Volkes Wille
Derzeit ist es aus diversen Gründen – von den Querdenkern bis zu Markus Söder – wieder einmal schwer angesagt, sich auf die öffentliche Meinung zu berufen. Umfrageergebnisse liefern die Institute fast täglich. „Vox populi, vox Dei“ – ist Volkes Stimme tatsächlich stets von göttlicher Weisheit geleitet?
Ich habe bei meinen Recherchen zur Entstehung des Grundgesetzes ein interessantes Beispiel gefunden: Dessen Artikel 102 wäre auf diese Weise nie in unserer Verfassung gelandet: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“
Die Expertenkommission, die 1948 auf Schloss Herrenchiemsee einen Entwurf des Grundgesetzes erarbeitete, schlug diese Bestimmung jedenfalls nicht vor – man bezweifelte, dass sie sich durchsetzen würde.
Auch im Parlamentarischen Rat fiel der Passus bei den ersten Abstimmungen durch. Insbesondere, da der Antrag dazu von Hans-Christoph Seebohm (dem späteren CDU-Bundesverkehrsminister) und seinen Kollegen von der rechtskonservativen Deutschen Partei kam. Diesen Herrschaften, so argwöhnte man, gehe es nur darum, Nazi-Funktionäre vor Todesurteilen der Besatzungsmächte zu bewahren.
Letztlich ist der Artikel 102 Grundgesetz zwei Sozialdemokraten zu verdanken, die sich vehement für ihn einsetzten:
Deren Wortführer im Parlamentarischen Rat, Carlo Schmid, hatte als Rechtsreferendar im Dritten Reich an Exekutionen teilnehmen müssen:
„Nach all dem, was in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland und anderswo durch deutsche Blutgerichte geschehen war, sollten wir Deutschen Zeugnis dafür ablegen, dass in allen Menschen, auch im Mörder, das Leben heilig zu halten ist, und dass diesem Postulat gegenüber kriminalpolitische Nützlichkeitserwägungen keine Argumente darstellen.“
Inzwischen ist es sogar statistisch erwiesen: Die Todesstrafe schreckt keinen Mörder ab. In der Nazizeit wurden nach Schätzungen zirka 30000 Menschen hingerichtet – neben Mord gab es bis Kriegsende 77 weitere Delikte, für die man zum Tode verurteilt werden konnte.
Den SPD-Abgeordneten Friedrich Wilhelm Wagner, der 1933 als Rechtsanwalt den Nazis nur knapp durch Flucht und Emigration entkam, bewog wohl sein eigenes Schicksal zu der Ansicht:
„Ich muss sagen, man sollte es im Jahr 1949 nicht mehr notwendig haben, diesen Antrag ausführlicher zu begründen. Wenn Sie mit dem Töten der Menschen, mit dem Töten von Mensch zu Mensch ein Ende machen wollen, können sie auch nicht dem Staat das Recht geben, Menschen zu töten. Es wird nicht besser, wenn der Staat einem Menschen das Leben nimmt, als wenn es der Einzelne nimmt. Es ist, was es war: eine Barbarei.“
Als einflussreichster Gegenspieler trat der CDU-Abgeordnete und rheinland-pfälzische Justizminister Adolf Süsterhenn auf:
„Ich glaube, dass man grundsätzlich sagen muss, dass dem potenziellen Mörder, der in jeder Volksgemeinschaft lebt, klar gemacht werden muss, dass wenn er vorsätzlich das Leben eines Mitmenschen vernichtet, das Risiko auf sich nimmt, dass auch sein Leben durch die Strafjustiz durch die Verurteilung zum Tode vernichtet wird.“
Übrigens war Süsterhenn auch in den 1960-er Jahren als moralischer Hardliner unterwegs: Auf Ingmar Bergmans Skandalfilm „Das Schweigen“ hin gründete er die „Aktion Saubere Leinwand“, die auch durch Petitionen gegen den künstlerischen Sittenverfall zu Felde zog. Zwei Drittel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion waren 1965 bereit, den Artikel 5 (3) Grundgesetz mit der Einschränkung zu versehen: „Die Freiheit der Kunst entbindet nicht von der Beachtung des Sittengesetzes.“ Wegen des erbitterten Widerstands der SPD und FDP mochte die Unionsführung die Initiative jedoch nicht unterstützen.
Süsterhenn wärmte auch einen Begriff auf, den es spätestens seit der Wilhelminischen Ära gab, und den die Nazis 1935 sogar ins Strafgesetzbuch einführten – das „gesunde Volksempfinden“:
„Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Gesundes_Volksempfinden
Mir ist noch erinnerlich, dass der junge Dieter Hildebrandt den Spruch von der „Aktion Saubere Süsterhenne“ brachte. Heinrich Böll soll angeblich vom „Professor Lüsterhahn“ gesprochen haben.
https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_Saubere_Leinwand
Bis zur Schlussabstimmung war es fraglich, ob sich für die Abschaffung der Todesstrafe eine Mehrheit im Parlamentarischen Rat finden würde. Da half das Schicksal nach: Süsterhenn erlitt am 5. Mai einen schweren Verkehrsunfall und konnte seine abschließende Rede nicht halten.
Am 8. Mai 1949 stimmten von den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates 35 für die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz und 30 dagegen. Dafür votierten geschlossen die SPD sowie jeweils zwei Abgeordnete der KPD, des Zentrums und der FDP. Dagegen waren 27 Abgeordnete der Union und drei der FDP.
Für den Raubmörder Richard Schuh kam die Entscheidung zu spät. Er fiel dem letzten von einem deutschen Gericht verhängten Todesurteil zum Opfer und wurde am 18.2.1949 in Tübingen enthauptet. Der stellvertretende Ministerpräsident des damaligen Landes Württemberg-Hohenzollern, Carlo Schmid, hatte sich noch für seine Begnadigung eingesetzt, sein Chef Reinhold Maier lehnte sie ab. Schmid weilte in Bonn und konnte nicht direkt intervenieren.
Bis 1958 gab es im Deutschen Bundestag sieben Versuche, den Artikel 102 wieder aufzuheben, meist als Reaktion auf besonders schwere Verbrechen. Zu den bekanntesten Befürwortern einer Wiedereinführung der Todesstrafe gehörten der damalige Bundespräsident Theodor Heuss, Franz-Josef Strauß und der CSU-Bundesjustizminister Richard Jaeger („Kopfab-Jaeger“). Nach einer Häufung von Taxifahrer-Morden gab selbst Konrad Adenauer zu Protokoll:
„Ich bin bei bestimmten Verbrechen für Wiedereinführung der Todesstrafe, weil die Entwicklung die Wiedereinführung der Todesstrafe notwendig macht.“
Das Volk hätte der Bundeskanzler jedenfalls auf seiner Seite gehabt: Bis 1967 ergaben Meinungsumfragen stets stabile Mehrheiten in der Größenordnung von 70 bis 80 Prozent für die Todesstrafe. In etlichen Landesverfassungen (Bayern, Rheinland-Pfalz, Saarland, Hessen) stand sie noch Jahrzehnte – was glücklicherweise nicht mehr relevant war, da Bundesrecht Landesrecht bricht. Bayern schaffte die Todesstrafe per Volksentscheid 1998 ab, Hessen erst 2018.
https://de.wikipedia.org/wiki/Todesstrafe#Bundesrepublik_Deutschland
Bemerkenswert war die Einstellung der Richter: 1964 sprachen sich in einer Umfrage 364 für die Todesstrafe und nur 293 dagegen aus. https://www.spiegel.de/politik/galgen-oder-guillotine-a-b27391b9-0002-0001-0000-000037797177?context=issue
Auch heute noch kennen 55 Staaten weltweit die Hinrichtung als Strafe, unter anderem die vier bevölkerungsstärksten Staaten China, die USA, Indien und Indonesien. Was umgekehrt heißt, dass nur ein Drittel der Menschheit in Regionen lebt, welche die Todesstrafe nicht praktizieren.
https://www.demokratiegeschichten.de/%EF%BB%BFartikel-102-lob-dem-grundgesetz/
Zusammenfassend ist es also 1949 wenigen engagierten Politikern mit viel Glück gelungen, die Bundesrepublik von dieser Strafform freizuhalten In der DDR brauchte man zum gleichen Entschluss noch bis 1987.
Könnte sie eines Tages wieder eingeführt werden, sollten politische Extremisten bei uns wieder die Oberhand gewinnen? Von der „Ewigkeitsgarantie“ des Artikels 79 jedenfalls ist der Artikel 102 nicht geschützt. Die Mehrheit der Juristen ist derzeit jedoch der Ansicht: Nein, die Todesstrafe würde bereits dem Schutz der Menschenwürde im ersten Artikel unserer Verfassung widersprechen. Na, wollen wir es hoffen…
Volksentscheide seien eine „Prämie für Demagogen", sagte damals der spätere Bundespräsident Theodor Heuss. Hätten Adenauers Westintegration, Brandts Ostpolitik, der Nato-Doppelbeschluss, die EU-Politik, die Agenda 2010 einem Plebiszit standgehalten?
https://www.zeit.de/wissen/2019-05/deutschland-70-30-grundgesetz-alternativen-gleichberechtigung
Mich graut es jedenfalls bei der Vorstellung, man hätte 2015 über das Grundrecht auf Asyl im Volk abgestimmt. Und meine Stimmung wird nicht besser, wenn ich an die Möglichkeit einer künftigen „Lex Nuhr“ denke, die man in den Artikel 5 Grundgesetz einfügen könnte, so in der Art eines neuen „Sittengesetzes“ zu rassistischen und sexistischen Darbietungen alter, weißer Männer…
Daher meine ich: Plebiszite haben ihre Berechtigung auf kommunaler oder Landesebene – ausgestattet mit einem ordentlichen Quorum. Bei den großen Fragen würde ich das Volk nicht ungefiltert ranlassen. Da bin ich ein Verfechter der repräsentativen Demokratie, die dem Populismus die Schranke gewählter Volksvertreter setzt, die Gesetze im Detail diskutieren und hoffentlich Kompromisse finden.
Wenn man sich näher mit unserem Grundgesetz und seiner Entstehung beschäftigt, wird klar, dass die Überschrift des genialen Provisoriums eigentlich lautet: „Nie wieder!“ Niemals mehr darf das Individuum mit der dumpfen Idee einer „Volksgemeinschaft“ oder eines „Volksempfindens“ unterdrückt werden. Die Hetze gegen demokratische Politiker, die „Altparteien“ (bei den Nazis hieß es „Systemparteien“), Morddrohungen und Anschläge auf ihre Vertreter sorgten für den Niedergang der Weimarer Republik.
Wenn man täglich auf Facebook hundert Mal liest, demokratisch gewählte Volksvertreter seien generell zumindest unfähig, wenn nicht bösartig oder korrupt, lässt das Böses ahnen. Das ist nicht die göttlich inspirierte „Vox populi“, sondern „Vox Rindvieh“.
Auch für Parlamentarier gilt nämlich der Schutz der Menschenwürde im Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Im Verfassungsentwurf stand da noch:
„Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“
Ich kann mit beiden Aussagen gut leben.
P.S. Hier noch eine Dreiviertelstunde exzellenter politischer Bildung, die ich sehr empfehlen kann:
https://www.youtube.com/watch?v=isHiITlKFTY
Ein großartiger Artikel.
AntwortenLöschenSchönen Dank!
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