FAQ
Schon
lange pflegen die Herausgeber von Webseiten die schöne Tradition der „Frequently Asked Questions“ (FAQ). Damit
deuten sie ihren Lesern zart an, dass sie keine große Lust hätten, immer wieder
die gleichen dämlichen Fragen zu beantworten.
Ich
muss gestehen, dass auch mich dieses Gefühl immer stärker anwandelt, wenn in
Diskussionen über Tangotradition, Musik, Códigos und umliegende Dörfer mantramäßig-monotone
Sprüche geklopft werden, welche offenbar jeder jedem nachplappert.
Daher
erlaube ich mir, einmal eine kleine Auflistung bestimmter Argumente vorzulegen –
inklusive meiner „FGA“ („Frequently Given Answers“). Dank der Nummerierung könnte
ich zukünftig bei den einschlägigen Debatten sehr einfach zitieren.
Viel
Spaß und fröhlichen Erkenntnisgewinn!
1. „Astor Piazzolla hat
selber gesagt, dass man auf seine Musik nicht tanzen kann / soll.“
Richtig ist, dass es in den „Zehn Geboten" seines „Octeto de Buenos Aires“ heißt: „Wenn das Ensemble in der Öffentlichkeit zu
hören ist, wird es nicht auf Tanzveranstaltungen spielen.“ Andererseits war Piazzolla von 1939 bis 1944 Mitglied des Orchesters von
Aníbal Troilo, hat also jahrelang für Tänzer musiziert. Bereits dort kam es
aber immer wieder zu Differenzen mit dem Chef, dem Piazzollas Arrangements zu „schwierig“
waren.
Die Anfeindungen aus der traditionellen
Tänzerszene wurden ab Mitte der 1950-er Jahre so heftig, dass sich
seine Familie fallweise nicht mehr auf die Straße traute: Er sei ein „Verräter“,
seine Musik wäre kein Tango.
Verständlich, dass er keine Lust mehr hatte,
für ein solches Publikum zu spielen!
Von seiner Witwe Laura Escalada Piazzolla ist
sein Ausspruch überliefert: „Ich verstehe
das nicht, in Argentinien heißt es, man kann zu meiner Musik nicht tanzen, und
hier (in Europa) tanzen alle zu meiner Musik!”
Insgesamt meine ich, das Thema „Tanzen“ hat
Piazzolla (wie die meisten Musiker) wenig interessiert. Ihn jedoch selber als
Kronzeugen dafür zu benennen, dass man auf seine Kompositionen nicht tanzen
könne oder solle, ist definitiv falsch!
2. „Piazzolla hat seine
Musik selber nicht als ‚Tango‘ bezeichnet – und er wird schon gewusst haben,
warum.“
Na ja, als „traditionellen Tango“ sicherlich
nicht – aber immerhin als „Tango nuevo“. Und der Begriff kommt in so vielen
Titeln seiner Kompositionen vor (siehe „Libertango“), dass ich mich ernsthaft
nicht weiter mit diesem Argument beschäftigen möchte!
3. „In der ‚Época de Oro'
(ca. 1935 – 1955) kam es zu einer unvergleichlichen Symbiose von Musikern und
Tanzenden. Diese wurde bis heute nie mehr erreicht – die zeitgenössischen
Ensembles spielen eher konzertant.“
Das ist vom Ansatz her richtig: Tango war
damals ein Massenphänomen, was Auftrittsmöglichkeiten in Hülle und Fülle mit
sich brachte. Klar, dass sich dies positiv auf die Spiel-Routine auswirkte.
Allerdings hat Mainstream (siehe „Musikantenstadel“) auch negative
Auswirkungen: Viele Aufnahmen aus dieser Zeit klingen schon sehr gleichförmig, um
auch noch den letzten Dödel tänzerisch nicht zu überfordern…
Die politischen und vor allem musikalischen
Veränderungen ab den 60-er Jahren (siehe Rock’n Roll, Beat etc.) bedeuteten das
Aus für die großen Orchester – und beinahe auch für den Tango. Es ist Piazzolla
und anderen Neuerern zu verdanken, dass dieser Tanz seit den 1980-er Jahren
wieder einen gewissen Aufschwung erlebt.
Es gibt heute eine Vielzahl moderner
Tangointerpreten – und diese wären glücklich, würden sie öfters auf Milongas
verpflichtet. Stattdessen werden sie meist entweder ignoriert oder auf
Konzertauftritte reduziert. Wie soll sich da eine neue „Symbiose“ entwickeln?
Die inzwischen vorwiegend traditionell orientierte Tangoszene betreibt hier
eine „Kulturvernichtung“ ersten Grades!
4. „Die moderne
Tangomusik ist untanzbar.“
Der Begriff der „Tanzbarkeit“ ist für mich
das „Tango-Unwort“ schlechthin (und wird in der restlichen Tanzszene
schlichtweg nicht verwendet). Es kommt hierbei doch immer auf die Fähigkeiten
des Einzelnen an – wer keinen Wiener Walzer kann, für den ist die
Königsdisziplin der europäischen Balltradition ebenfalls „untanzbar“!
Natürlich gibt es einfacher oder schwieriger
zu interpretierende Arrangements – dem Rest der Welt jedoch vorzuschreiben, was
auf dem Parkett überhaupt bewegungsmäßig umsetzbar sei und was nicht, ist an
Arroganz kaum zu überbieten!
5. „Musikauswahl und
Verhaltensregeln der traditionellen Milongas fußen auf jahrzehntelangen
Traditionen und den Gebräuchen in Buenos Aires.“
Es vergeht kaum eine Woche, in der man zu
diesem Thema nicht Widersprüchliches liest. Ich habe dies in verschiedenen
Beiträgen dokumentiert, z.B.:
So scheint es bis zum Beginn des neuen
Jahrtausends durchaus üblich gewesen zu sein, auf „traditionellen Milongas“ auch
Tandas mit anderen Tänzen („otros ritmos“) aufzulegen. Ebenfalls sind offenbar
Códigos wie der Cabeceo bei Weitem nicht so alt, wie man es gerne hätte. Zu
allen Zeiten gab und gibt es wohl selbst in Buenos Aires eine große Bandbreite
von Tangoveranstaltungen und Gebräuchen unterschiedlichen Charakters – und genau dieses
Spektrum machte die Faszination des Tango aus!
6. „Ohne feste Regeln (‚códigos
del tango‘) gäbe es ein Chaos auf der Tanzfläche. Rempeleien, Verletzungen und
Störungen der Harmonie wären die Folge.“
Nach über 3000 Milongabesuchen erlaube ich
mir, dies als Ammenmärchen zu bezeichnen! Es geht beim Tango auf dem Parkett
(und auch außerhalb) wesentlich friedlicher zu als beim Standardtanz – wohl hauptsächlich
wegen der höheren Fähigkeit der Tangotänzer, zu improvisieren anstatt
festgelegte Figurenfolgen abzutanzen. Einen Zusammenhang mit dem Musikgeschmack
der Gäste konnte ich kaum bemerken – sehr wohl
allerdings mit den tänzerischen Fähigkeiten der Teilnehmer!
7. „Das Wichtigste beim
Tango ist die Ordnung in der Ronda, das Gefühl, sich in Harmonie mit allen
andern zu bewegen.“
Es ist zu akzeptieren, dass es eine derartig
gestrickte Szene gibt. Nur sind dies natürlich Ziele, welche meilenweit von der
europäischen Paartanz-Tradition entfernt sind. Bei dieser ist es vor allem wichtig,
dass die anderen möglichst weit weg sind, damit man genug Platz hat und
keinen behindert. Auf Encuentros und ähnlichen geschlossenen Events scheint es
im Gegenteil erwünscht zu sein, dass die anderen möglichst nah dran sind!
Dieser Widerspruch ist unauflöslich. Was man in
solchen Fällen anstrebt, ist eher eine Art gemeinsame Meditation und weniger
das Bewegen der Füße. Man kann im Wald Forstwirtschaft betreiben oder Bäume
umarmen – mit einer Schnittmenge von annähernd null.
Dies aber als „traditionellen Tango“ zu
bezeichnen, ist abwegig, und Encuentros sind in Argentinien logischerweise
völlig unbekannt – sie stellen eine europäische Sonderentwicklung der letzten
Jahre dar!
8. „Tandas und Cortinas
geben der Milonga eine übersichtliche Struktur und erleichtern das Auffordern.“
Warum ich irgendein Gedudel benötige, um von
einer Tanzrunde zur nächsten überzugehen, hat sich mir noch nie erschlossen –
eher reißt mich eine solche „kalte Musikdusche“ aus der eventuell trotz allem noch
vorhandenen Stimmung. Und eigentlich könnte man es einem Paar selber überlassen,
wie lange es miteinander zu tanzen wünscht. Aber offenbar gehört es zum
Lustprinzip von Regelerfindern, sich möglichst überall einzumischen…
Natürlich wäre es das andere Extrem, „Kraut und Rüben" zum Ideal der Playlists zu erheben. Bei den klassischen Tandas allerdings klingen oft drei oder vier Stücke so ähnlich, dass mir spätestens ab der Hälfte schon langweilig ist. Was ist so schlimm daran, die Hörerlebnisse zu variieren? Dass dann die Fraktion der „Schubladenverwalter" nicht aus der Ruhe kommt?
Natürlich wäre es das andere Extrem, „Kraut und Rüben" zum Ideal der Playlists zu erheben. Bei den klassischen Tandas allerdings klingen oft drei oder vier Stücke so ähnlich, dass mir spätestens ab der Hälfte schon langweilig ist. Was ist so schlimm daran, die Hörerlebnisse zu variieren? Dass dann die Fraktion der „Schubladenverwalter" nicht aus der Ruhe kommt?
Und es verbessert meine Laune nicht, wenn ich
nur jede knappe Viertelstunde einmal für dreißig Sekunden das Recht haben soll,
aufzufordern – und dann im größten Gewühl! Warum darf ich nicht in Ruhe
abwarten, bis meine Wunschtänzerin gerade mal Zeit hat?
9. „Der Cabeceo
ermöglicht es den Frauen, unerwünschte Tänze zu vermeiden und sich aktiv an der
Aufforderung zu beteiligen.“
Zunächst einmal hat das ganze
Traditionsgetümel der letzten Jahre dafür gesorgt, dass sich heute kaum noch
Frauen trauen, ganz einfach aktiv (und verbal!) einen Tänzer aufzufordern.
Stattdessen sollen sie sich auf ein in der Praxis oft schwer realisierbares und
zu Missverständnissen führendes „Blinzelspiel“ einlassen. Aber warum einfach,
wenn es auch komplizierter geht?
Zudem ist es seit Generationen in
tänzerischer Gesellschaft angesagt, sich höflich zu verhalten – wozu es durchaus auch zählt,
einmal „Zumutungen“ wie einen nicht sehr erwünschten Tanz zu ertragen. Und wenn wir schon in „Mimosenkategorien“ denken: Inwiefern es keine „Nötigung“
darstellt, von einem Mann (oder einer Frau) immer wieder angestarrt zu werden, konnte
mir bislang auch noch niemand befriedigend erklären!
10.
„Jeder Veranstalter
hat das Recht, den Charakter und die Regeln seiner Milonga zu definieren. Wer
dann nicht kommen will, soll halt wegbleiben.“
Dieses marktliberale Motto ist
selbstverständlich erlaubt – zu einer so gerne beanspruchten „Subkultur“ passt
es allerdings nicht. In der Praxis hat es zur Folge, dass sich die Tangoszene
immer weiter zersplittert. Früher traf ich bei einer Milonga die Mehrzahl der
Tangomenschen meiner Region – heute darf ich hintereinander etliche
Veranstaltungen besuchen, bis mir das gelingt. Ist das ein Fortschritt?
Übrigens hat es sich sogar in einer
Marktwirtschaft bewährt, die Kunden zu befragen und demgemäß sein Angebot zu gestalten. Wo dürfen die Milongabesucher angeben, welche Musik sie sich wünschen?
Stattdessen wird das Programm oft ziemlich autokratisch von oben durchgesetzt
(siehe z.B. den Gastbeitrag von Alessandra und Peter Seitz). Abgestimmt wird
beim Tango weniger mit den Füßen als mit den Ellbogen…
11. „Es gibt halt Menschen,
welche die momentane Entwicklung im Tango nicht mitmachen, da sie nicht bereit
sind, dazuzulernen.“
Dies ist mein absoluter Favorit unter allen
Blödsinns-Sprüchen im Tango! Der momentane Trend geht in allen Bereichen in
Richtung Reduktion: Verzicht auf schwierigere Musik, differenziertere
Tanzbewegungen, kreativere Nutzung des Raums, eigene Entscheidungen beim
Verhalten auf Milongas.
Dies als „Fortschritt“ zu verkaufen und den
Andersdenkenden Lernresistenz zu attestieren, erfordert schon ein Höchstmaß an
Dreistigkeit. Daher werde ich mich weiterhin bemühen, dennoch nicht ganz das zu
verlernen, was einst möglich war!
Zum guten (?)
Schluss:
Selbstverständlich sind weitere Vorschläge für
FAQ – oder Diskussionen zu den hier angesprochenen – gerne gesehen. Bekanntlich
glaube ich nicht daran, dass meine Ansichten auf Gesetzestafeln direkt aus dem
Tango-Elysium heruntergereicht wurden – die der anderen Seite aber auch nicht!
Hallo Gerhard,
AntwortenLöschenja, musikmäßig sprichst Du mir aus der Seele! Vielen Leuten sind aber die anspruchsvolleren Tangos zu komplex, das haben wir ja auch schon in anderen Diskussionen festgestellt. Das merke ich auch an den Rückmeldungen zu dem, was ich auflege, manche mögen keine Harmonien, die aus mehr als drei Tönen bestehen, und viele tun sich schwer mit Temposchwankungen. Ich mache daher immer so ein wenig Kompromisse, aber Edo lege ich fast gar nicht mehr auf, weil man es ja überall sonst hört.
Zum Theme Tandas: Es gibt bei mir einen Grund, warum ich Tandas mache, und der hat nichts mit Tradition zu tun. Ich möchte zwischendurch auch gern mal selbst tanzen, und da kommen mir kleine Playlisten zu je 4 Titeln zupass. Dann habe ich 10-15 Minuten Zeit. Beim vierten Stück muss ich dann meinen Tänzer leider stehen lassen, weil ich die nächste Musik aussuche. Ich kenne meine kleinen Listen ziemlich auswendig. Bei mir ist es also nur Eigeninteresse, was durch die moderne Technik (m3u-Dateien auf meinem Laptop) sehr erleichtert wird. Ich finde es aber auch schön, den Leuten gleich eine kleine Serie von Stücken vorzustellen, die etwas miteinander zu tun haben. Beim Small Talk zwischendurch erkläre ich das immer, und einige hören daraufhin genauer zu.
Die Cortinas spiele ich, weil ich herumgefragt habe, ob die Leute lieber Cortinas wollen oder nicht. Sie wollen, halten sich aber nicht unbedingt an die Struktur beim Auffordern. Inzwischen macht mir das mit den Cortinas ein bißchen Spaß, ich versuche, andere Musiker damit zu ehren, letzte Woche z.B. "Ideal", was vor einigen Jahrzehnten als "neue deutsche Welle" berühmt wurde.
Also, keine Tradition, aber mein persönlicher Stil.
Auch macht es mir Spaß, zum Schluß eine Cumparsita zu spielen, einfach, weil es so viele serh unterschiedliche gibt und das Reservoir fast unerschöpflich ist.
Ich finde es schrecklich, durch Regeln eingeschränkt zu werden, eigenlich müßten doch Kinderstube und soziales Gespür reichen. Gerade die Vielfalt macht eine schöne Kultur aus.
LG Annette
Liebe Annette,
Löschenich lege ja (altertümlich genug) immer noch mit CDs auf, und da ist es mir natürlich lieber, wenn ich drei oder vier Titel von einer Scheibe nehmen kann. Oft sind sie dann vom den selben Interpreten, gerne aber z.B. Tango, Vals und Milonga gemischt. Ist ja nachvollziehbar, Tanzrunden meist ähnlichen Charakters zusammenzustellen – ich mache aber keine Religion daraus.
Ich finde es übrigens schrecklich, wenn DJs nicht selber tanzen. Gefällt ihnen die eigene Musik nicht? Oder müssen sie wirklich vier Stunden lang an den Reglern drehen oder Stücke „vorhören“, weil sie diese selber nicht kennen?
Bei mir hat es sich irgendwie zum „Kult“ entwickelt, eine Schlusstanda zu nehmen, die keiner erwartet (häufig wohl noch nie auf einer Milonga gespielt und auch nicht immer Tango). So wenig mich ansonsten „Non-Tangos“ überzeugen: Ich finde, zum Ausklang ist ein Blick in die restliche Tanzmusikwelt erlaubt!
Man muss sich halt entscheiden: Vielfalt oder Einfalt – im Vergleich moderner Supermarkt oder HO-Laden der einstigen DDR…