Liebes Tagebuch… 64
Was mich am Tango und dem Bloggen darüber immer wieder fasziniert, sind völlig unerwartete, verblüffende Erlebnisse und Kontakte.
So erhielt ich vor zwei Tagen zu meinem Artikel über Tanzfiguren contra Musikalität einen längeren Kommentar von jemandem, von dem ich das nie gedacht hätte: dem Münchner Tangoveranstalter, Lehrer und Tausendsassa Levent Göksu.
Als Weg aus dem von mir geschilderten Missstand pries er einen Workshop an, den er demnächst gebe. In seinem possierlich-barocken Schreibstil ließ er sich einige Seitenhiebe gegen die Tangoszene der Landeshauptstadt nicht nehmen:
„Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass die Münchner Bürgerinnen und Bürger ein bisschen herzloser sind als der Rest der Republik, zumindest außerhalb vom Oktoberfest. Der Stress ist groß, der Kampf, sich in München zu behaupten, ebenfalls. Das spiegelt sich in der ganzen Szene wieder.“
Er kam auch nicht umhin, die Verantwortung für das unmusikalische Abtanzen des branchenüblichen Figurensalats gerecht auf beide Geschlechter zu verteilen:
„Und wenn da die Mädels keine eigenen Ideen haben und selbst die Musik hören und sich für ihren frei improvisierten Tanz engagieren, dann brauchen sie bitte auch nicht über die anderen Schwachen lästern. Denn kein Mann erträgt die vollste Wahrnehmung einer passiven Frau, die nur wertvolle Informationen sammelt, aber nichts damit anfangen kann.“
Fazit:
„Manche Lehrer verkaufen die Wunder des glücklichen Lernens, andere komplizierte Schrittabfolgen...“
Ich kenne den Schreiber schon seit 2016, als ich einen ersten Beitrag über den Nonkonformisten schrieb und ihn als „funkelndes Irrlicht am Münchner Tangohimmel“ bezeichnete. Insbesondere mit seinen Tangoabenden am Münchner Königsplatz, die er bei passendem Wetter fast täglich durchzieht und mit allerlei Attraktionen ausbaut, hat er sich wohl die Ungnade anderer Organisatoren zugezogen. Viele sähen ihn offenbar nur zu gerne abschmieren. Auch darüber habe ich berichtet.
http://milongafuehrer.blogspot.com/2016/03/levent-und-levent-lassen.html
http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/06/das-karma-ist-aufgebraucht.html
Daher gab ich ihm eine launige Antwort – er hatte grundsätzlich ja Recht. Ob er das angestrebte Ziel allerdings in einem 90 Minuten-Workshop erreichen könnte, bezweifelte ich:
„Dass Sie ein Meister der beabsichtigten und speziell der ungewollten Satire sind, zeigt sich auch in Ihrer Ankündigung, in 90 Minuten ganz neue Tango-Saiten aufzuziehen. Ein wenig erinnert mich das an die Straßenhändler, die in meiner Kindheit vor den Kaufhäusern Patent-Fleckenwasser und andere Wundermittel verkauften. Manchmal gingen durch die Wundertinktur dann zwar die Farben aus den Textilien raus, aber nicht die Flecken.“
Auf jeden Fall aber bestärkte ich ihn darin, sich in München nicht unterkriegen zu lassen.
Das reizte den guten Levent dazu, in der Richtung nochmal griffiger auszupacken. Unter anderem klang das so:
„Herr Riedl, es ist mir eine große Ehre und Freude, mit Ihnen zu kommunizieren. Ich schätze es sehr, dass Sie im Mikrokosmos Tango sind und daraus über den Tango schreiben. Es ist ein sehr großartiges Geschenk (für den, der was damit anfangen kann), so wertvolle Beiträge von Ihrer Seite aus zu bekommen. Ihre Augen, Ihr Verstand, sie haben eine super Nase für sagen wir mal ‚Angebranntes‘ oder besser ‚unnötige Gesetze, Routinen und Affirmationen, die den Tanguer@ an seiner Spontanität hindern‘, oder, noch besser, einfach nur Kuhmist.“
Ich hatte an dem Text wirklich großen Spaß – ja, so ungefähr kann man es beschreiben… Als ich nach einigen Stunden antworten wollte, stellte ich verblüfft fest, dass Levent seinen Text wieder gelöscht hatte. Was war denn los? Als ich ihn darauf ansprach, erhielt ich zunächst nur sehr nebulöse Erklärungen. Menschen wie er seien für viele ein Rätsel:
„Polarisierend, ambivalent, unverstanden. Geliebt oder gehasst für das Anderssein, weil dies Anderssein natürlich für keine Homogenität in egal welcher Gruppe sorgt, bin ich von den anderen ‚Anführern‘ immer als Problemkind betrachtet worden, um dann letztendlich aus der Gruppe trotz aller Versuche ausgeschlossen zu werden. (…)
Mein Wirken, da sehr intensiv und stark von Natur aus und noch zusätzlich viele Stunden Tage Wochen trainiert, wird für die anderen ‚Alpha-Menschen‘ in meiner Umgebung zu unerträglich, wenn ich einfach zu lange präsent bin. (…)
Ich habe diese Qualität an mir angenommen und erkannt, dass ich in gewissen Systemen und Orten, auch Facebook oder Whattsapp Gruppen, mich anders verhalten muss, wenn ich die anderen weiterhin in ihrer Balance bzw. Harmonie lassen möchte.“
Eine interessante und kritische Selbsteinschätzung! Ich weiß natürlich nicht, was genau den Schreiber dazu veranlasst hat, seinen Beitrag zunächst zu löschen. Er ist ja auf den Zulauf der Münchner Tangoleute angewiesen. Befürchtete er, von dieser Seite angegriffen zu werden, oder fanden solche Attacken schon statt?
Bekanntlich herrscht in konservativen Teilen der Tangoszene ja Sprechverbot mit mir. Bereits die öffentliche Reaktion auf meine Texte gilt in gewissen Kreisen als Fraternisierung. Weit hat man es gebracht…
Mein hartnäckiges Insistieren bewirkte dennoch und überraschenderweise, dass Levent seinen gelöschten Kommentar wieder einstellte. Dieser Mut hat mich tief beeindruckt. Daher:
Lieber Levent, ich glaube eine ungefähre Ahnung zu haben, wie Sie ticken. Ihre Kreativität und Spontaneität – verbunden mit einer tüchtigen Portion Offenheit – müssen Ihre Mitmenschen schon aushalten. Und wenn nicht, sollten Sie die Schuld nicht bei sich suchen.
So weit ich das aus der Ferne beurteilen kann, verleihen Sie dem Tango etwas, das er dringend braucht, um nicht die Beute der Humorlosen, der Regelaufsteller und Backenaufbläser zu bleiben: Begeisterung, Spaß und vor allem das Gefühl, dass sich niemand besser oder schlechter dünken soll. Wie Sie die Münchner Tangoszene aufgemischt haben, ist eindrucksvoll.
Daher kann ich Ihnen nur beipflichten, wenn Sie in Ihrem glücklicherweise wieder veröffentlichten Kommentar abschließend schreiben:
„Ich freue mich und bin stolz, mich mit einem Krieger des Lichts wie Ihnen Seite an Seite im Kampf gegen die Schatten behaupten zu glauben. Wie die Musketiere lassen Sie uns die Schwerter und Speere des Lichts wetzen und uns hinter den Schildern gegenseitig beschützen. Unermüdlich gegen unsere eigene und die Dummheit der anderen ankämpfen. Und wenn sonst noch jemand mit dabei sein will, ist er auch herzlichst in unserer Runde willkommen, oder Herr Riedl, was sagen sie dazu?“
Was bleibt mir da übrig als zu antworten: Genauso machen wird das. Ohne in jeder Hinsicht einer Meinung zu sein. Das braucht es im Tango nicht. Respekt reicht.
Und, lieber Levent, lassen Sie sich nicht verbiegen – weder von mir noch von anderen!
P.S. Da der Autor mit dem schriftlichen Ausdruck ziemlich kreativ umgeht, habe ich die Zitate sprachlich etwas bereinigt. Im Original kann man sie in unserer Facebook-Gruppe „Was Sie schon immer über Tango wissen wollten…“ nachlesen. Falls man sich als Gruppenmitglied anmeldet.
https://www.facebook.com/groups/1820221924868470
Und wie Levent als Tänzer sogar einem Besen Sex Appeal verleiht, sieht man im Video:
https://www.youtube.com/watch?v=4dwE9som7Aw
Und hier seine Website:
https://www.tango-am-koenigsplatz.de
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