Die Sitzenbleiberinnen

 

In der FB-Tangogruppe, aus der man nicht zitieren darf, schilderte eine Tanguera ein sattsam bekanntes Problem:   

„Ein Konzert, der Eintritt war daher nicht gerade wenig. Mindestens ein Frauenüberschuss von 20-30 Frauen! Daher kamen einige Damen nicht zum Tanzen, obwohl sie sehr gute Tänzerinnen sind!

Ich weiß, das Thema ist nicht neu.

Doch ich glaube, man muss Lösungen finden! Denn irgendwann tanzen entweder nur noch Anfängerinnen, oder alle Frauen müssen führen anfangen? Männer, ist das wirklich, was ihr wollt?“

Na ja, im Prinzip wohl schon… Dann hat man als Tänzer genügend Auswahl. Später legte die Fragerin noch nach:

„Doch ich wurde gestern nochmals, von einer Bekannten, auf diese Veranstaltung angesprochen. Die mir gesagt hat, es war, als wäre sie unsichtbar gewesen. Und Sie weiß, wie man auffordert!

Es war einfach eine äußerst unglückliche Veranstaltung, wo vielleicht zu viele Paare und zusätzlich noch Tänzerinnen von außerhalb anwesend waren. Die Männer waren laut Damen unaufforderbar!

Ich sehe auch die Zukunft für solche Veranstaltungen im Führen lernen! Glaube wir Frauen können uns da gegenseitig helfen, nicht umsonst 150 km zu fahren und rumzusitzen.

Mich hat die Situation einfach enttäuscht, weil ich die Damen, die nicht oder nur eine Tanda getanzt haben, kenne. Und das sind gute Tänzerinnen und tolle Frauen!“ 

Obwohl das Problem wirklich alles andere als neu ist, gab es dazu immerhin 83 Kommentare. Dabei wurde die Schuld durchaus nicht nur den Männern zugesprochen:

„Ich beobachte aber auch, dass sich (viele) Frauen kaum um männlichen Nachwuchs kümmern - weder neue Männer an den Tango heranführen noch schauen, dass sie einen Mann zur Milonga mitbringen, noch mit Anfängern tanzen wollen.“

„Wenn die Frauen mehr Geduld mit den anfangenden Männern hätten und auch auf Milongas das Gefühl vermittelten, gerne mit ihnen zu tanzen, dann würden mehr dabei bleiben.“

Selektieren scheint nicht nur eine männliche Domäne zu sein. So schreibt ein fühlbar angefressener Tanguero:

„Und die Frauen sortieren gnadenlos aus. Wie viele mich schon mitten im Lied, weil sie Durst hatten, Rückenschmerzen hatten oder einfach so, weil sie es gerade wollten, stehen ließen, ist schier unzählig. Gerade in Berlin findet man sie häufig, Meisterinnen in vermanschter Jogginghose und der tiefsten und gnadenlosesten Verachtung gegenüber dem Mann. Ich glaube, die gehen nur deshalb auf eine Milonga.“

Na ja, was soll schon in einer Stadt funktionieren, wo man nicht mal Wahlen ordentlich durchführen kann? 

Ob Frauen die führende Rolle leicht erlernen können bzw. dies auch sollten, blieb umstritten:

„Wenn man als Frau schon länger tanzt, ist es nicht so schwierig, führen zu lernen. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Ich habe nie einen Kurs für Leader besucht, sondern hier und da etwas abgeguckt und Tänzer gebeten, Schritte, die mir gefallen haben, zu zeigen. Gefühl, Haltung und Technik sind bei beiden Rollen gleich.“

Männer begegnen solchen Argumenten mit dem, was sie besser können – rechnen:

„Wenn z.B. 25% nur führen, 25% nur folgen und 50% beides tanzen, dann tanzen die Nur-Führenden mit der Hälfte der Beides-Tänzer (sind ja tendenziell die Erfahreneren), die andere Hälfte der Beides-Tänzer tanzt unter sich, und alle Nur-Folgenden kommen gar nicht zum Tanzen. Deshalb ist ‚Führen lernen - Problem gelöst‘ nur eine individuelle Lösung. An der Gesamtsituation ändert das nichts.“

Ich habe lange an dieser Textaufgabe herumgerechnet. Doch selbst Logarithmieren und das Ziehen der dritten Wurzel führten bei mir nicht zum Verständnis dieser höheren Mathematik. Aber mit der hatte ich es noch nie...

Nach fast 70 Wohnzimmer-Milongas kann ich aber sagen: Obwohl auch bei uns öfters Männermangel herrscht, sitzen weibliche Besucher in Pörnbach nie lange herum. Zum Glück gibt es fast immer mindestens drei Frauen, die beide Rollen beherrschen und auch als „Führende“ sehr begehrt sind. Und alle drei haben das nicht in Kursen gelernt, sondern durch Abschauen, Probieren und langjährige Tanzpraxis.

Um es satirisch zu formulieren: Um im Tango so zu führen wie die Mehrzahl der Männer, muss man als Frau nicht allzu viel üben.

Ich glaube auch nicht, dass man die Schuld an der Misere nur einem Geschlecht zuschieben kann. Nach meiner Erfahrung gibt es Milongas, auf denen arrogantes und asoziales Verhalten dominiert – und andere (oft kleinere) Veranstaltungen, wo der eigene Spaß, die rangordnungsmäßige Geltung nicht das oberste Ziel sind.

Vieles liegt hierbei in der Verantwortung der Veranstalter. Ich kenne Events, wo es dem Chef (oder der Chefin) nicht im Traum einfallen würde, mal mit einer Tanguera zu tanzen, die kontaktlos herumsitzt. Ebenso gibt es Milongas, auf denen die Organisatoren es für ihre Pflicht halten, in solchen Fällen einzugreifen. Und das gute oder schlechte Vorbild färbt auf die Besucher ab. Leider rennen die Frauen oft auf „Schnösel-Milongas“ in der irrigen Meinung, dass es die hohe Besucherzahl schon für sie richten würde. Tut es nicht.

Klar, unter Corona-Bedingungen ist es derzeit schwieriger: Wegen des Infektionsschutzes wollen halt viele nur mit ihrem festen Partner tanzen oder zumindest die Zahl der Wechsel begrenzen. Aber diese Einschränkungen gehen ja derzeit zurück und werden mittelfristig verschwinden.  

Jedenfalls ist Passivität im Tango generell eine schlechte Idee. In der obigen Gruppe gibt es einen bemerkenswerten Beitrag, in dem eine Tänzerin ihren Kolleginnen ins Stammbuch schreibt:

„Ich meine damit: Wenn man als Frau unzufrieden damit ist, zu viel zu sitzen auf Milongas, hilft es zum einen, die eigenen Erwartungen kritisch zu überdenken. Ist das, was ich mir erhoffe, unter den gegebenen Bedingungen der Tango Szene überhaupt realistisch? Zum anderen, und das ist noch viel wichtiger, die Frage: Was kann ich selbst dazu beitragen, dass sich die Situation ändert? Nur sitzen und auf eine Aufforderung zu warten scheint meist nicht zielführend zu sein. Also sollte man sich andere Strategien überlegen. Wichtig ist es meiner Erfahrung nach, die Tango Szene an sich auch unterstützen zu wollen, sprich Veranstalter von Milongas zu unterstützen, Hilfe anbieten, selbst mal Dinge zu organisieren, Fahrgemeinschaften und kleine Netzwerke zu bilden, sich einfach in die Szene einzubringen. (…) Ich verstehe mich mehr als Dienstleister am Tango und nicht so sehr als Konsument, der beglückt werden möchte.“

Und ich werde es noch hundertmal schreiben, da es der Wahrheitsfindung dient: Hört auf, anderen vorzuschreiben, wie sie aufzufordern haben! Neben dem Blickkontakt gibt es auch andere Möglichkeiten, die man ebenso freundlich und respektvoll handhaben kann. Bei uns in Pörnbach jedenfalls ist alles erlaubt, was nicht fordernd und übergriffig wirkt. Und, o Wunder, wir haben den Unterschied unseren Gästen noch nie erklären müssen! Die meisten Menschen können sich nämlich auf Tanzveranstaltungen von selber benehmen und müssen keine Nachhilfestunden bei Tango-Ideologen nehmen.

Leider gibt es noch zu wenige Veranstalter, welche diese liberale Einstellung öffentlich vertreten. Eines der wenigen guten Beispiele:  

„Wir schätzen die Vorteile der Tango-Etikette wie achtsames und rücksichtsvolles Tanzen, Beachten der Ronda usw. So manches andere sehen wir etwas lockerer. So ist bei uns z.B. neben dem Auffordern per Cabeceo auch ein nettes ‚Magst du tanzen?‘ kein Problem. Außerdem liegt uns im dritten Jahrtausend am Herzen, die Gewohnheiten rund ums Tanzen der heutigen Zeit anzupassen. Bei unseren Milongas fordern ganz offiziell Frauen und Männer auf.

https://www.tango-kaufbeuren.de/ueber-tango-luna

Fazit

Mit der Bereitschaft, sich von alten Schablonen zu trennen, könnte man dieses Problem durchaus lösen. Und aus meiner Berufserfahrung weiß ich: Am Sitzenbleiben ist nicht unbedingt die Schule schuld. Nicht mal der Lehrer.

P.S. Tango-Frauenpaare sind auf YouTube nicht leicht zu finden. Auf Deutsch versuchte ich es zunächst vergeblich, auf argentinisch war es kein Problem: „Tango entre Mujeres“!

https://www.youtube.com/watch?v=KXhEoM3GPaw

Quelle: https://www.facebook.com/groups/tangoforum (Post vom 25.9.21)

Kommentare

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