Cassiels Kunsthandwerk
Gäbe es den unermüdlichen Quellen-Sammler Thomas Kröter nicht – ich hätte es glatt übersehen: Altmeister Cassiel hat, nach fast anderthalb Jahren Pause, einen neuen Artikel verfasst! Seine immer noch reichlich vorhandenen Fans sind glücklich über das seltene Wort des Vorbilds und danken ihm die Renaissance mit einer Fülle an Kommentaren.
„DJing im Tango – Handwerk oder Kunst?“ lautet die Frage, welche den einst vielschreibenden Blogger umtreibt. Mich verblüfft daran schon die Bestandsaufnahme: An 20 Wochenenden (mit jeweils 4-6 Milongas) sei er im letzten Jahr unterwegs gewesen – und nur an einem fand er die DJs „okay, gut oder sehr gut“. Später sagt er es nochmal in etwas veränderten Zahlenwerten: 80 – 90 Prozent der besuchten Milongas hätten erhebliche Defizite bei der Musikwiedergabe gezeigt.
Nachdem man davon ausgehen kann, dass Cassiel ausschließlich streng traditionelle Milongas besucht, kann ich ihm nur voll und ganz beipflichten: In vielen Artikel habe ich mich über die öde Beschallung in diesem Tangosegment beklagt. Klar, der Autor der „Tangoplauderei“ wird hier deutlich andere Maßstäbe anlegen als ich. Interessant bleibt diese Diagnose dennoch!
Was der Autor dann über „DJing als Handwerk“ schreibt, macht mich wirklich fassungslos: Da ich einfach CDs in ein halbwegs geeignetes Gerät schiebe, war es mir völlig entgangen, wie sehr viele Kolleginnen und Kollegen an den Dateien herumpfriemeln und Tonhöhen sowie Abspielgeschwindigkeit verändern. Ferner kommen so genannte Equalizer und Audiokompressoren zum Einsatz, welche Frequenzgänge manipulieren sowie Lautstärkeunterschiede angleichen.
Für mich fordert der simple Respekt vor den Interpreten, eine Aufnahme so abzuspielen, wie diese sie liefern. Und es bestätigt sich meine längst ausgesprochene Vermutung, viele Tango-DJs seien keine Musikliebhaber, sondern eher Elektronik-Tüftler.
Ans Kabarett grenzt Cassiels Beobachtung, der Tisch des DJs sehe manchmal aus wie das Cockpit eines Flugzeugs. Dazu hat der einstige Satire-Meister Kevin Seidel ja schon das Nötige gesagt: „Aber ich steh da mittem Kopfhörer auf. Das sieht irre cool aus. Hab' ich aus nem Film, wo der coolste Typ auch so Kopfhörer aufhat, während er auf seim Flugzeugträger die Jets startet.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/09/kevin-seidel-el-che-nie.html
Was Cassiel über „DJing als künstlerische Tätigkeit“ schreibt, findet meine Zustimmung in geringerem Maße: DJs mit einem solchen Anspruch erkenne man an ihrer Neigung zu eigenwilligen Experimenten. Da würden beispielsweise in einer Tanda unterschiedliche Orchester aus verschiedenen Epochen gespielt! Immerhin akzeptiert der Meister inzwischen ein bis zwei Tanzrunden pro Abend mit Experimentellem, während er früher die Meinung vertrat, schon eine Tanda mit Artfremdem könne eine ganze Milonga ruinieren. Na, immerhin…
Was ebenfalls nicht gehe, sei die Provokation von Zwischen-Applaus. Überhaupt solle sich der DJ nicht so in den Vordergrund spielen. Als Mittelding zwischen Handwerk und Kunst schlägt Cassiel die Rolle eines „Kurators“ vor, welcher wie in einer Ausstellung die Exponate zusammenstelle und möglichst optimal arrangiere. Gar kein so schlechtes Bild, wie ich finde! Und um eine Parallele zum Fußball zu ziehen: Die besten Schiedsrichter, so heißt es dort, erkenne man daran, dass sie kaum auffallen.
„Haben wir zu viele oder zu wenige DJs im Tango?“, so die abschließende Frage im Artikel. Cassiels Antwort gerät diplomatisch: Wir hätten zu wenig gute. Was er über die sich ausbreitende Langeweile auf vielen Milongas schreibt, könnte glatt von mir sein:
„Ich bin auch nicht davon überzeugt, dass DJ-ing eine Tätigkeit ist, die besser wird, wenn man möglichst viele Sets auflegt. Dafür habe ich bei den angesagten DJs zu viele Wiederholungen gehört. Es gibt Tandas, die kann ich schon vor dem Beginn einer Milonga mit den einzelnen Titeln benennen kann und sie werden dann auch tatsächlich gespielt. Solchen DJs würde ich eine kreative Pause empfehlen.“
Im Anhang liefert der Autor eine Liste üblicher Auflege-Fehler, die ich grundsätzlich ganz ähnlich sehe – und welche von viel Erfahrung zeugt.
Insgesamt setzt sich bei mir der Eindruck fort, den ich schon bei den wenigen Artikeln der letzten Jahre hatte: Meister Cassiel liefert weniger Ideologie und mehr Pragmatismus. Gelegentlich betont er, nur seine subjektive Meinung zu äußern. Er versteigt sich sogar zu der Frage:
„Gibt es nicht vielleicht begabtere Menschen, die die Fragen, die sich mir stellen, besser formulieren und anschließend veröffentlichen können bzw. sollten?“
Na, mein Guter, da hätte ich schon einen Vorschlag… Aber im Ernst:
Ich kann die Lektüre seines Textes nur wärmstens empfehlen – und auch in den Kommentaren wird erstaunlich konstruktiv und ohne die einstige Hetzerei formuliert:
https://tangoplauderei.blogspot.com/2022/07/DJing-im-Tango-Kunst-oder-Handwerk.html
Freilich kann ich dem Autor den Vorhalt nicht ersparen, dass er öfters mit dem Ungeist kämpft, den er früher selbst gerufen hat. Seine (und die des völlig überschätzten Christian Tobler) ellenlangen Traktate über die technischen Aspekte des Auflegens haben doch genau den Typus des Koaxialkabel-Nerds geschaffen, den man nun beklagt!
Und wenn Cassiel jetzt die öde musikalische Programmgestaltung kritisiert: Wer hat denn viele Jahre lang den Kanon der „erlaubten“ Musik und deren orthodoxer Zusammenstellung immer weiter verengt? Wer sich an all das hält, kann eigentlich nur bei den immer wieder ähnlichen Angeboten enden!
Wenn man alles zu Tode reguliert, sollte man sich anschließend nicht über die fehlende Lebendigkeit im Tango mokieren.
Daher, ihr Lieben, sage ich euch voraus: Es wird sich auf
die Dauer nicht verhindern lassen, die Grenze der erlaubten Tanzmusik
über das Jahr 1955 hinaus auszudehnen. Das Dogma, die letzten fast 70
Jahre hätten im Tango nichts Tanzwürdiges hervorgebracht, war, ist und bleibt
Schwachsinn! Und wenn ihr schon am Modernisieren seid, dann packt’s bitte
auch das völlig überflüssige Regelwerk von Tanda-Zusammenstellung,
Tanzspur-Verordnungen und Aufforderungsriten mit dazu! Formale Einschränkungen können musikalisches und menschliches Gespür nicht ersetzen.
Liebe DJs, was beim Tango-Musikangebot wirklich funktioniert, steht nicht in irgendwelchen komischen Traktätchen, sondern ist auf dem Parkett zu beobachten. Am besten übrigens, wenn ihr selber dazu tanzt!
Ich erinnere mich an das Wort eines meiner früheren Schulleiter, mit dem er uns dazu aufforderte, pädagogische Fehler einzugestehen: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie in dieser Hinsicht eine Leiche im Keller haben sollten: Führen Sie diese einer ordentlichen Bestattung zu!“
Ach ja: Ist nun das Auflegen ein Handwerk oder eine Kunst? Mein einstiger Deutschlehrer legte uns stets diese Definition nahe:
„Kunst ist, was man nicht kann.“
Dann müsste das DJing im Tango eine sein – und sie könnte uns Szenen ausgelassener Fröhlichkeit wie diese ersparen:
https://www.youtube.com/watch?v=RK6KPLXdvyw
P.S. Weitere Tipps und Ideen zum Auflegen findet man unter diesem Label:
https://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Tango%20DJing
Gelegentlich als DJ aufzulegen ist eine tolle Sache, weil man dazwischen der Musik, sei es auf Milongas oder sozialen Medien, mit mehr „praktischem“ Interesse zuhört. Und natürlich gibt es viele Meinungen darüber was man zu tun und zu lassen, hat. Man kann ja kurz über die Gründe nachdenken, ohne sich verwirren zu lassen oder gar die Maximalforderungen zu addieren.
AntwortenLöschenWenn Du CDs auflegst hat das sicher seinen Charme, so als ob Alfred Tetzlaff noch mal bei einer Silvesterfeier eine schmissige Platte auf den Teller wirft. Aber wenn Du Videos zu Musikthemen aufnimmst, dann benutzt Du nicht Deine Original-CDs sondern "irgendwas aus dem Internet". Das wird auch seine Gründe haben.
Gängige HiFi-Anlagen haben Aussteuerungsanzeigen sowie Regler für Lautstärke, Höhen und Tiefen. Das wird seine Gründe haben.
Und rein aus dem Gefühl heraus möchte ich z.B. keine Saal-Beschallungsanlage an einer wackeligen Mini-Laptop-Buchse hängen haben, ich leiste mir eine externe Soundkarte mit Anschlüssen wie bei einer HiFi-Anlage, einen kleinen Controller mit Reglern wie bei einer HiFi-Anlage. Da warte ich lieber nicht ab, ob das nun begründet ist oder nicht.
Lieber Martin,
Löschenegal, welche tolle Technik du beim Auflegen verwendest: Mir soll es recht sein.
Allerdings hat bei Cassiels neuem Artikel kürzlich jemand geschrieben:
„Kann es sein, dass man als DJ bereits relativ gut unterwegs ist, sobald man keine Steinzeit-Musikdateien nutzt, nicht den Kopfhörer-Ausgang an den Verstärker anschließt, die Tandas nicht grob würfelt, den Lautstärkeregler mit Bedacht bewegt und idealerweise noch eins-zwei-drei-vier-cortina abzählen kann?“
Dem schließe ich mich an. Ich meine, das ganze technische Gefummel trägt viel weniger zum Erfolg einer Milonga bei, als entsprechende Nerds es sich vormachen. Aber, wie gesagt: Gute Technik kann nicht schaden – wieviel sie jeweils nützt, ist ein anderes Thema.
Es ist richtig beobachtet, dass ich bei meinen Videos die Musik aus dem Internet hole. Der Grund ist sehr einfach: Manchmal sind wir nur zu zweit, und meine Kamerafrau kann nicht auch noch die CDs wechseln. Und auch wenn eine dritte Person anwesend ist, verbreite ich unnötigen Stress, wenn diese die Musikanlage bedienen soll.
Den Vergleich mit Alfred Tetzlaff finde ich süß! Doch welche Musik würde der Ewiggestrige auflegen? Doch eher die Knisterplatten von Anno Tobak, oder? Auf jeden Fall nicht die modernen Klänge, welche ich meinen Gästen biete.
Beste Grüße
Gerhard
Gerhard, Du sagst da einen guten Satz über gute Technik.
LöschenUnd auch dem zitierten Kommentar stimme ich voll zu, der stammt schließlich von mir.
Exakt wie Du beim Videodreh möchte ich als DJ möglichst wenig Stress verbreiten, Störungen minimieren. Daher werde ich bei Schellack-Transfers bisweilen etwas am Höhenregler drehen, bei technisch modernen Musikdateien eher nicht.
Und wenn da 50 Tänzer auf der Fläche stehen, dann wollen die keine Wetten abschließen, ob der nächste Titel zeitnah kommt oder nicht. Vermutlich würden sie es gerne erleben, dass ich fluchend zurück zum DJ-Pult sprinte - aber ich möchte das nicht erleben. Im Wohnzimmer fröhlich schwatzend zu hantieren ist eine andere Situation.
Es gibt wohl eine Personengruppe, die mehr Augenmerk auf die Musikauswahl als die Technik legt. Also solange der Apple-Laptop mit Apple-Music-Dateien (heutzutage auch aus anderen Quellen, etwa von Christan Tobler) und einem Apple-MacOS-Tango-Abspielprogramm läuft, fummeln die auch nicht rum und produzieren offenkundig weniger technische Fehler.
P.S. Ich nutze auch zuhause so ein Gerät um über den Computer Musik zu hören:
https://www.native-instruments.com/de/products/traktor/dj-controllers/traktor-kontrol-z1/
Lieber Martin,
Löschenwie gesagt: Mach es wie du meinst, das wird schon passen.
Ich habe halt schon zu Zeiten aufgelegt, wo der Computer noch keine Rolle spielte, und auch bei größeren Veranstaltungen. Von daher darf ich dir berichten: Man kann es auch mit CDs ohne größere Störungen hinkriegen. Und sogar parallel noch tanzen.
Im Wohnzimmer ist das natürlich überhaupt kein Problem. Nur: "fröhlich schwatzend"? Bestimmt nicht - ich bin auch ein Gegner von verbalen Cortinas!
Beste Grüße
Gerhard
Okay, okay, es geht auch mit CDs - bis vor einigen Jahren habe ich das noch auf Milongas gesehen. Eine aussterbende Technik, so wie etwa Handschrift.
LöschenMein Smartphone hat bereits das Festnetztelefon, den Fotoapparat, die Straßenkarten und die Armbanduhr abgelöst, und notfalls ersetzt es auch schon meinen DJ-Laptop. Man schafft sich halt neue Annehmlichkeiten - und damit auch neue Probleme.
Ich denke den Weg zur Integration von Streaming-Diensten beim DJing werde ich nicht mehr mitgehen. Muss ich ja auch nicht ... die Karawane zieht einfach weiter.
Thomas Kröter hatte auf Facebook den Link auf Cassiels Artikel veröffentlicht. Meine Antwort darauf ignoriert er allerdings. So viel zur Fairness im Tango...
AntwortenLöschenIch hatte schon länger das Gefühl, dass bei den Kommentaren auf Cassiels Blog ein Elefant im Raum steht, den sich alle zu übersehen bemühen.
AntwortenLöschenNun ist es passiert – kürzlich schrieb ein Kommentator zur „Beliebigkeit“ des Auflegens:
„Milongas mit Youtube-Daten, und es wird in das Belieben des DJs gestellt, ob nun auch zweifelhafte Stücke von Juan Canaro gespielt werden oder nicht. Da kann man ja gleich zum Riedl nach Pornbach gehen und auf Peter Alexander tanzen. Das kann es doch nicht sein!“
Sorry: Pörnbach, gell? Und Juan Canaro? Habe ich noch nie aufgelegt…
Ein anderer Schreiber konterte:
„Warst Du eigentlich schon einmal in Pörnbach, auf der Wohnzimmer-Milonga von Gerhard Riedl?
Du hörst Dich an, als wäre das völlig ausgeschlossen für Dich. Ich war dort leider noch nie.
Alle Wohnzimmer-Milongas, auf denen ich aber bislang schon getanzt habe, die habe ich in ganz großartiger Erinnerung.
Wäre Pörnbach für mich nicht eine ganze Tagesreise entfernt, so wäre ich schon längst Gerhards Einladung gefolgt. Ich bin mir sicher, dass ich dort HEUTZUTAGE ganz hervorragend zum gegenseitigen Amüsement aller Anwesenden teilnehmen würde.
Immerhin hatte ich aber schon regen und auch sehr kontroversen Schriftverkehr mit Gerhard (privat und auch öffentlich auf seinem Blog). Ich bin oft nicht seiner Meinung.
Aber wie weiter oben gesagt: Reibung ist der Evolution dienlich.“
Und ein Dritter legte wie folgt nach:
„Ich hoffe auch schwer, dass ich bei einer Wohnzimmermilonga von Gerhard Riedl mit allen Anwesenden einen angenehmen Nachmittag verbringen würde.“
O je, der arme Cassiel… Ich weiß doch, dass er Diskussionen über meine Person auf seiner Seite überhaupt nicht braucht. Bislang schweigt er.
Ich werde weiter berichten!
Nun hat sich Cassiel doch zu einer Antwort bequemt:
Löschen„Zu Deiner Frage bezügl. der Wohnzimmer-Milonga von Gerhard: Nein, selbst wenn der höchst unwahrscheinliche Fall einträte und ich eingeladen würde, ich würde da nicht hingehen. Ich vermute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass ich dort meinen Tango nicht finden werde. Wenn Gerhard dort mit seinen Gästen ein Format gefunden hat, das ihn und die Anwesenden glücklich macht finde ich das prinzipiell begrüßenswert. Sein Konzept nun zu verallgemeinern halte ich dann doch für … … … ‚verwegen‘.“
Na, das klingt doch relativ friedlich! Allerdings würde ich ihn tatsächlich nicht einladen. Nicht wegen seiner Gesinnung – ich muss nur von meinen Gästen den realen Namen wissen.