Vor dem Krieg

 

Vor etwa zwei Wochen habe ich bereits über eine Diskussion berichtet, die sich in einer Tango-Facebookgruppe abspielte. Im Wesentlichen ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen man kommende Milongas wieder öffnen solle: nur für Geimpfte, mit Schnelltests oder auch mit Masken?

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/03/event-event-kein-lichtlein-brennt.html

Wie schon zu erwarten, ist die Debatte inzwischen ausgeufert – 334 Kommentare liegen nun vor. Insbesondere befeuerte eine Tänzerin und DJane den Meinungsaustausch, die sich ums Verrecken nicht impfen lassen will – aber natürlich dennoch zum Tanzen gehen:  

„Ich wünsche mir einfach keine Veranstaltung, die bestimmte Menschen ausschließt. (…) Und weil der Schutz nicht 100%-ig ist, würdest du Nicht-Geimpfte nicht auf eine Milonga lassen? Ist das dein Ernst?“

Die Gegenargumente bezogen sich vor allem darauf, es gälten immer schon auf bestimmten Gebieten Einschränkungen für die Teilnahme:

„Es gibt in ganz vielen Bereichen Beschränkungen, die wir einfach so akzeptieren: Betrunkene werden nicht in Discotheken eingelassen, Schwangere dürfen je nach Fluggesellschaft ab irgendeiner Schwangerschaftswoche nicht mehr mitfliegen, zur Einreise in bestimmte Länder gibt es Pflichtimpfungen, es gibt Kirchen und Klöster, in die dürfen Frauen nur rein, wenn sie ihr Haar verhüllen, Männer nur mit langen Hosen ... die Liste ist beliebig fortsetzbar."

Die Gegenposition der Dame:

Sorry, aber: Nein. Ich akzeptiere solche Diskriminierungen nicht. Und ich hoffe, dass es noch mehr Menschen gibt, die das nicht einfach hinnehmen.“

Zwischenfrage:

„In allen aufgeführten Fällen?“

„Nein, nicht in allen. Betrunkene gehören nicht in Diskotheken.“

Na, immerhin – aber:

„Ich finde es unglaublich, einer schwangeren Frau so etwas vorschreiben zu wollen. Sie hat eine Eigenverantwortung, ,und die darf sie ausüben. Es ist IHR Körper. Punkt. Wenn man Menschen diese Kompetenz wegnimmt dann beraubt man sie ihrer Menschlichkeit.“

Merke: Eine Schwangere ist kein Mensch mehr, wenn sie nicht fliegen darf!

„Ich verstehe, dass du persönlich nicht vorgeschrieben bekommen möchtest, bis zu welcher Schwangerschaftswoche dich eine Fluggesellschaft befördert. Aber ich verstehe auch die Fluggesellschaft, die eine Verantwortung für den gesamten Flug hat und an der Stelle ein vielleicht nicht unerhebliches Risiko vermeiden möchte. Zum Wohl von allen.“

Das wurde später noch konkretisiert: Im Zweifel zwinge man dann halt den übrigen Passagieren auf, eine Geburt – vielleicht mit Komplikationen – live im Flieger mitzuerleben oder eine Notlandung hinzunehmen.

Auch das vermochte die Gesprächspartnerin nicht zu überzeugen:

„Das ist doch kein Spaß mehr - ich bin verzweifelt, weil eine Impfung für mich nicht in Frage kommt (aber Testen und Maske schon) UND ich wieder tanzen und DJen möchte. Hier geht es um meinen Körper, meine Gesundheit, mein Leben! Vor was für eine grausame Entscheidung werde ich hier gestellt? Ausschluss aus der Gemeinschaft oder Impfung? Das kann doch alles nicht wahr sein ...“

Nun aber – Auftritt eines pseudonymen Mediziners, der auf Tangoseiten für seinen feinsinnigen Debattenstil bekannt ist:

„Schon irgendwie krass, wie Du Dir das Universalrecht herausnimmst, all den anderen Deine Glaubensüberzeugung vorschreiben zu dürfen. D.h. Deine Freiheit all den Mittänzern um Dich herum aufzuzwingen, und dadurch als Einzelne die Freiheit von vielen einzuschränken! Aber Dich über ‚Zwang‘ beschweren ...“

Doch auch die Wortwahl der Dame zeugt von Facebook-Erfahrung:

„Ah, jetzt grätscht er mal wieder von der Seite unter die Gürtellinie hier rein, der selbsternannte Gesundheitspolizist. Du kannst dir die Mühe sparen, mich zu provozieren, ich werde auf keinen deiner Kommentare hier eingehen, und auch sonst in keiner FB-Diskussion mehr.“

Unser munterer Arzt handelte sich dann eine Verwarnung der Administratorin ein, was ihn aber nicht beeindruckte:

„Solange (…) und anderen das Recht eingeräumt wird, wie Querdenker unter Polizeischutz jeden Scheiß zu behaupten, ohne dass das kritisiert werden darf, kann man sich das Meinungsäußern in dieser Gruppe auch ersparen.“

Glücklicherweise fand sich im weiteren Verlauf ein etwas querdenkend argumentierender Schreiber, auf den der Doktor seinen Zorn richten konnte:

„Deiner Meinung nach gehört also der Milonga-Besuch zum ‚Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit‘?!“

Nein, nicht ganz, so die Antwort:

„Milonga Besuch gehört zum Grundrecht der Freiheit auf persönliche Entfaltung, und die Freiheit, sich nicht impfen zu lassen, gehört zum Recht auf körperliche Unversehrtheit. (…) Ich bin für das Leben anderer nicht zuständig, und ich bin es nicht, der das Leben anderer riskiert, das lass dir mal gesagt sein!“

Wenig später explodierte der medizinische Zornesvulkan:

Und DU, mit DEINEM verfluchten Selbstmitleid dass Du mal 'ne Weile nicht mehr Tango tanzen kannst (‚Dein Grundrecht auf Selbstentfaltung‘) lieber das Leben anderer in dieser Pandemie riskierst! Dass es soweit kommen wird, dass wir den Leuten sagen müssen ‚normalerweise könnten wir ja ihren geliebten XYZ behandeln, aber in dieser Pandemie haben wir da gar keine Kapazitäten mehr für‘ ... (so weit war es in noch keiner der von Dir angeführten Grippewellen! [nota bene: keine Grippewelle in diesem Jahr, dank der von Euch abgelehnten Masken]) ...

SCHÄM DICH, (…), SCHÄM DICH!“ 

Für diese Sprüche flog Doktor Mabuse dann endgültig aus der Gruppe – inzwischen für ihn eine gewohnte Routine. Diesmal aber mit einer vergleichsweise originellen Begründung:  

„Das ist nicht die Selbsthilfegruppe für Mediziner, die ihre Punkte in Kommunikation nicht gemacht haben, weil sie vor 2011 approbiert wurden.“

Nein, sondern ein Ort konstruktiv-kollegialer Tangogespräche

Die wird es zuhauf geben, wenn die ersten Milongas wieder öffnen können. Ich sage voraus: Auf den Veranstaltern wird dann ein riesiger Druck lasten. Schon deshalb, weil sie ihre Preise deutlich erhöhen müssen. Ein Organisator spricht in diesem Forum von mindestens 15 Euro, was ich für realistisch halte.

Vor allem aber wird es verbissene Debatten vor Ort (und im Internet) geben, wem denn nun Einlass zu gewähren sei. Nicht alle werden sich impfen oder testen lassen wollen. Ich kann den Veranstaltern nur raten, dem Druck renitenter „Quertänzer“ nicht nachzugeben. Erstens müssen sie wohl behördliche Vorgaben umsetzen – und nicht zuletzt ist es ihre Verantwortung und Entscheidung, wie sie solche Treffen gestalten. 

Dabei deutet sich ein Wechsel der Argumentationen an. Meine jahrelangen Bitten, doch auch der modernen Tangomusik eine Chance zu geben, wurden von einem bestimmten Personenkreis stets so beantwortet: Tja, dann müsse ich mir halt eine Milonga suchen, die meinem Geschmack entspreche. Schließlich habe jeder Veranstalter, jeder DJ ein Gestaltungsrecht.

Ich darf das nun genüsslich zurückgeben: Dies gilt erst recht für Hygiene-Vorgaben, denn eine Ansteckung mit Covid-19 ist noch schlimmer als die Notlage, in eine Piazzolla-Tanda zu geraten oder von einem wild tanzenden Paar seelisch beeinträchtigt zu werden.

Jahrelang musste ich mir erzählen lassen, die komischen Tanz- und Aufforderungsregeln müssten halt sein – so wie die gesetzlichen Vorgaben im Straßenverkehr. Und genau diese Personengruppe empört sich nun über Zugangsregelungen für Milongas, welche die Ansteckung mit einer potenziell tödlichen Erkrankung verhindern sollen?

Nein, ihr Lieben: Ich habe stets betont, Regeln dann für sinnvoll zu erachten, wenn sie zur Gefahrenabwehr unabdingbar sind. Ob dies für ein Boleo-Verbot auf dem Parkett oder die Anstarr-Pflicht beim Auffordern gilt, bezweifle ich weiterhin. Für die Infektionsabwehr in Pandemie-Zeiten nehme ich Vorschriften gerne hin.

Ich sage voraus: Die vergangenen Schlachten um Sankt Cabeceo und die Heilige Ronda werden als müder Abklatsch wirken, wenn dereinst die Einlass-Kämpfe mit den Milonga-Türstehern ausbrechen!

Da möchte ich die querdenkend Empörten, welche eine Tango-Teilnahme mit einem Grundrecht  verwechseln, schon jetzt trösten: Mir wurde früher der Zutritt in bestimmte Milongas sogar rein wegen meiner abgründigen Gesinnung verwehrt. Ich darf dazu den seligen Cassiel zitieren:

"Um nur kurz für mich als Veranstalter zu sprechen. Solltest Du zukünftig Einlass in eine von mir organisierte Milonga begehren, werde ich Dir freundlich an der Kasse erklären, dass ich keine Menschen in meiner Milonga möchte, die ein System von Drohungen oder eigener Prominenz im Tango etablieren wollen. Du wirst dann wohl umstandslos wieder gehen müssen. So einfach ist das … Ich bin gespannt, ob ich der einzige Veranstalter bleibe, der so auf Dein Agieren reagiert.“

http://milongafuehrer.blogspot.com/2016/07/hausverbot-und-boykottaufruf-durch.html

Daher bin ich mir sicher: Nach Corona ist vor dem Krieg.

Ich werde weiter berichten!

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Kommentare

  1. Ich bin ja gespannt wie man damit umgehen wird, wenn bekannt wird, dass auf einer Milonga sich jemand angesteckt hat und dann schwer erkrankt. Die ganze COVID-Debatte führte ja zu so einer Polarisierung, dass es für so manchen offenbar zum "guten Ton" gehört "ungeschützt" durchs Leben zu wandeln. Bisher war es so, dass man davon ausgehen konnte, dass Milonga-Gäste mit ansteckenden Krankheiten zu Hause blieben. Und künftig? Ein "jetzt erst recht"?

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    1. Na ja, bislang musste man sich auch drauf verlassen, dass Leute mit einer Grippe lieber zu Hause blieben - wobei man dabei halt nicht das Problem der asymptomatisch Infizierten hatte.

      Wenn sich jemand auf einer Milonga mit Covid ansteckt, wird man es wohl nicht an die große Glocke hängen - ist sicher auch schon öfters passiert. Mit dem Verschweigen von Problemen hat man im Tango ja ziemlich viel Routine.

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    2. Ich hoffe die Menschen kommen bald wieder zur Vernunft...
      Es ist erschreckend, wie unvernünftig (<-- sehr mild ausgedrückt) und bodenlos empathielos viele Menschen aktuell sind, wieviel sie verdrehen, verdrängen und sich ihre bequeme Scheinwelt zimmern, um nur ja auf kein Fitzelchen Wohlstand verzichten zu müssen oder um sich ein Feindbild zu errichten, das ihnen ihr Leben - warum auch immer - erträglicher macht. Eine Freundin etwa hat mir berichtet, dass ein enger Verwandter nicht an COVID-19 als ernst zu nehmende Erkrankung glaubt, dass sich das "die da oben" doch nur ausdenken, um "uns zu kontrollieren".
      Sie erklärte ihm dann weinend, dass sie im Bekanntenkreis einige Erkrankte kennt die es schwer getroffen hat und ein guter Freund von ihr an dieser ach so "harmlosen Erkältung" sogar gestorben ist. Die Reaktion? "Naja Menschen Sterben halt nun mal, das ist halt so und du weißt doch gar nicht, ob es wirklich wegen diesem Corona war." Das macht einen einfach nur noch sprachlos.....

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    3. Liebe Dunja,

      ja, das ist wirklich erschreckend. Vielleicht liegt es vor allem an der Unfähigkeit mancher Menschen, mit schlimmen und belastenden Situationen zurechtzukommen. Dann erfindet man ein "Paralleluniversum".

      Weiterhin hat sich die Medienwelt verändert. Vor Jahrzehnten gab es oft nur eine Lokalzeitung und ein Fernsehprogramm. Inzwischen kann man sich via Internet komplett von der Realität verabschieden und in eine Meinungsblase Gleichgesinnter zurückziehen.

      Es ist sehr spannend, was sich da noch entwicklen wird!

      Herzliche Grüße
      Gerhard Riedl

      P.S. Weiterhin viel Freude mit den Zaubervideos - und danke für die Idee, welche ich damit realisieren konnte!

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