Von Einzelfall zu Einzelfall

 

Ihr wählt euch eure Zeugen!

Ihr sichert den Bestand!

Wo sich euch Rechte beugen,

ist euer Vaterland!

(Kurt Tucholsky: „Deutsche Richtergeneration 1940“, 1921)

 

Ein wesentlicher Grund für die Auslieferung der Weimarer Republik an die Nazis war die deutsche Justiz. Sie war auf dem rechten Auge blind. Der Autor Kurt Tucholsky, selbst promovierter Jurist, hat in flammenden Appellen, Artikeln und Gedichten immer wieder darauf hingewiesen.

In seinem Text „Die lebendigen Toten“ schildert er, wie ein Kriegsgericht gegen die Mörder von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verhandelte. Die beiden führenden Politiker der neu gegründeten Kommunistischen Partei wurden von Mitgliedern einer Bürgerwehr im Januar 1919 illegal verhaftet und später von Freikorps-Soldaten erschossen. Die Täter wurden im Mai desselben Jahres überwiegend freigesprochen oder zu provozierend milden Strafen verurteilt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Mord_an_Karl_Liebknecht_und_Rosa_Luxemburg

Tucholsky packte ob dieser Sauerei sein ganzes Pathos aus:

„Aus ihren Gräbern rufen zwei Tote. Ihr könnt die Schreie nicht hören, denn ihr seid taub. Wir aber hören sie. Und vergessen sie nicht. Was da in dem großen Saal unter dem Bildnis ›Seines‹ glorreichen Großvaters, Kaiser Wilhelms des Großen, vor sich gegangen ist, ist in unsre Herzen eingebrannt. Und eben, weil alle feinen Leute noch für den letzten Verbrecher und Rohling eintreten, wenn er nur Liebknecht totschlägt, und eben weil die schlechtesten Deutschen aufatmeten, als zwei Idealisten ermordet wurden, eben deshalb bewahren wir unsre Trauer und unsern Schmerz und vergessen nicht.“

https://www.textlog.de/tucholsky-lebendigen-toten.html

Diese Taten waren der Beginn einer Serie von Mordanschlägen gegen linke und liberale Politiker wie Kurt Eisner, Gustav Landauer, Walther Rathenau, Philipp Scheidemann und Matthias Erzberger.

An diese Geschehnisse musste denken, als ich von dem Mord in Idar-Oberstein hörte: Dort hatte sich ja ein 49-jähriger Mann von den Corona-Auflagen so beschwert gefühlt, dass er in einer Tankstelle einen Studenten, der dort als Aushilfskraft arbeitete, vorsätzlich hinrichtete. Dessen Vergehen war, dass er auf der Einhaltung der Maskenpflicht bestand. Nach momentanem Stand ist zu vermuten, dass der Täter sich für Querdenker-Veröffentlichungen und rechtes Gedankengut  interessiert hat.

In der Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft betonte man, es handle sich um eine noch nie dagewesene Tat. Und auch ein Sprecher des Bundesinnenministerium s sprach gestern von einem „Einzelfall“.

Dagegen war für den Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten Stephan Kramer das Verbrechen absehbar: „Der kaltblütige Mord ist furchtbar, aber für mich keine Überraschung angesichts der steten Eskalation der letzten Wochen.“ Er und seine Kollegen hätten vor dem Aggressionspotential gewarnt. „Bedauerlich ist, dass es immer erst Tote geben muss, bevor die Gefahr ernst genommen wird.“

Dazu passt, dass auf Medien wie „Telegram“ Rechtsradikale die Tat feiern: „Kein Mitleid. Die Leute immer mit dem Maskenscheiß nerven. Da dreht irgendwann mal einer durch. Gut so“, hieß es in einem Kommentar. Der Politikwissenschaftler Josef Holnburger schrieb, dass alle Kollegen, die in diesem Gebiet öffentlich tätig seien, schon mit Morddrohungen konfrontiert worden seien: „Seit Jahren plant das verschwörungsideologische Milieu ,Tribunale‘. Plant den ,Tag X‘. Führt Todeslisten ,für später‘. Spricht von Nürnberg 2.0. Sehnt sich einen Bürgerkrieg herbei. Nicht ,im Internet‘. Sondern unter uns. Jetzt wurde ein Mensch ermordet. In ,der Realität‘.“  

https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/querdenker-radikalisierung-mord-auf-telegram-verherrlicht-17547635-p2.html

Ich finde ebenfalls, der Mord von Idar-Oberstein war eine durchaus vorhersehbare Eskalation. Die Querdenker- und Neonaziszene radikalisiert sich zusehends. Man nimmt für sich ein verschwurbeltes „Widerstandsrecht“ in Anspruch, das alles rechtfertigen kann. Über einen Vorfall in unserer Nähe habe ich kürzlich berichtet:

https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2021/09/kauft-nicht-bei-der-stiko.html

Und bereits vor einem Jahr war ich fassungslos, wie die Verwaltungsrichter  in Berlin eine große Coronakritiker-Demo genehmigen konnten:

milongafuehrer.blogspot.com/2020/08/der-aufmarsch-der-covidioten.html

Überhaupt scheinen mir Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte von überraschender Lustlosigkeit befallen, wenn Querdenker und Konsorten sich über Verbote und Auflagen hinwegsetzen. Da wird dann viel von „Deeskalation“ geredet und notfalls eine illegale Versammlung mit dem Wasserwerfer von oben sanft beregnet. Wenn die Antifa aufmarschiert, geht es deutlich rustikaler zur Sache.

Oder wieso mussten erst Obergerichte die Entscheidung des Chemnitzer Verwaltungsgerichts korrigieren, als eine rechtsradikale Splitterpartei „Hängt die Grünen“ plakatierte? Muss man da wirklich noch das Kleingedruckte lesen?

Und wieso hatten wir längere Zeit einen Verfassungsschutz-Präsidenten, vor dem man besser die Verfassung hätte schützen sollen?

In einem heute erschienenen Kommentar in der SZ beschreibt der Journalist und Jurist Ronen Steinke die Misere unter dem Titel „Die Justiz stellt sich blöd“:

„Ein Beispiel? Wenn eine Neonazi-Truppe in der Fußgängerzone von Würzburg buchstäblich Leichentücher auslegt, bespritzt mit Kunstblut, und drei Strohpuppen hinlegt mit den Fotos von Olaf Scholz, Annalena Baerbock und Armin Laschet – dann ist das eine Drohung. Das ist deutlich. Um das zu erkennen, muss man nicht zwingend noch einen Blick werfen auf das Transparent, das die Neonazis außerdem mitgebracht hatten. ‚Reserviert für Volksverräter‘ stand dort.

Die Staatsanwaltschaft in Würzburg hat sich stattdessen von den Neonazis am Nasenring herumführen lassen. Sie ist den Ausflüchten der Neonazis gefolgt: Die drei ‚Leichen‘ würden nicht die drei Politiker darstellen, sondern Opfer von deren flüchtlingsfreundlicher Politik. Die Rechtsextremen würden also nicht Blut sehen wollen. Im Gegenteil: Sie würden über bereits vergossenes Blut trauern. Die Staatsanwaltschaft in Würzburg tat so, als sei dies ernsthaft ein Eindruck, den Zuschauer gewinnen konnten.“

Erst nach einem öffentlichen Aufschrei ermittelt die Staatsanwaltschaft nun. Gesetzliche Grundlagen wären vorhanden – Aufforderung zur Gewalt und Billigung von Straftaten:  

https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__111.html

https://dejure.org/gesetze/StGB/140.html

Das Resümee des Autors: „Zurück bleibt die Erkenntnis: Man kann durchaus, wenn man will. Leider will man zu oft nicht. Das merken sich Rechtsextreme. Das testen sie vergnügt immer weiter aus.“

https://www.sueddeutsche.de/meinung/neonazis-justiz-gewalt-1.5417036

Und wie war das mit den NSU-Morden, bei denen man sich lange keinen rechtsradikalen Hintergrund vorstellen konnte? Und vom Oktoberfest-Attentat über die Ermordung von Walter Lübke bis zu den Schüssen von Hanau und Halle: alles Einzeltäter. Klar, zu zweit den Abzug einer Waffe zu bedienen ist ja unpraktisch…

Als der jüdische Schauspieler und Journalist Maximilian Harden 1922 einen Mordanschlag durch rechte Attentäter nur knapp überlebte, beschrieb Kurt Tucholsky das hundert Jahre alte Muster inklusive Schonung der Täter:

„Das muss man gesehen haben. Da muss man hineingetreten sein. Diese Schmach muss man drei Tage an sich haben vorüberziehen lassen: dieses Land, diese Mörder, diese Justiz. Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre ist schematisch und straff organisiert. Die Broschüre: ›Wie werde ich in acht Tagen ein perfekter nationaler Mörder?‹ sollte nicht auf sich warten lassen. Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber, die Tat (stets von hinten), schludrige Untersuchung, faule Ausreden, ein paar Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen – »Weitermachen!«“

Und sein Schwur gilt heute unverändert:

„Wir wollen bis zum letzten Atemzuge dafür kämpfen, dass diese Brut nicht wieder hochkommt.“

1933 musste der Großmeister der Satire einsehen, dass seine Warnungen vergeblich waren: Von den Nazis ausgebürgert floh er ins Exil nach Schweden, wo er 1935, gezeichnet von Resignation und Krankheit, Selbstmord beging.

„Schlafen Sie gut, Herr Tucholsky“ ist ein Chanson, mit dem Dieter Hildebrandt und Werner Schneyder 1982 in ihrem Programm „Ende der Spielzeit“ an den großen Kollegen erinnerten – und auch die damalige Unterschätzung rechter Umtriebe:


https://www.youtube.com/watch?v=8DtP9iEAwUU

Kommentare

  1. Sehr gut beschrieben. Nur eine kleine Korrektur: Der Mörder hat den Tankstellen-Angestellten nicht hingerichtet (das würde ein Gerichtsurteil voraussetzen), sondern schlicht ermordet.

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    1. Lieber Peter,

      grundsätzlich hast du natürlich Recht. Es soll aber schon Hinrichtungen ohne Gerichtsurteil gegeben haben.
      Im Text ging es mir aber schlicht darum, eine Wortwiederholung zu vermeiden.

      Danke und liebe Grüße!
      Gerhard

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