Hier tanze ich, ich kann‘s nicht anders
„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Amen" (Martin Luther nach dem Protokoll des Reichstags zu Worms, 1521)
Was andere auch nicht anders können, beschrieb neulich eine Tanguera in einer Facebook-Gruppe, aus der man nicht zitieren darf:
„Bei meinem letzten Milongabesuch musste ich feststellen, dass die Herren, aber auch Damen, fast nur Figuren/Verzierungen getanzt haben. Eine Harmonie mit dem Partner, mit der Musik war nicht zu erkennen. Was ist nur los? Was lernen die Leute? Natürlich kann man Figuren lehren/lernen, aber es sollte doch Respekt da sein. Zum Partner und zur Musik. Ich sehe alleine tanzende Personen, die nach Musik der 30er Figuren der 90er alleine tanzen. Wie seht ihr es?“
Ich kann ihr das nachfühlen, schlimmer noch: Ich sehe auf Milongas viele Personen, die zu zweit zu einer 90 Jahre alten Musik Figuren von 2021 tanzen!
Auf Nachfrage berichtete die Dame, sie sei seit 20 Jahren beim Tango. Wow! Und da merkt sie erst jetzt, dass viele Tangopaare weitestgehend nur den monotonen Rhythmus heruntertraben - so sie den überhaupt treffen?
Bei solch deprimierenden Impressionen ist man für jeden kleinen Scherz dankbar:
„Du kannst tanzen wie vor 100 Jahren? Wow! Das möchte ich sehen!!!“
„Ja, ich muss noch die Kleidung meines Großvaters finden und das ausprobieren.“
Warum suchen? Diese Klamotten gibt es doch bei jedem Tangomode-Dealer!
Ansonsten ist der Jammer groß und wird vor allem von weiblicher Seite deutlich beschrieben:
„Das ist es, was ich beobachte, aber auch bei den Damen/Folgenden: Die meisten sind nämlich nur in ihren eigenen Bewegungen verhaftet und ziehen nur ihre salontauglichen Muster durch – bei jeder Partnerin und jeder Musik immer wieder dasselbe, das man schon nach 3 Minuten durchschaut. Immer das gleiche Muster, egal welche/r Musik/Partner/Milonga. Und dann sagen: Tolle TänzerInnen. Unverständnis.“
„Warum sind die Leute bereit, Tango zu tanzen? ..... Nur wenige für den Partner oder für die Verbindung zur Musik, viele für sich, für Figuren. Halt Egozentriker.“
„Das Grundproblem beim Stichwort ‚Figuren‘ ist, dass die ‚Herren‘ denken, dass das passieren soll, was sie wollen, und das ist zum einen nicht, worum es im Paartanz geht. Zum anderen wird es doppelt falsch, wenn diese Herren das, was sie wollen, auch noch erzwingen, wenn es nicht ‚von sich aus‘ passiert.“
Das erzeugt bei den Damen tiefgreifende Frustrationen:
„Leider freue ich mich nicht über Tänze, die keine Verbindung schaffen. Oft merke ich nach 30 Sekunden: das wird nix. 1 Tanda durchzuhalten ist dann eine Qual. Da fühle ich mich ausgenutzt wie nach einem One-Night-Date ohne richtigen Orgasmus.“
Da benötigt man halt den nötigen Erfahrungshintergrund… Aber auch da weiß eine Kollegin Rat:
„Für deinen Orgasmus bist du mit verantwortlich. Sag und zeige, was du brauchst und was dir gefällt.“
Womit man natürlich manche Männer nicht nur von der Tanzfläche vertreiben kann!
Nun wird es Zeit, das Verschulden anzusprechen:
„Stell doch mal die Frage: ‚Wofür sind die Leute bereit ihr Geld auszugeben?‘ Die wenigsten für Musikalität und Technik, die für die Schritte und Verbindung zum Partner wichtig sind.“
„In allgemeinen Tanzschulen unterrichtet man noch so wie vor 50 Jahren. Schritte für den Mann, für die Frau zeigen und nachtanzen lassen. Beim Tango ist es zu 95% auch so.“
50 Jahre halte ich für untertrieben. Die Tanzlehrer des Adels haben das schon locker 200 Jahre drauf. Aber sogar ein Vertreter dieser Zunft (also Tango, nicht Aristokratie) findet überraschenderweise, es liege am schlechten Unterricht. Großzügig teilt er mit uns sein umfangreiches Fachwissen:
„Ich kann beobachten, das 80% der Tänzer, in diesem Fall die Führenden, eine wichtige Voraussetzung beim Tango nicht kennen: sich nämlich während der Tanzphase zu 100% auf die Bewegungen des Partners/in zu konzentrieren, d.h. sich als Führender nur über seine Partnerin zu definieren. (…) Diese scheinbare Selbstverständlichkeit ist nur bei sehr guten Tänzern zu beobachten. Die Schritte des Führenden sind nämlich nur die Konsequenz aus dem Schrittskelett der Frau und nicht umgekehrt. Die Führenden sind in diesem Sinne auch Folgende. (…)
Kein Mensch, der auf vollen Tanzpisten tanzt, tanzt Figuren, nein, er tanzt Fragmente daraus. Und ein guter Tänzer verzahnt viele Fragmente zu einem fließenden Ablauf.“
Nun wird es hoch theoretisch:
„Aus 3 Schrittpositionen Vor-Kreuz, Rück-Kreuz und Openstep (der Offene Schritt) jeweils im Bezug zum Partner ergeben sich zueinander allein 36 verschiedene Schrittmöglichkeiten, innerhalb von mind. 100 möglichen Richtungswechseln. Aber als schriftliche Beschreibung ist es langweilig.“
Eben. Ein anderer Theoretiker formuliert einen fundamentalen Unterschied:
„Für mich persönlich zählt bei ‚Figuren‘ zunächst: Ist es Paartanz, oder nicht.“
Und schließlich sollten wir bei aller geistigen Hochleistung eines nicht vergessen:
„Es hat ja jeder von uns seine eigene Meinung übers Tangotanzen, wichtig ist, man fühlt sich wohl und hat einen schönen Abend.“
Darauf einen Dujardin! Aber im Ernst:
Was erwartet man eigentlich, wenn viele Jahre lang mit dem Marketing-Slogan gearbeitet wird, wirklich jeder und jede könne Tango lernen? Klar marschieren dann viele in Kurse und auf die Milongas, welche diese sehr spezielle Verbindung von Musik und Bewegung nicht empfinden. Die Entscheidungen für den Tango sind häufig Themaverfehlungen – da geht es oft um ein Bündel ganz anderer Motive.
Kurz gesagt: Sie können’s einfach nicht besser. Wenn man eine solche Strategie fährt, muss man sich mit dieser Tatsache abfinden. Da helfen auch hochmögende theoretische Bewegungslehren nicht viel. Also: Wenn’s trotzdem Spaß macht, ist das ja auch was.
Zwangsläufig passt sich dann der Tangounterricht an und unterrichtet lieber, was die Schüler auch ohne musikalisches Verständnis hinkriegen: feste Schrittfolgen. Die haben auch den Vorteil messbaren „Tanzerfolgs“ – schließlich „kann“ man dann was…
Es wäre allerdings nicht nötig, die Misere noch zu verschlimmern. Beispielsweise, indem im Tangounterricht immer noch der verblödete Satz verkündet wird, der Mann führe und die Frau habe zu folgen. Genau das zementiert viel von dem, was in den obigen Äußerungen beklagt wurde.
Und so lange man sich auf Musik beschränkt, die als Metronom zu missbrauchen ist, werden es viele überhaupt nicht hören, dass sie lediglich zu einem monotonen Rhythmus ihre mühsam gelernten Figuren abspulen. Schwierigere Tangoklänge könnten das Bewusstsein schärfen, genauer hinzuhören und seine Bewegungen anzupassen.
Mich hat das Wortspiel mit dem berühmten Luther-Zitat amüsiert – das Schicksal des Kirchenmannes könnte auch das eines Tango-Reformators sein. Als er vor den Wormser Reichstag gerufen wurde, nahm er irrtümlich an, man wolle mit ihm diskutieren. Weit gefehlt: Er sollte seinen Thesen abschwören.
Immerhin verschaffte sich Luther durch sein Auftreten so viel Respekt, dass man seine Verbrennung als Ketzer vertagte. Im Endeffekt wurde er aber dennoch für vogelfrei erklärt und musste von seinem Beschützer, Kurfürst Friedrich dem Weisen, auf der Wartburg versteckt werden. Und er übersetzte dort das Neue Testament. Ob er tatsächlich mit einem Tintenfass nach dem Deibel geworfen hat, ist umstritten. Als Autoren-Notwehr könnte ich es verstehen.
Hat Luther selber getanzt? Jedenfalls war er ein Freund der Musik:
„Musica ist eine halbe Disziplin und Zuchtmeisterin, so die Leute gelinder und sanftmütiger, sittsamer und vernünftiger macht."
Wenn es nach diesem Zitat geht, kann es Tango nicht gewesen sein…
Quellen: https://www.mdr.de/reformation500/martin-luther-hier-stehe-ich-refjahr-100.html
https://www.facebook.com/groups/214360532064758 (Post vom 12.9.21)
P.S. Wen der historische Zusammenhang interessiert:
https://www.youtube.com/watch?v=dqhGI8ZbuMs
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