Wer an der Schule wen quält

 

„Welchen Sinn hat es, Kinder zu quälen?“, fragte neulich eine Kommentatorin auf Facebook zu einem meiner Artikel. Eine andere sprach bei der Gelegenheit von „moralischem Kindesmissbrauch“. Huch – worum ging es?

Schlicht um die Informationen des bayerischen Kultusministeriums und einer Realschule zur Durchführung von Corona-Schnelltests, aus der ich zitiert habe. Grob gesagt um die Anleitung, einen Wattetupfer in der Nase herumzudrehen und ihn dann in ein Lösemittel zu tunken..

Nun kann man über Sinn und Erfolgsaussichten solcher Aktionen sicherlich verschiedener Meinung sein. Das war jedoch gar nicht Thema meines Textes. Insbesondere hatte ich diese Maßnahmen weder verteidigt noch sie gar als der Weisheit letzten Schluss gepriesen. 

Wie dem auch sei – solche Sprüche zu diesem Thema sehe ich als horrenden Blödsinn. Über den man sich wohl gar nicht mehr aufregen sollte. Die Schnelltests sind halt das, was vor Monaten noch die Masken waren, welche Kinder bekanntlich in Lebensgefahr brachten:

https://www.youtube.com/watch?v=Xf04te3Cv6g

Mit welchen Bandagen da gekämpft wird, ist offensichtlich. Vielleicht sollte man sich angesichts eines solchen Stils doch empören. Gerade las ich, selbst unsere Kanzlerin habe sich bei einer Ministerpräsidenten-Konferenz im Januar schärfstens gegen solche Vorwürfe verwahrt: „Das lasse ich mir nicht anhängen, Frau Schwesig, dass ich Kinder quäle“. Ja richtig: Das ist die Landeschefin, welche momentan gerade für Mecklenburg-Vorpommern einen harten Lockdown verkündet…

https://www.focus.de/politik/deutschland/corona-gipfel-lasse-mir-nicht-anhaengen-dass-ich-kinder-quaele-wie-streitthema-schule-beinahe-zum-eklat-fuehrte_id_12888409.html

Nachdem ich über 35 Jahre eine Person verkörpert habe, die auf den Klassen-Sitzplänen gewöhnlich „Pult“ genannt wird, sage ich: Wer bei jedem nichtigen Anlass behauptet, an der Schule würden Kinder gequält oder gar missbraucht, hat einen an der Waffel. 

Man könnte nämlich in Sachen Quälerei den Blick einmal auf eine andere Personengruppe richten: meine Kolleginnen und Kollegen. Ich vermag mir ungefähr vorzustellen, welchen Aufwand die ganzen coronabedingten Umstrukturierungen in den vergangenen 14 Monaten erforderten. Da kann man protestierende Eltern vorm Schultor brauchen wie eine dritte Schulter. Ich danke meinem Schicksal, inzwischen im Ruhestand zu sein!

Dieses Problem hat schon längst vor der Pandemie angefangen, so dass ich es noch in der aktiven Berufstätigkeit kennenlernen durfte: Es gab kaum eine schulische Maßnahme, die nicht den Attacken beschwerdeführender Papis und skandalisierender Tussen zum Opfer fiel.

Dass Lehrkräfte qua Gesetz dazu verpflichtet sind, Leistungen differenziert zu bewerten, spielt da keine Rolle: Schlechte Noten darf es einfach nicht geben – da hat sicherlich der Lehrer versagt! Und Konsequenz oder gar Sanktionen sind Attribute, mit denen sich die Kolleginnen und Kollegen besser nicht versehen sollten. Das gibt regelmäßig Ärger. Und Schulleiter (ich gendere diesen Begriff bewusst nicht) interessieren sich in solchen Fällen weniger für die Kraft von Argumenten als für den Grad an Wirbel, der entstehen könnte. 

Ein wahrer Pädagoge, so die heutige Lesart, muss Verständnis zeigen – sprich: Im Zweifelsfall den Schwanz einziehen. 

Im selben Maß, wie man die Schule kritisiert, mutet man ihr für die Betreuung und Erziehung ein Monopol zu. Zur heutigen Familienplanung scheint es zu gehören, den Nachwuchs möglichst bald nach der Geburt an ganztägig geöffnete staatliche Betreuungseinrichtungen loszuwerden – damit man sich ohne die störenden Kinder selbst verwirklichen kann.

Meine Mutter hätte damit wenig Probleme gehabt: Obwohl mein Vater nicht viel verdiente, blieb sie bis zu meinem 12. Lebensjahr zu Hause. Urlaubsreisen waren allerdings nicht drin…

Je nach sozialem Stand werden die Kleinen dann vernachlässigt oder überbehütet. Ich habe es in den Anfangsklassen des Gymnasiums immer wieder erlebt, dass uns asoziale kleine Egoisten zur weiteren Behandlung überstellt wurden. Und ja, auch diesen Begriff gendere ich nicht, da es sich vorwiegend um Jungen handelt, deren Mütter am „Jungfrau Maria-Syndrom“ leiden: Sie halten ihren Sohn für einen Gott.

Wenn dann die Lehrkräfte versuchen, den kleinen Terroristen wenigstens Grundzüge mitteleuropäischer Verhaltensnormen beizubringen, ist die nächste Beschwerde absehbar. Auch in anderen Religionen kommt es schlecht an, den lieben Gott zu kritisieren…

Ich muss gestehen, dass ich angesichts solcher Erfahrungen teilweise schmunzeln muss, wenn Eltern sich nun beklagen, sie könnten ihr Homeoffice kaum bewältigen, weil ihre zwei Sprösslinge daheim über Tische und Bänke gingen, anstatt sich per Fernunterricht weiterzubilden. Tja, ihr Lieben, habt ihr euch schon mal überlegt, wie das eine Lehrkraft mit dreißig solcher Exemplare im Klassenzimmer hinbekommt? Vielleicht mit ein wenig wirklicher Erziehung?

Um der Schnappatmung partiell abzuhelfen: Klar, auch wir Lehrkräfte machen Fehler. Im Trubel des Unterrichts fallen manchmal Äußerungen, die nicht fürs Poesiealbum taugen – von allen Seiten. Und nicht jede erzieherische Entscheidung ist der Weisheit letzter Schluss. Aber Erziehung und Bildung sind kreative, manchmal sehr spontane Prozesse. Wenn man stets wie in einem Gerichtsprotokoll formulieren muss, damit keine Revisionsgründe entstehen, ist das der Tod eines lebendigen Unterrichts.

Sicherlich gibt es eine Mehrheit vernünftiger Mütter und Väter, die mit der Schule konstruktiv zusammenarbeiten. Aber es genügt ein Elternpaar pro Klasse, das alle Vorgänge stasiartig überwacht und ständig Beschwerden erhebt, um die Atmosphäre zu vergiften. 

Auf den Lehrkräften, das ist meine Erfahrung und Überzeugung, lastet ein immer stärkerer Druck. Da könnte man schon einmal die Frage stellen, wer an der Schule wirklich gequält wird.

Die Zahlen der Frühpensionierungen sprechen eine deutliche Sprache: Drei von vier Lehrkräften gehen, meist unter Inkaufnahme einer niedrigeren Pension, vorzeitig in den Ruhestand. Nur gut 10 Prozent tun dies wegen Dienstunfähigkeit, der Rest nutzt bestehende Regelungen wie die Altersteilzeit zum früheren Ausscheiden. Mit anderen Worten: Sie haben die Schnauze voll.

https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/pensionierung-unter-lehrern-drei-von-vier-gehen-vorzeitig-in-den-ruhestand-a-1244730.html   

https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2018/12/PD18_509_742.html 

„Nach den Ergebnissen der DAK-Studie leiden Lehrkräfte am stärksten unter sogenannter kognitiver Beanspruchung. 45 Prozent aller Befragten geben an, sie könnten nach der Arbeit schlecht abschalten und müssten oft an Schwierigkeiten in der Schule denken. Jeder dritte Lehrer ist zudem emotional hoch beansprucht. Sie fühlten sich gelegentlich ‚wie ein Nervenbündel‘ und reagierten ungewollt gereizt. Die Zahl der Betroffenen war bei Lehrerinnen größer als bei männlichen Kollegen.“

„Emotionale Beanspruchungen treten häufiger an Schulen auf, an denen die Schulleitung weniger mitarbeiterorientiert ist und es Unstimmigkeiten oder Streit im Kollegium gibt“, erklärt der Projektleiter der Studie Prof. Dr. Lutz Schumacher von der Leuphana Universität Lüneburg.

https://www.dak.de/dak/bundesthemen/fruehpensionierung-lehrer-2127768.html#/ 

Man kann es auch einfacher sagen: Auch an der Schule stinkt der Fisch vom Kopfe her.

Die Damen- und Herrschaften, welche sich nun wieder einmal als Frontkämpfer fürs Kindeswohl gerieren, könnten mir insgesamt auch einmal erklären, wie es denn nun weitergehen soll: Die Kinder wieder daheimlassen? Oder sie ohne Masken und/oder Tests in den Unterricht schicken?

Ich wäre jedenfalls dafür, es mit der Schule zu versuchen. Wer das staatlich verordnete Nasepopeln für „moralischen Kindesmissbrauch“ hält, sollte die gestern vorgestellte neue Kriminalstatistik  zur Kenntnis nehmen: Der sexuelle Missbrauch von Kindern hat 2020 um 7 Prozent zugenommen. Auch bei der häuslichen Gewalt ist ein Anstieg zu verzeichnen.

https://www.rnd.de/politik/seehofer-stellt-kriminalstatistik-2020-vor-mehr-falle-von-kindesmissbrauch-registriert-DKINEGOXH6EWEJDX6MDQXRWBOU.html

Die heutigen Probleme mit der Pandemie haben Jahre früher begonnen. Sie zeigen sich jetzt nur deutlicher.

Daher rate ich: Lasst die Kinder in die Schule. Dort sind sie sicherer als zu Hause!

Kommentare

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