Achtung, Achtsame!
Es gibt einen aktuell sehr häufig strapazierten Begriff, der bei mir inzwischen den „Olaf Scholz-Effekt“ auslöst: Ich kriege rote Ohren.
Achtsamkeit (englisch attentiveness, care, regardfulness) ist eine Form der Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse und Belange anderer Menschen, eine interaktive Praxis mit einer ethisch-politischen Dimension. Der Begriff „Achtsamkeit“ stammt ursprünglich aus dem Buddhismus, in dem der Begriff Achtsamkeit im Sinne des englischen mindfulness ebenfalls verwendet wird, und wurde in die Care-Ethik übernommen. In dieser Bedeutung steht er zwischen Achtung und menschliche Zuwendung, grenzt sich aber auch von Autonomie ab.
https://de.wikipedia.org/wiki/Achtsamkeit_(care)
Das ominöse Wort ist derzeit vor allem in einer Bewegung gängig, die seit bald anderthalb Jahren regelmäßig bei Demonstrationen die Polizei auf Trab hält, dabei unbekümmert, also ohne Masken und Abstand, Viren verbreitet und uns vor einer kommenden Diktatur warnt. Neuerdings werden auch Impfteams angegriffen und als „Kindermörder“ diffamiert:
https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2021/09/kauft-nicht-bei-der-stiko.html
Meine Erfahrungen, dass sich frömmlerisches Getue und knallhart-diktatorisches Agieren wunderbar verbinden lassen, machte ich schon in meinen jungen Jahren mit einer Berufsgruppe, welche uns mit einer solchen Melange von Weihrauch und Rohrstock verwöhnte: katholische Pfarrer.
Ich leitete damals eine kirchliche Jugendgruppe. Der örtliche Vertreter der frohen Botschaft verordnete uns für die Nutzung der heruntergekommenen Jugendräume strengste Bedingungen: Insbesondere ab 21 Uhr hatte Schluss zu sein, da die Ordensschwestern im angrenzenden Wohnheim da schon zu Bett gingen. Auch vorher habe jeder ruhestörende Lärm zu unterbleiben.
Auf eigene Faust und Kosten renovierten wir die Räumlichkeiten, wofür wir nie ein Dankeswort erhielten. Stattdessen wurden wir von der Pfarrhaushälterin, bei der wir immer die Schlüssel abzuholen hatten, regelmäßig mit den neuesten Beschwerden konfrontiert. Obwohl wir keine Heavy Metal-Partys veranstalteten – unser Vergehen bestand eher darin, bei der Erfindung des lautlosen Tischtennisspiels nicht weiterzukommen.
Eines Tages ereilte uns das Verbot der weiteren Nutzung. In einem Gespräch darüber schmiss uns der Pfarrer dann brüllend aus seiner Wohnung. In einer Predigt verglich er mich persönlich mit einem der Schächer am Kreuz – natürlich dem Uneinsichtigen. Monty Python kannte ich damals noch nicht.
Nun gut, wir veranstalteten in der Folge eine Unterschriftensammlung für seine Abberufung und begleiteten den nächsten Fronleichnamszug mit Flugblättern – für die damalige Zeit nahe an der kommunistischen Weltrevolution. Auf das grimmige Gesicht des Pfarrers hinter seiner Monstranz bin ich heute noch stolz.
Einem anderen Vertreter seiner Zunft war vor allem die Mittagsruhe heilig: Während meines Zivildiensts bei der Caritas nutzten wir übergangsweise Räumlichkeiten der Pfarrei. Die behinderten Kinder, die wir betreuten, spielten nach dem Mittagessen ebenfalls nicht geräuschlos. Wenn das nicht aufhöre, so seine Drohung, flögen wir samt unseren Schützlingen aus der Unterkunft.
Ihren Endpunkt fanden meine Begegnungen mit christlichen Pharisäern, als es uns in der Anfangszeit unserer Wohnzimmermilonga einfiel, einen Termin auf den Karfreitag zu legen. In der Einladung schrieb ich irgendwas von Carlos Gardel, dessen Musik wir zu dessen Todestag spielen würden. Einer der eingeladenen Tangueros antworte mir, an einem solchen Tag hätten wir nicht des Todes eines berühmten Sängers zu gedenken, sondern der Kreuzigung Christi.
Für mich war das der Tropfen, welcher das Fass zum Überlaufen brachte: Aha, „wir“ hätten also… Dass dies ein überzeugter Katholik eventuell tun würde, stand ja außer Frage – aber was „wir“ zu tun hätten, ging den guten Mann einen Dreck an. Und dies in einer Welt, in der immer wieder Unschuldige sterben müssen, weil irgendwelche verrückten Religionsfanatiker meinen, alle Welt hätte ihren Glaubenssätzen zu folgen.
Nein, muss die Welt nicht: Kurze Zeit später erklärte ich vor dem örtlichen Standesbeamten meinen Austritt aus der katholischen Kirche.
Mit Taliban anderer Art hatte ich bekanntlich jahrelang beim Tango das Vergnügen. Auch da verwenden ja Leute, die ständig Vokabeln wie „achtsam“ und „liebevoll“ im Maul führen, ihre humanistischen Aufwallungen dafür, anderen vorzuschreiben, wie sie sich auf einer Tangoveranstaltung zu verhalten hätten, welche Musik sie gefälligst wollen sollten.
Wer das nicht einsieht, wird gnadenlos persönlich angegangen. Von fehlenden Tanzkenntnissen über schlechten Körpergeruch bis zum Tourette-Syndrom wurde mir alles Erdenkliche vorgeworfen. Die Talibana Medusa McClatchey Fawkes gar tröstete Gleichgesinnte mit meinem absehbaren Dahinscheiden. „Liebevoller“ geht es nicht…
https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/04/warten-auf-den-sensenmann.html
In der Sammlung gewesener Achtsamkeits-Diktatoren darf auch einer meiner früheren Chefs nicht fehlen, der in den Konferenzen gerne und lange über das Verständnis und die Toleranz predigte, welche man Schülern und Eltern gefälligst entgegenzubringen habe. Ein wenig im Missverhältnis dazu stand seine Personalpolitik, welche alle zum Mobbing freigab, die sich dem Diktat seiner Humanität nicht beugen wollten.
Erst als ich wegen einer schlechten Beurteilung extrem unachtsam vors Verwaltungsgericht zog, ließ die Vendetta nach.
Eine Ahnung von wahrer Achtsamkeit erhielt ich vor einiger Zeit, als ich wegen eines medizinischen Notfalls übers Wochenende ein Krankenhaus aufsuchen musste. Am Sonntagmorgen erschien dann ein jüngerer, sichtlich angefressener Facharzt, der sich offenbar höllisch darüber ärgerte, aus dem Wochenende herausgerufen zu werden. Ich will es kurz machen: Er redete mit mir in einem Tonfall, der in seinem Heimatland wohl beim Gesprächspartner das Entsichern einer Kalaschnikow ausgelöst hätte. Glücklicherweise ist das in Deutschland nicht zu befürchten – zumal bei einem Patienten, der wegen seines unklaren Gesundheitszustands eh in Panik ist.
Um es kurz machen: Ich habe schon viele gute und weniger tolle Schulmediziner kennengelernt – aber diese Melange aus dümmlicher Anmaßung und absoluter Gefühllosigkeit war mir noch nie begegnet. Von Diagnosen war übrigens weniger die Rede – und den Befunden durften wir anschließend mühsam hinterhertelefonieren. Glücklicherweise stabilisierte sich mein Zustand schnell, so dass ich den Laden fluchtartig verlassen konnte.
Meine lokalen Rückfragen im Medizinumfeld ergaben: Ja, so gehe der Typ regelmäßig mit seinen Patienten um. Er arbeite in der Facharztpraxis eines älteren Kollegen.
Seinen früheren Chef lernte ich nun auf Wahlplakaten kennen: Er ist der örtliche Direktkandidat der Querdenker-Partei „Die Basis“. Auf deren Website verkündet er viel Süßholz-Semantik:
„Achtsamkeit gegenüber anderen und der Natur zeichnet den Menschen als soziales und empathisches Wesen aus. Alle vier Säulen im Programm der Partei dieBasis vertrete ich von Herzen, weshalb ich der Partei beigetreten bin.“
„Ich will erreichen, dass die heute regierenden Parteioligarchen juristisch Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.“
https://diebasis-fs-paf.de/2021/06/eckhard-reineke/
Na gut, der bejahrte Herr Doktor leidet eventuell unter Altersweitsichtigkeit. Aber wenn wir mal auf die Nähe fokussieren: Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass sein Empathie-Detektor nicht ausschlägt, wenn er mit einem völlig gefühllosen Kollegen in seiner Praxis zusammenarbeitet. Vielleicht könnte er erstmal dafür Verantwortung übernehmen, bevor wir uns an die Parteioligarchen ranmachen…
Jedenfalls hat mich das Leben gelehrt: Wer mir mit Achtsamkeits-Gesüßel kommt, belegt meist Basisplätze auf der nach unten offenen Empathie-Skala. Lieber wäre mir Achtung.
Die eher sperrigen Mitmenschen hingegen stehen meist hinter einem, wenn es hart auf hart kommt. Wer noch etwas weiterlesen will: Hier ein ganz ähnlicher Artikel meiner Blogger-Kollegin Manuela Bößel.
http://im-prinzip-tango.blogspot.com/2021/01/rose-und-der-rotz.html
Lesetipp zum Thema: https://www.amazon.de/Achtsam-morden-Roman-Karsten-Dusse/dp/3453439686
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