Ein Herr mit Hut wählt jetzt wieder SPD

 

„Denn wak bei die Sozis. (…) Ick werde wahrscheinlich diese Pachtei wähln – es is so ein beruhjendes Jefiehl. Man tut wat for de Revolutzjon, aber man weeß janz jenau: mit diese Pachtei kommt se nich. Und das is sehr wichtig fier einen selbständjen Jemieseladen!“

(Kurt Tucholsky: „Ein älterer, aber leicht besoffener Herr“, 1930)

https://tucholsky-gesellschaft.de/2017/09/24/ein-aelterer-aber-leicht-besoffener-herr/

Natürlich liegt es mir fern, den alten Berliner Tangokameraden Thomas Kröter mit der Figur in Tucholskys Satire zu vergleichen: den ziemlich schwer besoffenen Besitzer eines „selbständjen Jemieseladns“, der sich 1930 durch die Wahlveranstaltungen der Parteien säuft und schließlich in der Beliebigkeit sowie auf dem Boden landet:

„Der Reichstach muß uffjelöst wem, das Volk muß rejiern, denn alle Rechte jehn vom Volke aus. Na, un wenn eener ausjejang is, denn kommt a ja sobald nich wieda!“, sahre ick. „Wir brauchen eine Zoffjett-Republik mit ein unumschränkten Offsier an die Spitze“, sahre ick. „Und in diesen Sinne werk ick wähln.“ Und denn bin ick aust Fensta jefalln.

Im Gegensatz dazu war Kröter wohl stocknüchtern, als er gestern auf seinem Blog „Ein Herr mit Hut flaniert durch die Welt“ seine überraschende Wahlentscheidung veröffentlichte. Und er ist kein selbstständiger Kleinunternehmer, sondern war angestellter Journalist.

http://kroesflanaden.de/aktuelles/warum-mich-annalena-baerbock-an-guido-westerwelle-erinnert/

Doch zum Inhalt: Dass Kröter drei Bundestagswahlen hintereinander sein Kreuz bei der CDU machte, sei „ad personam“ Angela Merkel geschehen. Diese Geschäftsgrundlage entfalle nun. Vor allem auch angesichts des jetzigen, traditionellen Kurses der Partei:

„Kein neumodisches Klima-Getue mehr. Oder irgendwelche Liberalismen. Stammwählerpflege ist angesagt. Mit Recht, Ordnung und Anti-Kommunismus. Die Stammklientel, vor allem aber die innerparteiliche Anhängerschaft von Friedrich Merz, möchte sich gern vor den alten Feinden fürchten. Den Roten. Das ist viel kuscheliger angenehmer als die neue Angst vor der Niederlage.“

Die Neuauflage der „Rote Socken-Kampagne“ ist Kröter wohl besonders auf den Zeiger gegangen – und erst recht, dass Merkel sich daran beteiligte. Daher bedanke er sich bei ihr und Laschet, ihm die Rückkehr zu einer Partei ermöglicht zu haben, die er selbst in seiner Episode als „Salon-Kommunist“ die meiste Zeit gewählt habe: das „kleinere Übel“ SPD.

Derzeit scharten sich die Sozialdemokraten ja „in ungewohnter Disziplin um einen Mann, der auf mehreren Parteitagen und in einer Mitglieder-Befragung durchgefallen ist. Da schimmert im geschrumpften Links-Verein doch wieder die gute alte Volkspartei aus Willy Brandts Zeiten durch.“

Ich habe es in den letzten Jahren ziemlich schweigend hingenommen, dass die bundesdeutschen Medien sowie die sonstige gefühlte Intelligenzia gnadenlos auf der SPD herumgehackt haben. Auch auf Kröters Facebook-Seite fand sich damals viel Herablassendes. Klar, bei den parteiinternen Kämpfen der letzten Jahre war das zu erwarten – trotz der vielen sozialpolitischen Erfolge, welche die Sozis in der Großen Koalition durchgesetzt haben. Vom Mindestlohn bis zur Grundrente. Und die europaweite Besteuerung internationaler Großkonzerne.

Hat alles nichts genützt: Die neue Parteiführung werde bestimmt die GroKo schreddern und linksradikale Forderungen durchsetzen, hieß es vor fast zwei Jahren. Namen wie Esken und Kühnert wurden geradezu apokalyptisch beschworen. Nichts von all den Befürchtungen ist eingetreten.

Meine Frau kann bezeugen, dass ich manchmal Tobsuchtsanfälle vor dem Fernseher bekam, wenn wieder mal ein Journalist vom Nikolaus Blome-Format tapfer verkündete, die SPD habe Olaf Scholz ja nicht mal als Parteivorsitzenden haben wollen – und nun solle er dennoch Kanzler werden?

Vielleicht zur Nachholung ausgefallenen Sozialkunde-Unterrichts: Dass eine Partei (und zumal die SPD) radikalere Forderungen stellt als nachher in der Regierung verwirklicht werden können, ist der Normalfall. Und gegen die Jusos zu Willy Brandt-Zeiten sind die heutigen Parteilinken eine matte Veranstaltung.

Bei der Gelegenheit: Ich halte den verteufelten Kevin Kühnert für ein riesiges Nachwuchstalent. Wie er neulich bei Anne Will den CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak in unter zwei Minuten rhetorisch skelettierte, war großes Kino:

https://www.youtube.com/watch?v=aPplw2bwPn4

Dieter Hildebrandt sagte einmal, wenn Herbert Wehner im Bundestag sprach, habe er das Essen kalt werden lassen. Bei heutigen SPD-Größen mache er sich lieber etwas zu essen. Bleibt zu hoffen, dass zukünftig die Küche doch wieder mal kalt bleibt…

Und was die Niederlage bei der Urwahl der Parteivorsitzenden 2019 betrifft: Nicht Olaf Scholz hat die Stichwahl (mit immerhin gut 44 Prozent der Stimmen) verloren, sondern das Duo Scholz/Geywitz. Auch ich habe damals für Esken und Walter-Borjans gestimmt. Ich fand, Scholz war zu sehr in der Regierung verhaftet, die Partei brauchte eine eigenständige Führung, Nebenbei: Dass damals Karl Lauterbach und Nina Scheer mit knapp 15 Prozent abschmierten, hat man dem Gesundheitspolitiker nie vorgehalten – so nach dem Motto: Die SPD wollte ihn nicht mal als Vorsitzenden, und nun soll er uns aus der Pandemie führen?

In meinem ganzen Leben habe ich die Erfahrung gemacht: Der Quatsch, den manche SPD-Politiker verkündeten, wurde regelmäßig sowie mühelos von den Bürgerlichen unterboten.

https://de.wikipedia.org/wiki/Wahl_zum_SPD-Vorsitz_2019

Aber Kröter nennt seinen Artikel ja „Warum mich Annalena Baerbock an Guido Westerwelle erinnert“. Was er dazu schreibt, ist wirklich amüsant: Auch einer der bei Berliner Journalisten meistgehassten Politiker, Guido Westerwelle, habe sich ja mal eingebildet, seine FDP sei auf dem Weg zur Volkspartei. Und sei dabei knapp an der Katastrophe vorbeigesegelt.

Derzeit würden in ähnlicher Weise die Grünen entzaubert, von denen Kröter als „alter weißer Mann“ nicht „erzogen“ werden wolle. Dem kann ich mich, nicht nur wegen meines fast gleichen Alters, gerne anschließen: Allein der unsägliche Gender-Wahnsinn und die stalinistische Quoten-Durchsetzung schrecken mich nachhaltig ab – und das in einer Partei, welche einst von einem Macho namens Joschka Fischer in die Regierung geführt wurde. Mit dem derzeitigen Blödsinn dagegen hat man nicht nur die eigene Landesliste im Saarland vernichtet.

Leider verdrängt Kröter immer wieder die eigene satirische Begabung, die nur gelegentlich in solchen Formulierungen aufblitzt:

„Ich erinnere mich noch gut an einen alten feministischen Spruch: Gleichberechtigung ist erst dann erreicht, wenn eine Frau zum Zuge kommt, die genauso mittelmäßig ist wie ihr männlicher Konkurrent. Das bleibt richtig. Aber immer mehr Menschen denken offenbar darüber nach, ob der Mann in dem einstigen Traumpaar womöglich etwas weniger mittelmäßig ist als die Frau.“

Gut, aber wir Sozialdemokraten dürfen doch auch mal das Glück genießen, dass die Konkurrenten sich in jeder Hinsicht für das Zweitbeste entschieden haben. Auch da hat Kröter Recht: Ein ganzseitiges Interview in der „Bild am Sonntag“ zu verschmähen ist ebenso deppert wie die Exhumierung der Kommunistenfurcht.

Na, denn wern wa mal beede die „Sosjaldemokratn“ wähln! Mein Verhältnis zur SPD ist schon immer tiefenentspannt gewesen – vor allem, da ich seit meinem Beitritt 1980 an genau zwei parteiinternen Versammlungen teilgenommen habe. Und zu Beginn meiner Pensionierung fand ich es lustiger, mich mit den Reaktionären im Tango zu beschäftigen.

Was mich damals zu meiner Entscheidung für die SPD veranlasste? Vor allem der Opportunismus mancher Beamten-Kollegen, die in Bayern mit dem CSU-Parteibuch Karriere machen wollten. Und meine beiden Großväter, die es stets für ganz normalen Anstand hielten, diese Partei zu wählen. Ich fand es ebenfalls überzeugender, nicht diejenigen zu unterstützen, welche mir meine Beamten-Privilegien garantierten. Dass unser Stand beispielsweise immer noch nicht in die Sozialversicherung einzahlen muss, halte ich für skandalös.

Fest steht für mich jedenfalls: Es muss eine Partei geben, welche für Menschen einsteht, die sich nicht selber helfen können. Die in einem der reichsten Länder dieser Welt prekäre Arbeitsverhältnisse und überteuerte Mieten hinnehmen müssen. Dass in der SPD seit langer Zeit eher die Beamten und Großstadt-Intellektuellen den Ton angeben, war nicht so ganz die Gründer-Idee. Aber vielleicht wird es ja wieder.

Daher hat der „ältere, leicht besoffene Herr“ Tucholskys natürlich Recht, wenn er sagt:

„Un ick wer Sie mal wat sahrn: Uffjelöst wern wa doch… rejiert wern wa doch… Die Wahl is der Rummelplatz des kleinen Mannes!“

P.S. Wer diese glänzende Satire noch nicht kennt:

https://www.youtube.com/watch?v=Ke-hn1ES2cw&t=331s

Kommentare

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