zu, was allerdings nicht ganz ehrlich gemeint war: Zum einen war sie nicht gerade der männliche Wunschtyp – also jung, blond und naiv. Was aber schwerer wog: Ihre tänzerische Begabung hielt sich nach meiner Einschätzung in engen Grenzen. Ich vermutete damals, sie würde früher oder später aus der Szene verschwinden.

Weit gefehlt! Ich hatte Willen und Ehrgeiz der Frau gewaltig unterschätzt! Im weiteren Verlauf zeigten mir gelegentliche Begegnungen eine erfreuliche tänzerische Entwicklung. Nach einigen Jahren wurde sie eine wahrhaft feine Tanguera, und Tanzrunden mit ihr begeisterten nicht nur mich.

Sie lernte dann einen Partner kennen, mit dem sie bis heute regelmäßig auftritt. Der Herr ist ebenfalls ein beachtlicher Tänzer, der sie allerding mit enger Klemmhaltung total dominiert und so eigenständiges Tanzen verhindert. Die beiden perfektionierten den bekannten Encuentro-Stil mit kleinschrittigen Bewegungen, vorzugsweise zu traditioneller Musik.

Als ich die Frau nach ziemlich langer Zeit wieder einmal aufforderte, bestätigten sich meine Beobachtungen: Ihre Aktionen fielen absolut elegant und technisch sauber aus, keine Frage. Dennoch baute sie zwischen uns eine Panzerglasscheibe auf: keine emotionalen Steigerungen, kein individuelles Eingehen auf meine Impulse, null heftigere Aktionen. Stattdessen lieferte sie mir normierte Abläufe – sin corazón. Ich hatte das Gefühl, nicht mit einem Individuum zu tanzen, sondern mit einer Regelsammlung. Was nicht in den Kodex passte, wurde abgelehnt: access denied.

Einige Zeit später forderte ich eine Tanguera auf, die mir schon deshalb aufgefallen war, weil sie auch führen konnte – fast immer ein gutes Zeichen. Der Ablauf unserer Begegnung war kabarettreif:

Eigentlich wollte ich sie gleich zu Beginn der Tanda zu einem Tanz einladen, aber da unterhielt sie sich noch mit einer Kollegin. Am Anfang des zweiten Stück marschierte ich dann zu ihr. „Ich hätte mich zu Beginn der nächsten Runde eh an dich gewandt“, so ihr zustimmender Kommentar. Wie schön!

Bei den nächsten beiden Stücken geschah dann wieder einmal das Wunder, welches mich immer noch beim Tango hält: Obwohl es (nach meiner Erinnerung) unsere erste Tanzrunde war, hatte mich die Dame total „ausgerechnet“. Sie ahnte oft, was ich tänzerisch vorschlagen wollte, bevor es mir einfiel, und nützte die ihr gebotenen Freiräume eindrucksvoll. Es war, als hätten wir schon jahrelang miteinander getanzt.

Bei der Cortina fragte ich sie, ob wir das fehlende dritte Stück noch dranhängen wollten. Sie war einverstanden, meine aber, ihre Kondition sei wegen des gestrigen, sehr intensiven Tanzabends nicht mehr die beste. Ich antwortete: „Das schaffst du schon“ und war heimlich ganz froh, dass ich den femininen Wirbelwind nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte aufgefordert hatte!

Nach dem dritten Tanz bedankte ich mich herzlich bei meiner Partnerin und wollte sie an ihren Platz führen. Mit Unschuldsmiene fragte sie jedoch: „Aber da kommen doch noch zwei Stücke, oder?“ „Schon, aber ich dachte, wegen deiner Kondition…?“ „Ach, das schaffe ich schon!“

Ja, wenn es so läuft, verschwindet plötzlich jede Müdigkeit – das kenne ich von mir selber. Wir ließen es also noch zwei Tanze lang ziemlich heftig krachen und verabschiedeten uns dann in bester Stimmung.

Also, liebes Tagebuch: Wenn es so ist, möchte ich weiterhin „auf der Stelle treten“ und mich jeglicher moderner Weiterentwicklung verschließen. Ich bin zuversichtlich, dass dies auch einige Tänzerinnen so sehen.

Und ich danke natürlich beiden Damen für diese Erkenntnis!

Illustration: www.tangofish.de

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.