Qualität und Kommunikation im Tango

 

Der Artikel von Christian Stoll, den ich vorgestern besprochen habe, enthält eine Argumentation, die mir sehr zu denken gab. Sie bezieht sich darauf, dass der Verein proTango sich als „Interessenvertretung der Tango-Professionals“ sieht: 

Profis, so der Autor, trügen zur Förderung und Verbreitung von Kultur bei, wenn sie gut seien. Um die schlechten auszusortieren, brauche es aber Kritik. Diese fehle in der Tangoszene ziemlich umfassend.

Ich möchte einen Schritt zuvor beginnen. Von einem Profi erwartet man in vielen Bereichen, dass er eine reglementierte Ausbildung und einen – möglichst staatlich anerkannten – Abschluss vorweisen kann. Also einen Mindeststandard erfüllt, welcher die Gesellschaft vor Neppern und Dilettanten schützt.

Kabarettistisch formuliert: Wenn man die Dienste eines Arztes oder Lehrers benötigt, so mag sich dieser als Depp erweisen, aber immerhin musste er ein Studium und ein bis zwei Staatsexamina absolvieren. Ein Handwerker kann im Einzelfall ein Depp sein, aber er hat meist eine mehrjährige Ausbildung sowie einen Gesellen- oder Meisterbrief. Bei einem Tangolehrer besteht die Gefahr, dass er keine Ausbildung und keinen Abschluss hat, sondern nur ein Depp ist.

Ich schreibe es gerne noch hundertmal, weil es der Wahrheitsfindung dient: Tanzlehrer, natürlich auch Tangolehrer, ist keine geschützte Berufsbezeichnung – ebenso übrigens wie Zauberkünstler. Jeder, der es möchte, kann sich so nennen, sich wahlweise ein Tanzpaar oder ein Karnickel im Zylinder auf die Visitenkarten drucken lassen.

Ersatzweise wird dann auf Webseiten über argentinische Lehrerpaare schwadroniert, bei denen man mal ein paar Privatstunden hatte – oder es müssen mangels Masse spanische Fantasiediplome im Fileteado-Stil her.

Was mich am aber am meisten fuchst, ist die Hochnäsigkeit, mit der man in der Szene über Standardtänzer herzieht. Immerhin hat es der Allgemeine Deutsche Tanzlehrerverband (ADTV – er besteht schon seit 1922) geschafft, eine verbandsinterne Tanzlehrerausbildung zu etablieren. Sie umfasst in drei Jahren über 1000 Stunden, während diverse private Lehrerseminare im Tango in der Regel nicht viel über 100 Stunden dauern. Fast 100 Jahre Verbandsarbeit können so schlecht nicht gewesen sein.       

http://milongafuehrer.blogspot.com/2016/02/lieber-die-puppen-tanzen-lassen.html

Nun ist es ja nicht so, dass es im Tanz keine staatlich anerkannten Ausbildungen gäbe. Verschiedene Hochschulen bieten beispielsweise Bachelor oder Master-Studiengänge zur Tanzpädagogik an. Ich habe noch von keiner Tangolehrkraft gehört, dass sie über einen solchen Abschluss verfüge.

https://de.wikipedia.org/wiki/Tanzp%C3%A4dagogik 

Man könnte auch, wenn man Tangoreisen veranstaltet, eine Ausbildung als Tourismuskaufmann/-frau oder Kaufmann/-frau für Tourismus und Freizeit absolvieren – oder umgekehrt: Solche Events nur anbieten, wenn man das gelernt hat.

https://de.wikipedia.org/wiki/Reiseverkehrskaufmann

https://de.wikipedia.org/wiki/Kaufmann_f%C3%BCr_Tourismus_und_Freizeit

Milongaveranstalter würden vielleicht weniger oft Pleite machen, wenn sie Veranstaltungskaufmann/-frau wären:

https://de.wikipedia.org/wiki/Veranstaltungskaufmann

DJs würden mich mehr überzeugen, wenn sie ein Musikstudium oder wenigstens die professionelle Beherrschung eines Instruments (gemeint ist nicht der Mac auf dem Pult) vorweisen könnten. Oder zumindest staatlich geprüfte Musiklehrer wären. In der ehemaligen DDR mussten „Schallplatten-Unterhalter“ wenigstens einen Eignungstest und einen einjährigen speziellen Grundlehrgang mit anschließender staatlicher Prüfung absolvieren:

https://de.wikipedia.org/wiki/DJ#DJs_in_der_DDR 

In der deutschsprachigen Tangoszene dürften solche Abschlüsse sehr selten sein – lieber wurstelt man sich nach der Joschka Fischer-Devise „Avanti Dilettanti“ durch. Das wäre nicht schlimm, wenn man dann nicht noch die Chuzpe hätte, sich „Tango argentino Professionals“ zu nennen, deren wichtigstes Merkmal es offenbar ist, Einkünfte zu fordern – ob sie diese verdienen oder nicht. Bekanntlich bin ich ein Freund des höheren Blödsinns – aber irgendwo muss Schluss sein!

Natürlich geht der Tango nicht zugrunde, wenn den Akteuren solche Ausbildungen fehlen. Über viele Jahrzehnte war er ein Tanz, der in den Hinterhöfen und nicht in Tanzschulen weitergegeben wurde. Aber dann sollte man das Gedöns mit den „Profis“ lassen und einen Verband für alle gründen, die sich dem Tango verschrieben haben. 

Wie gesagt: Es gibt im Tango keine zertifizierten Ausbildungsgänge. In Kunst und Kultur ist das nicht selten. Der Kabarettist Werner Schneyder sagte einmal: „In der Wirtschaft gehen die Firmen auseinander, in der Kultur die Meinungen.“ Man kann in diesem Bereich nicht ständig mit Wertungen wie „richtig“ oder „falsch“ operieren. Genau das ist aber im Tango üblich: Autoritäten, die ihre überschaubare Ausbildung mit Gottähnlichkeit überspielen, verkaufen gerne ihren persönlichen Stil als allgemeingültig. Andere Tanzweisen oder Musikgeschmäcker werden mit der Wucht der Expertise als schwere Glaubensabweichung gebrandmarkt.

Wie Christian Stoll in seinem Artikel treffend darstellt, ist das genau der Nährboden, auf dem sich nicht Qualität durchsetzt, sondern Lautstärke und Impertinenz. Widerspruch und Kritik könnten das verhindern – und zwar nicht nur von wenigen Fachleuten, sondern vor allem auch von den ganz normalen „Tangokunden“. 

Ich halte dieses vermuckschte Meinungsklima, in dem Widerspruch Kriege oder zumindest Verachtung auslöst, für das größte Hindernis der Weiterentwicklung im Tango. In den letzten Jahren waren es nur ganz wenige, welche in der Szene ihre Beliebtheit riskierten und Fraktur schrieben. Beispielsweise sprach der Münchner DJ Jochen Lüders von „BABS (Buenos Aires Bullshit)“, mit dem viele Tangolehrkräfte alles begründeten. Einen häufigen Unterrichtsstil beschrieb er so:   

„Eine beliebte Methode ist, das Neue zu demonstrieren, aber NICHTS zu erklären, sondern die Schüler erstmal selber rumwurschteln zu lassen. Erst nach einiger Zeit kommen dann gnädigerweise die ersten Erläuterungen und Tipps. Zur Erinnerung, es geht hier um Anfänger-Unterricht. (…)

Wie kaum etwas anderes hat mich dieses frustrierende Rumprobieren genervt und zum Wechsel des Studios motiviert. Aus psychologischer Perspektive wird natürlich schnell klar, warum diese Methode bei Lehrern so beliebt ist. Nirgends sonst wird das Könnens- und damit Abhängigkeits- und Machtgefälle zwischen Lehrer und Schüler so deutlich wie hier. Der Schüler muss immer wieder erkennen, wie unfähig er ist, wie hilflos er rummurkst und wie abhängig er vom Lehrer ist.“

https://jochenlueders.de/?p=14477

Weil auch das der Ehrlichkeit und dem freien Meinungsaustausch dient, werde ich dazu noch viele Satiren schreiben – bis sich etwas ändert und sich so endlich im Tango die Spreu vom Weizen trennt.

Etliche Interessierte glaubten ja, mein „Milongaführer“ sei eine Auflistung und Bewertung von mir bekannten Tangoveranstaltungen. Vielleicht hätte ich vor mehr als zehn Jahren wirklich so ein Buch schreiben sollen – und zwar unter Nennung von Ross und Reiter. Es hätte mir möglicherweise, wie der „Stiftung Warentest“, etliche Unterlassungsklagen eingebracht – werbetechnisch gar nicht ungünstig. Eine häufige Bewertung von Milongas hätte dann etwa so gelautet:

„Nehmen Sie es nicht persönlich, wenn der Veranstalter Sie nicht einmal beim Kassieren des Eintrittspreises anguckt, während er Promis mit Auerhahn-Balzlauten um den Hals fällt! Und grämen Sie sich nicht, falls Sie als ältere Singlefrau den ganzen Abend sitzen bleiben. Zu dem blutleeren Gesäusel, für das eine regungslose Figur hinter dem Laptop unverantwortlich zeichnet, hätten Sie eh nicht tanzen mögen

Gesamtwertung: ein teures Mineralwasser…“

Wir waren viel zu rücksichtsvoll. Welch ein Spaß wäre es gewesen, einen abgehobenen Milonga-Organisator mal ganz laut und öffentlich zu fragen, warum er sich nicht um seine Gäste kümmere und ob es ihm egal sei, dass manche stundenlang tanzlos herumsäßen! Und dass ich darüber morgen in meinem Blog berichten werde. Mist – den habe ich erst 2013 angefangen! Viel zu spät…

Der Verein proTango schweigt zu all der Kritik, welche ja erfreulicherweise nicht nur von meiner Seite geäußert wird. Lerneffekte lassen wohl noch auf sich warten. Ich sage aber voraus: Man wird sich um diese Fragen nicht endlos herumdrücken können. Eine Kommunikation auf Augenhöhe ist im Tango unbedingt nötig – und nicht eine künstliche Trennung in „Profis“ und Fußvolk.   

Und da mir entgegengehalten wird, die Mehrheit im Tango wünsche sich eben, wie Christian Stoll es so schön vergleicht, tänzerisch und musikalisch einen Golfplatz mit einem Meter großen Löchern: Man sollte sich auch einmal überlegen, die zurückzuholen, die vor zehn und mehr Jahren dem Tango den Rücken gekehrt haben, weil sie diese Melange aus Abgehobenheit und Langeweile nicht mehr aushielten. Viele von denen konnten richtig gut tanzen. Dann würden sich auch Mehrheiten ändern.

Wir haben neulich im kleinen Wohnzimmer-Kreis auf einen der ältesten Tangos getanzt: El Choclo. Gespielt allerdings vom legendären Sexteto Mayor. Danach sahen wir uns bestätigt in der Idee: Ja, so kann man Tradition und Moderne verbinden. Und diese Aufnahme ist schon 30 Jahre alt! 

Tänzerisch haben dabei die Golflöcher allerdings Normalgröße…


https://www.youtube.com/watch?v=J_88rtUbxOw

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