Freigeist contra „Tangoprofis“

 

Als mir das „Tango Radio Babylon“ neulich einen Beitrag zu meiner Kritik am Verein „proTango“ anbot und ich zu dem Zweck mit Christian Stoll telefonierte, war mir völlig entfallen, dass dieser auch ein Blog betreibt – namens „lies feddich“. Und dass ich einen seiner Beiträge letztes Jahr schon einmal angesprochen hatte:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2020/09/lachen-im-corona-keller.html

Gestern erhielt ich jedoch die Nachricht, Christian habe einen Artikel zum Thema verfasst: „pro Tango e.V. Was soll das?“ Diese berechtigte Frage machte mich sofort neugierig. 

Um es gleich zu sagen: Ich bin dem Autor höchst dankbar, dass endlich jemand auf den Kern dessen eingeht, was ich seit Wochen moniere. Daher möchte ich seinen Text hier vorstellen:

Es sei immer lobenswert, wenn Leute sich dazu aufrafften, etwas für die Kultur zu tun. Als langjähriger Tänzer fühle Stoll sogar einen „Beschützerinstinkt“ für die des Tango.

„Der Verein ist die bundesweite Vertretung der Tango Argentino Professionals“: Diese Selbstdarstellung allerdings reiche für das Guinness-Buch der Rekorde, da er so „der einzige Verein weltweit“ sei, „der etwas vertritt, was es gar nicht gibt“.

Einen noch peinlicheren „Brüller“ nennt der Autor diese Aussage: „Der Verein bezweckt die Förderung des Kulturguts ‚Argentinischer Tango‘“. Schließlich stamme der Tango ebenso aus Uruguay: „Eine derart fehlende Sachkenntnis von Vorstand und Mitgliedern, die die ‚Professionals‘ europaweit vertreten wollen, ist erschreckend und löst verständlicherweise Unbehagen aus.“ 

Was mich noch mehr stört: Die UNESCO hat nicht den „Tango argentino“ geadelt, sondern schlicht den Tango – sicherlich vom Rio de la Plata stammend, aber eben auch mit all seinen Entwicklungen und nationalen Ausprägungen.  

https://ich.unesco.org/en/RL/tango-00258 

Profis, so Christian Stoll, trügen zur Förderung und Verbreitung der Kultur bei, wenn sie gut seien. „Im Tango verhält es sich anders. Talent ist Auslegungssache, Ausbildung auch. Schlechte Professionals bleiben unentdeckt. Es fehlen kritische Instanzen ebenso wie kritisches Publikum, das zu ja-sagenden Lorenz´schen Graugansküken mutiert, sobald es die Räumlichkeiten einer Milonga betritt. In dieser Atmosphäre von ‚Wir haben uns alle lieb‘ bleibt schlechte Kultur unentdeckt, über Jahrzehnte. Kultur kann nur gedeihen, wo es Kritik gibt.“ 

Wie ich schon öfters betonte: Gegenpositionen und Mängelanzeigen sind heute in fast allen Lebensbereichen normal – und in der Kultur sowieso. Im Tango dagegen gilt Kritik als Häresie. Wer sie äußert, wird beschimpft oder zumindest ignoriert und an den Rand der Szene gedrückt. 

Das Einzige, was alle im Verein vertretenen „Kulturschaffenden“ verbinde, sei, „mit der Tangokultur Geld zu verdienen“. Das sei nichts Verwerfliches. Dennoch unterscheidet der Autor Milongabetreiber/innen, die „Gewinne maximieren“ und solche, die finanzielle Risiken eingingen oder Gratisveranstaltungen anböten – was aber eher die Ausnahme sei. Genau diese Akteure aber würden zur Verbesserung und Verbreitung der Tangokultur beitragen.

Auch Workshops und Kurse sieht der Schreiber kritisch, da sich dort „scharenweise in hohem Maße unqualifizierte Unterrichtende“ tummelten. Er beschreibt ein Beispiel, das mich sehr amüsiert hat: Ein sehr bekannter Tangolehrer habe ihm erzählt, dass sich heute nach einem Anfängerkurs nicht sieben bis acht, sondern im Schnitt nur noch zwei Männer vom Tango zurückzögen. Warum? Weil man den Tanz „versimpelt“ habe. Statt schwierigerer Techniken lehre man halt zum Beispiel kleine Schrittfolgen. Damit hätten die Herren Spaß, blieben im Kurs und füllten die Kasse.

Hochgradige Satire stellt die Frage dar, welche der Autor anschließt: Wie stünde es um den Golfsport, wenn man die Löcher auf einen Durchmesser von einem Meter vergrößere? Fazit: „Nein, zur Verbesserung des Kulturgutes Tango tragen Unterrichtende nur sehr begrenzt bei.“ 

Sarkasmus vom Feinsten ist auch, was der Verfasser den DJs einschenkt: Zwar gebe es wenige gute (klar – natürlich solche, die in seinem Tangoradio auflegen). Meist aber treffe man auf „halbwüchsige, dem Tangotanz nicht mächtige Personen, die vorgefertigte Tandas downloaden, Tandamusik der EdO bis zum Erbrechen rauf- und runternudeln“. Da könne man hinters Pult ebenso einen virtuellen Schimpansen setzen, der „die unterschiedlichen Farbtasten bedient: weiß für Tango, gelb für Milonga, grün für Vals.“

Fazit: „Wer will ernsthaft behaupten, dass DJs Kulturschaffende sind?“ 

Und den Bereich „Tangomode“ wolle er in dieser Hinsicht lieber nicht kommentieren. Da schließe ich mich an. 

Christian Stoll beleuchtet einen Aspekt, den ich ebenfalls für zentral halte: Der Verein bekennt sich eindeutig dazu, „kein Regelwerk für den Tango zu schaffen und den Tango in seiner Vielfalt nicht einschränken zu wollen“. Zu seinem großen Erstaunen fänden sich aber im Vorstand und unter den Mitgliedern „zahlreiche BetreiberInnen und Unterrichtende, die genau das aktiv betreiben, dem Tango ein Regelwerk aufsetzen und in seiner Vielfalt einschränken.“ 

Sie organisierten Veranstaltungen, „in denen ein umfangreiches Regelwerk gelehrt und zur Geltung gebracht wird“ – die Encuentros. Der Autor sieht diese als „neue Tanzkultur“, welche einige Elemente des Tango übernehme, viel Spaß machen könne und eine „grandiose Marketing-Idee“ darstelle. Allerdings dürften dort nur Auserwählte teilnehmen. In einer langen Betrachtung kommt er zum Schluss: „Die Verbreitung des Encuentro-Tango hat den RioPlataTango geschädigt.“ Daher trage er nicht zum „Weltkulturerbe Tango“ bei.

Insbesondere sieht er es als problematisch, dass von solchen Veranstaltern auf andere starker Einfluss ausgeübt werde, um auch deren Milongas das Encuentro-Regelwerk aufzudrücken. Tango aber sei „ein Freigeist“. 

Mein Fazit: 

Ich stimme mit Christian Stoll nicht in allen Punkten überein. Dennoch bin ich sehr froh, dass er den Finger in Wunden legt, die ich auch – teilweise schon lange – beobachte.

Für mich ist das zentrale Problem nicht ein Verein, in dem sich derzeit selbst reaktionäre Tangovertreter wegen des Geldmangels auf einen Burgfrieden mit Fortschrittlicheren eingelassen haben. Wobei man nach meinem Eindruck eher die liberalen Leute die Hauptarbeit machen lässt. Wenn es dann wieder genug Kohle zu verdienen gibt, wird dieser Verein genauso scheitern wie frühere Versuche, sich im Tango zusammenzuschließen. Die einen werden wieder ihre Encuentros und Todernst-Tanzabende organisieren und die anderen ihr Techno-Gewummer mutig als „Neotango“ verkaufen.

So lange die Kundschaft sich dies gefallen lässt, wird es so bleiben.

Nach meiner Überzeugung hat in der Tangoszene hierzulande kaum jemand das Recht, sich auf das „Weltkulturerbe Tango“ zu berufen. Fast überall werden lediglich schmale Segmente daraus verkauft – halt solche, mit denen man hofft, Geld zu verdienen. Der Rest wird mit hanebüchenen Begründungen verteufelt – ja ihm die Berechtigung abgesprochen, sich überhaupt „Tango“ zu nennen. Dies als kritischer Hinweis an Christian Stoll: Dieses Recht mag ich auch den Encuentros nicht bestreiten.

UNESCO-Weltkulturerbe? Auf welchen Milongas werden denn EdO-Aufnahmen, Gardel, Tango nuevo, Neotango und vor allen die zeitgenössischen Ensembles aufgelegt, vielleicht sogar mal finnische oder osteuropäische Stücke oder die alten deutschen Tangoschnulzen? Na ja, ich kenne einige wenige Orte wie Gröbenzell, Freising, Attaching, Blumenthal oder Pörnbach… aber wo liegt das überhaupt?

Ach ja – und das „Tango Radio Babylon“, welches jeden Sonntag von 8 bis 24 Uhr auf Sendung geht. Ich habe letzthin dem Programm gelauscht und eine ziemliche Vielfalt erlebt:

https://radio-babylon.de/

Ebenfalls war es mir eine Freude, den Artikel von Christian Stoll zu besprechen. Er hat es verdient, im Original genossen zu werden. Daher mein Tipp: Lies feddich!

https://lies-feddich.de/pro-tango/

P.S. Das wundervolle Couplet, das Kurt Tucholsky 1926 unter dem Titel „Das Mitglied“ verfasst hat, bezog sich wohl nicht auf einen Tangoverein. Ähnlichkeiten mit heutigen Verhältnissen sind aber nicht ausgeschlossen:


https://www.youtube.com/watch?v=u9leX-hOD2c

Kommentare

  1. Auf Facebook wies mich mein Berliner Tangofreund Fridolin Lützelschwab auf ein weiteres Reservat des Tango-Weltkulturerbes hin. Unverzeihlich, es vergessen zu haben!

    Daher hier seine Wortmeldung:

    "Wieder mal eine fundierte Tour de raison durch den Tango. Präzise der Hinweis, dass aus Gründen des Marketing nur bestimmte Segmente der ganzen Fülle des Tangos gespielt werden. Neben dem respektablen Pörnbach bringe ich gerne noch Berlin-Moabit ins Spiel, wo vom Plattenunterhalter eben auch ein umfassendes Lausch-und Tanzzeugs aufgelegt wird."

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