Von der Rückerstattung der Grundrechte

 

Ich staune immer wieder, wie gerade zu Corona-Zeiten ziemlich platte Textbausteine die Besitzer wechseln: Egal, ob Politiker, Journalisten oder Querdenker – sie alle benutzen erstaunlich gleichförmige Phrasen, die nur eines nicht sind: durchdacht.

So hören wir derzeit in den Nachrichtensendungen alle paar Minuten einen Spruch, bei dem ich weinend unter den Teppich kriechen könnte: Die Grundrechte – so die einhellige Meinung – müssten nun endlich den Bürgern zurückgegeben werden. Je nach Gesinnung alle und sofort oder langsam und nur an „Privilegierte“ – heute nicht mehr auserwählt durch Adel oder Umsatz, sondern anhand von Impfung oder durchgemachter Virusinfektion.

Mein germanistischer Bullshit-Detektor schlägt schon Alarm beim Begriff „zurückgeben“: Ah so, wer hatte sie dann bisher? Gibt es Leute, die Grundrechte massenhaft horten – vielleicht als Finanzanlage für schlechtere Zeiten?

Weiterhin fürchte ich, die Produzenten solcherlei Akustik-Mülls haben meist nur eine sehr ungefähre bis gar keine Ahnung, was in unserer Verfassung als „Grundrecht“ gilt. Ich habe für meine Leserinnen und Leser einmal nachgeschaut:

Die Grundrechte finden sich zunächst einmal im gleichnamigen 1. Abschnitt unserer Verfassung in den Artikeln 1-19. Als „grundrechtsgleiche Rechte“ gelten zusätzlich die Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104. Diese Rechte verpflichten einzig den Staat und berechtigen den privaten Bürger.

Dann schauen wir mal ins Detail: Um welche Rechte geht es eigentlich?

Über allem steht natürlich die Unantastbarkeit der Menschenwürde nach Artikel 1. Weniger bekannt ist sein 3. Absatz: Unser Grundgesetz bindet nämlich – und das unterscheidet es von vielen Verfassungen dieser Welt – Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Diese Rechte sind also einklagbar und nicht nur vage Staatszielbestimmungen!

Artikel 2 garantiert, in den Schranken der Verfassung, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, allerdings ebenso das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Bereits hier wird – im aktuellen Fall die Konkurrenz dieser Rechte ersichtlich: Wer also die Kontaktbestimmungen ignoriert, entfaltet sich zwar frei, gefährdet aber das physische Wohl anderer!

In Artikel 3 sind die Gleichheitsgrundsätze verankert, in Artikel 4 die Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Artikel 5 garantiert die Meinungs- und Pressefreiheit sowie die der Kunst und Wissenschaft. In einer äußerst liberalen Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht diese Freiheiten fast stets sehr weitreichend interpretiert. Allerdings schränkt Artikel 18 diese ein, wenn sie zum Kampf gegen die verfassungsmäßige Ordnung verwendet werden. (Eine Bestimmung, die leider noch nie verwendet wurde!)

Artikel 6 behandelt den besonderen Schutz von Ehe und Familie, das Erziehungsrecht und die Erziehungspflicht (!) der Eltern, schützt besonders die Mütter und stellt uneheliche Kinder den ehelichen gleich.

Artikel 7 regelt die staatliche Schulaufsicht und die Erteilung von Religionsunterricht sowie die Errichtung privater Schulen.

Artikel 8 schützt die Versammlungsfreiheit, Artikel 9 die Vereinigungsfreiheit – insbesondere die von Berufsverbänden und Gewerkschaften, Artikel 10 das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis.

Im Artikel 11 wird für Deutsche die Freizügigkeit innerhalb des Bundesgebietes geschützt. Einschränkungen zum Beispiel bei Seuchengefahr werden extra erwähnt.

Artikel 12 enthält die Freiheit der Berufswahl sowie das Verbot von Zwangsarbeit.

Artikel 13 behandelt die Unverletzlichkeit der Wohnung und regelt Ausnahmen davon.

Artikel 14 und 15 schützen das Eigentum und Erbrecht, stellen aber auch dessen Sozialpflichtigkeit fest und regeln Vergesellschaftungen und Enteignungen.

Artikel 16 schützt vor Ausbürgerung und Abschiebung, Artikel 16 a gewährt das Asylrecht.

Artikel 17 garantiert das Petitionsrecht.

Artikel 19 legt fest, dass Grundrechte in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden dürfen und stellt den Rechtsweg gegen staatliche Entscheidungen frei. Allerdings gilt – bis auf die Menschenwürde – praktisch kein Grundrecht uneingeschränkt. Die Begrenzungen finden sich im Text selber oder in einem „Gesetzesvorbehalt“.

Artikel 20 garantiert das demokratische Staatsprinzip, insbesondere das Wahlrecht und die Gewaltenteilung. Er gewährt ein Widerstandsrecht gegen alle, welche die verfassungsmäßige Ordnung beseitigen wollen.

Artikel 33 stellt gleiche staatbürgerliche Rechte und Pflichten für alle Deutschen fest und regelt den Zugang zum Öffentlichen Dienst.

Artikel 38 legt fest, dass die Abgeordneten des Bundestags in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl ermittelt werden.

Artikel 101 schützt vor Ausnahmegerichten. Keiner darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden.

Artikel 103 garantiert jedem rechtliches Gehör vor Gericht und verbietet Bestrafungen ohne gesetzliche Grundlage.

Artikel 104 regelt den Freiheitsentzug, der grundsätzlich nur von einem Richter angeordnet werden darf. Er verbietet körperliche oder seelische Misshandlungen von Festgenommenen.

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Grundrechte_(Deutschland)

Fazit

Ich habe einmal alle Grundrechte rot markiert, die wegen der Corona-Pandemie zeitweise eingeschränkt wurden. Man sieht wohl auf den ersten Blick: Das Geschwafel, „die Grundrechte“ seien reduziert oder gar aufgehoben worden, ist schlicht grenzenlos doof. Im Gegenteil sind nur wenige Rechte betroffen, bei denen es halt die Infektionsgefahr gebot. Und auch die wurden nicht zur Gänze beseitigt.

Daher war ich mir ziemlich sicher: Das Bundesverfassungsgericht würde die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes nicht im Eilverfahren stornieren. Dazu langte es vorn und hinten nicht – auch wenn selbst viele Politiker dies vollmundig vorhersagten und beantragten.

Wenn man eine Diktatur errichten will, beseitigt man erstmal die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit. Man jagt widerspenstige Journalisten aus den Redaktionen und Kabarettisten von der Bühne. Die Gewaltenteilung wird aufgehoben und alles der Exekutive unterstellt. Man storniert den Richtervorbehalt, damit man einsperren kann, wen man will. So geht Diktatur.

Das heutige Datum erinnert an die Kapitulation der deutschen Wehrmacht und somit das Ende der Naziherrschaft 1945. Auf den Tag genau 4 Jahre später beschloss der Parlamentarische Rat das Grundgesetz. Da diesem Gremium exakt je 27 Vertreter der Union und der SPD angehörten und somit die Mehrheit bildeten, war es sozusagen das Produkt einer ersten Großen Koalition. Das hat dem Gesetzeswerk gutgetan.

Wenn man sich den Wertekatalog der Grundrechte durchliest, erkennt man, dass er ein einziges „Nie wieder!“ ausdrückt. Niemals mehr sollte es einem Regime gelingen, Bürgern nach Belieben Freiheitsrechte und Würde zu rauben, sie aus der Gesellschaft zu jagen, zu benachteiligen, sie wegen ihrer Gesinnung, Rasse oder Religion ins Gefängnis oder Lager zu verfrachten, sie zu foltern oder gar umzubringen. Ziel war die Erhaltung der Würde jedes Einzelnen und nicht die Staatsraison.

„Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“ – so der SPD-Fraktionsvorsitzende Otto Wels in seiner historischen Rede am 23. März 1933 mit Blick auf die Nationalsozialisten. In der neuen Bundesrepublik sollten alle drei garantiert sein: Freiheit, Leben und Menschenwürde. http://spd-garath-ost.de/Rede_von_Otto_Wels_zur_Ablehnung_des_Ermachtigungsgesetzes.pdf

Daran gemessen erscheint das heutige Gedöns um die „Grundrechte“ geradezu lächerlich. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten die Nazi-Gräueltaten im Blick und nicht die Frage, ab wann man wieder in den Urlaub fliegen, ins Fitnessstudio gehen oder eine Kneipe besuchen darf.

Wir dürfen stolz auf unser Grundgesetz sein. Es wurde zum Exportschlager – zahlreiche Staaten wie Spanien, Griechenland und Südkorea haben es zu großen Teilen übernommen.

Wir sollten es nur gelegentlich mal lesen.

P.S. Über mein anderes Lieblingswort aus der Schreckenskammer der deutschen Semantik wollte ich ebenfalls berichten. Ich fürchte nur, Thomas Kröter würde es zu lang werden.

Umso mehr freut es mich, dass Hasi, der ständige Mitarbeiter meiner Illustratorin Manuela Bößel, hilfreich eingesprungen ist. Er war bereit, per Verkleidung die Bundesnotbremse darzustellen:
Bundesnotbremse * www.tangofish.de

Kommentare

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