Damit kann man arbeiten

 

Klaus Wendel scheint nun doch entschlossen zu sein, ein richtiges Tangoblog zu führen. Gestern veröffentlichte er einen neuen Artikel zu einem Thema, das mich schon lange beschäftigt: „Encuentros? Nicht schon wieder!“

Um es vorwegzunehmen: Sein Text ist sachlich, aber engagiert, kommt ohne persönliche Angriffe aus und bietet interessante, spannende Gedankengänge. Daher empfehle ich ihn gerne.

Blogger-Kollege Kröter verlinkte ihn zwar, findet allerdings:

schwere kost. keine witze. keine polemik. nur ausführliche sachliche argumentation. ich gesteh allerdings: wenn ich nicht an dem neuen blog grundsätzlich intetessiert wäre - ich hätt nicht bis zum ende durchgehalten. . .“

O je, und der Artikel enthält nicht mal ein Gimmick zum Ausschneiden und Zusammenkleben. Oder Urzeitkrebs-Eier zum Anzüchten. Echt schwach…

Im Ernst – mir gefällt bereits Wendels Ansatz: 

Ich möchte hier keinen verurteilen oder angreifen, weil er/sie Encuentros, Marathons oder Neo-Milongas oder anderes besucht. Im Gegenteil: Ich möchte erklären, warum ein näheres Verständnis aller Interessen vorteilhaft für alle sein kann.“

So sehe ich das auch – und werfe niemandem vor, dass er eine dieser Veranstaltungsarten bevorzugt. Man sollte aber auch niemanden heruntermachen, wenn für ihn das eine oder andere Format meilenweit von dem entfernt ist, was er sich vom Tango wünscht. Grob gelogen ist aber die Behauptung, auf Encuentros würde sich die tänzerische Elite tummeln. Der Autor hat einige Filmbeispiele veröffentlicht, bei denen ich mit ihm fühle, wenn er schreibt:

Wenn ich zu Beginn meiner Tangozeit diese Videos als Vorbild für Tango gesehen hätte, wäre ich heute kein Tangotänzer.“

Ebenfalls ganz nah beieinander sind Wendel und ich, wenn er sich über die „Monokultur der Musik“ auslässt. Auf vielen traditionellen Milongas vermisst er musikalische Vielfalt – ebenso auf Neo- und Nontango-Events. Das ausschließliche Beharren auf EdO-Aufnahmen schade der Entwicklung des Tango. Dass sich allerdings musikalisch nach der EdO-Zeit zu wenig für Tanzende getan habe, stimmt leider überhaupt nicht. Da fehlt ihm vielleicht ein wenig die Erfahrung in diesem Genre. 

Dass Wendel die „Einseitigkeit der Tanzkenntnisse in der Tangoszene“ bemängelt, kann ich nur unterstützen. Es würde sich wirklich positiv auswirken, wenn man – wie in Südamerika – noch einige andere Tänze drauf hätte.  Damit könnte ich dienen…

Fazit: Die deutsche Tangoszene verschlafe jede Entwicklung in Buenos Aires und berufe sich trotzdem auf das Weltkulturerbe. Man sei „entwicklungsfaul“  geworden – ein Vorwurf, den er auch auf sich selbst bezieht. Das ehrt ihn.

Encuentros, auch Marathons, kann man nicht einfach besuchen, sondern muss sich einer Vorauswahl unter diversen Kriterien unterziehen. Wendel schmeckt das ebenso wenig wie mir, und daher waren wir wohl beide noch nie Gast auf derartigen Veranstaltungen (bzw. haben uns nie um eine Teilnahme beworben). Wir wollen uns beide nicht „einer Kontrolle oder Beurteilung eines anderen Menschen aussetzen, der mich nicht kennt.“

Dabei habe ich mit der Vorauswahl von Gästen durchaus Erfahrungen: Bei unseren Wohnzimmer-Milongas konnte auch nicht einfach jede(r) kommen, da wir schlicht zu wenig Platz haben. Der Unterschied zu Encuentros ist aber: Kein Gast muss sich per „ideologischem Schwur“ zu unserer Art von Milonga bekennen oder irgendwelche Tanzspuren oder andere Rituale einhalten. Erwartet wird nur ein halbwegs freundliches soziales Verhalten – wie bei jeder Party. Das hat bislang – mit einer einzigen Ausnahme – stets geklappt.

Dass Milongas langweilig werden, wenn man immer wieder dieselben Leute wiedersehen „muss“, wie Wendel schreibt, ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Er schlägt vor, Milongaveranstalter sollten sich besser vernetzen, „um Publikumsaustausch zu organisieren“. Klingt irgendwie nach „Tango-Klassenausflug“. Nun, warum nicht… Wir hatten halt in der Hochphase unserer Tangosucht einen Aktionsradius von zirka 150 Kilometern. Zudem scheint mir bei der  Encuentro-Szene der Personal-Austausch auch eher begrenzt, da meist dieselben Menschen sich an anderen Orten treffen.

Bei den ganzen Códigos ist Wendel zwiegespalten: Einerseits spricht er von einem „strengen Ritus (…) mit einer Genauigkeit, die für mich befremdlich wirkt“ und einer „synthetischen Tangowelt“. Auf der anderen Seite kann er die Sehnsucht, entspannt zu tanzen, durchaus nachvollziehen – angesichts von „Freigeistern, die diese Vorteile nicht erkennen wollen und von der Wildheit des Tangos – auch auf gefüllten Tangopisten – fantasieren“.

In meiner Sicht ist der Tango angesichts seiner Texte, seiner oft Zerrissenheit und Verzweiflung signalisierenden Musik (jedenfalls in den besseren Interpretationen) alles andere als nett und gemütlich. Und einen jubelnden Vals oder eine fetzige Milonga kann man nicht in der mentalen Fußgängerzone tanzen. Ich fürchte, Wendel leidet da unter traumatischen Erlebnissen aus seiner Berliner Frühzeit, wo ihn Turnübungen zu Piazzolla-Stücken nachhaltig geschädigt haben.

Da ich viele hundert Male „Freigeister-Milongas“ besuchte, darf ich ihm versichern: Alles halb so schlimm. In Pörnbach haben wir mit bis zu 9 Paaren auf 20 Quadratmetern zu Piazzolla-Stücken und anderem wildem Zeug getanzt – mit viel Spaß und dennoch Rücksicht. Nicht mal unser alter Röhrenfernseher wurde durch einen herzhaften Boleo entsorgt, wie ich es immer leise hoffte. Nein, er starb – ohne einen einzigen Tango nuevo-Akkord – eines natürlichen Todes… Unsere Gäste konnten halt navigieren (oder lernten es ganz schnell). Diese Fertigkeit entsteht eben nicht durch jahrelanges Hinterherlatschen in einer „geordneten“ Ronda.

Im Endeffekt ringt sich Wendel doch zur Erkenntnis durch, dass Vielfalt besser ist als Einfalt:

„Denn eine Milonga ist eine Symbiose aus allem: Aus milonga-unkundigen Anfängerpaaren, rücksichtslosen ‚Freitänzern‘, aus allen Altersgruppen, allen Stilen und anderen Typen. Wenn man diese ganzen Typen ausschließt, nimmt man der gesamten Tangoszene Entwicklungschancen, und beides, für sich isoliert, kann nicht bestehen bleiben. Monokultur ist immer ein Entwicklungsstop; nicht nur in der Natur.“

Ich habe das in meinem Tangobuch so ausgedrückt: „Überlebenschancen hat vor allem das Lebendige.“

Ich mag hier nicht auf alle Aspekte in Wendels Text eingehen – er ist es wert, im Original gelesen zu werden. Vor allem, weil er jede Menge Dialektik bietet: Da ringt ein durchaus konservativer, altgedienter und erfahrener Tänzer mit der Langeweile im Tango-Museum – und der Tatsache, dass ihm manche Museumswärter zunehmend auf den Geist gehen. Seinem Schlussappell kann ich mich nur anschließen:  

„Spaltung entsteht erst durch Unverständnis und durch Vorurteile. Um diese Diskussion kommen wir in der Tangoszene nicht herum. Hören wir Kritikern lieber zu und nehmen ihre Kritikpunkte ernst und grenzen wir sie bitte nicht nur auf Grund Ihrer Persönlichkeit aus. Das ist nämlich Schulhofdenken: ‚Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!‘“ 

Ich darf noch hinzufügen: Tango ist von seiner Entstehung her der „Tanz der Schmuddelkinder“. Dass es immer wieder Versuche eines bramsigen Großbürgertums gab, ihn zu zähmen und zu annektieren, ist nicht seine einzige Tragik.

Auf den Schulhof gehören auch die momentanen Versuche, Meinungsverschiedenheiten wieder mal zu personalisieren: „Wenn das dein Freund ist, gehörst du nicht mehr zu unserer Bande!“ Ich stelle dazu fest: Der Tango wird nicht besser durch die ewigen Diskussionen, wer wen wie lieb hat. Sondern durch Debatten, die sachlich, aber auch gerne pointiert, ironisch und satirisch sein dürfen. Aber mit dem Ziel, dass die besseren Argumente gewinnen und nicht die übelsten Pöbeleien.

Ich war übrigens einer von denen, die Klaus Wendel geraten haben, mit einem Blog zu beginnen. Seine Erfahrungen, gerade aus den „frühen Tangozeiten“ haben mich stets interessiert. Damit kann man arbeiten.

Der Titel seines Artikels „Encuentros? Nicht schon wieder!“ ist sicher nicht so zu verstehen, es dürfe nicht schon wieder solche Veranstaltungen geben, sondern eher als Selbstironie: Oh nein, schon wieder schreibt einer über dieses Thema!  

Ich bin da anderer Meinung: Wenn jemandem etwas Neues einfällt, darf er gerne alte Themen behandeln. Ich finde, das ist Klaus Wendel gelungen. Bitte mehr davon!   

Hier der Original-Text:

https://www.tangocompas.co/encuentros-nicht-schon-wieder/

Und falls ein älterer Text (von 2014) von mir zum Thema gewünscht ist:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2014/01/encuentros-heimliche-begegnungen-der.html

Kommentare

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