Eine Schraube locker
„Wer nichts weiß, muss alles glauben.“
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Durch einen Pressebericht wurde ich neulich auf eine sehr interessante Website aufmerksam, die sich „Die lockere Schraube“ nennt.
Gründerin ist die 1981 geborene Stephanie Wittschier, die 2010 ins Lager der Verschwörungsgläubigen abdriftete, als sie mit ihrem Mann eine Sendung über den berüchtigten 11. September sah, die auf angebliche Widersprüche zur offiziellen Version hinwies. Über diverse „Schwurbelseiten“ kam sie schließlich auf das Thema Chemtrails. „Im Laufe der folgenden Monate geriet ich immer mehr in diesen ganzen ‚Verschwörungssumpf‘. Reptiloiden, hohle Erde, der Mond ist ein Raumschiff, Deutschland ist nicht souverän, etc... Alles saugte ich in mich auf und glaubte an den ganzen Müll.“
Große Zweifel kamen der Schreiberin erst, als man in ihrer Umgebung empfahl, wegen der Chemtrails Piloten mit Lasern zu blenden. Mit Unterstützung ihres Mannes und der Einbeziehung seriöser Quellen schaffte Stephanie Wittschier den Ausstieg – eine absolute Ausnahmeerscheinung, wie sie sagt. Dieser Weg sei äußerst schwierig: Sachargumente verfingen gar nicht, am aussichtsreichsten sei noch der Appell ans Gefühl.
Inzwischen gilt die Abtrünnige natürlich als Verräterin und vom System Gekaufte – Hassbotschaften bis hin zu Morddrohungen inklusive.
Ihr Resümee: „Heute kann ich gar nicht verstehen, wie dumm ich doch damals war. Und seitdem mir klar wurde, an was für einen Schund ich da geglaubt habe, habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, andere vor möglichen Gefahren, die hinter so mancher Verschwörungsideologie stehen, zu bewahren.“
https://www.dielockereschraube.de/
Dies versuchen Stephanie und Kai Wittschier nicht nur mit ihrer Website, sondern auch mit zwei Facebook-Accounts: In der privaten Gruppe „Nothing but the Truth - Aufklärung über die Verschwörungsszene“ wird eine Art „Faktencheck“ betrieben, mit „Die lockere Schraube - Aufklärung & Beratung über die Verschwörungsszene“ liefert man eher amüsante bis irre Zitate aus dem verschwurbelten Milieu.
Wer Spaß am Entsetzlichen hat (für mich als Tangoblogger eine Voraussetzung), dürfte langweilige Abende bestens mit Veröffentlichungen wie diesen ausfüllen können:
„Global FightBack Tag, an dem die Menschen die Medien hacken, Banken hacken, Stromversorgung unterbrechen, alle Flughäfen stürmen, Regierungsgebäude stürmen, alle Flugzeuge auseinander nehmen, den Strom abschalten, alle giftigen Chemikalien zerstören und die Wahrheit in Dauersendung im TV ausstrahlen.“
„Es gab auch radium Schokolade, make up, cremes… Etc. Radium ist gut für den Körper, das wissen leider die wenigsten. Politiker und Reiche wollen das ihr Angst habt. Dann gabs die inzinierten Atombomben-Tests, die alle samt fake sind. Schaut euch die ‚Videos‘ genau an und ihr werdet sehen das ihr verarscht werdet.“
„Kein Sex mit Geimpften!!!
Kein Blut von Geimpften!!!
Geimpfte sind unberechenbare SuperSpreader.
P.S. Beim Sex hört der langfristige Spass auf, wenn der Partner ein ‚Geimpfter‘ ist.
Lasst euch vorher den Impfpass zeigen! Beweise das DU UNGEIMPFT bist!“
https://www.facebook.com/DielockereSchraubeOriginal
https://www.facebook.com/groups/NbtT.DasOriginal
Sex als „langfristiger Spaß“ – diese Darstellung dürfte nicht in allen Kreisen Allgemeingut sein… Und dann noch vorher den Impfpass zeigen? Aber Schluss mit den Zitaten, mein Rechtschreibprogramm ist am Durchdrehen!
Mangelnde Bildung ist beim Verbreiten von Verschwörungsmythen sicherlich kein Hindernis. Nach Expertenansicht schützt ihr Vorhandensein aber nicht davor, solchem Irrglauben zu verfallen. Stephanie Wittschier bekennt offen, von politischen Prozessen nie viel verstanden zu haben. Deshalb erschien es ihr ohne weiteres plausibel, dass hinter all der schwer verständlichen Politik ein größerer Plan steckte, dass ‚die Eliten‘ in Wirklichkeit nicht für das Volk Politik machten, sondern eigene Interessen verfolgten.
Wer dagegen klare Vorstellungen davon habe, wie Gesellschaften funktionieren, bleibe skeptisch.
Studien zeigen auch, dass eine extreme politische Haltung, egal in welcher Richtung, anfälliger für Verschwörungsmythen macht. Das Ganze möglichst garniert mit einer ordentlichen Portion Populismus: Die Eliten seien halt korrupt und dienten nicht einer nebulösen Version von „Volksinteresse“, sondern fremden Herren – je nach Geschmack dann jüdischen Bankiers, Geheimdiensten, Kirchen oder Reptilienwesen.
Ich meine, Menschen suchen gerne nach einfachen Erklärungen oder – noch besser – Schuldigen. Die direkte Ursache für eine solche Pandemie – nämlich eine saudumme Mutation eines Virus, das dadurch plötzlich den Menschen infizieren kann – wird emotional nicht akzeptiert. Stattdessen haben das böse Mächte bewirkt – oder der Mikroorganismus ist nur der Vorwand für die Errichtung einer Diktatur.
Wir sollten nicht meinen, dies sei in Corona-Zeiten eine neue Erscheinung. Auf „Wikipedia“ gibt es eine ellenlange Liste aller möglichen „Verschwörungstheorien“. Die Beispiele reichen von der Verfolgung von Juden und Hexen seit dem 12. Jahrhundert über die Flacherdler-Bewegung (ab 1849) bis hin zur AIDS-Leugnung (in den 1980er-Jahren) sowie der QAnon-Idee, die ab 2017 grassierte und auf Facebook tausende Gruppen mit Millionen Unterstützern aufweist.
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Verschw%C3%B6rungstheorien
Halten wir also fest: Realitätsverweigerung als geistige Extremsportart hat es schon immer gegeben – und bei Katastrophen wie der Pest- oder Corona-Pandemie kann sie schon mal zum Breitensport ausarten. Dennoch sehe ich zwei Faktoren, welche diese Entwicklung heute fördern:
Einmal natürlich das Internet: Von Dieter Nuhr stammt der schöne Satz: Früher hätten Spinner, die ihre abstrusen Vorstellungen in ihr Bierglas sprachen, nur einen einzigen Follower gehabt – den Wirt. Keine Tageszeitung hätte ihre wirren Leserbriefe veröffentlicht, kein normaler Verlag ihre verquasten Theorien gedruckt. In seinem Dorf wäre er als der sprichwörtliche Trottel verschrien gewesen. Heute kann man sich in digitalen Blasen widerspruchsfrei bestätigen lassen.
Da ich diesmal nichts von „Brunnenvergiftung“ schreibe, dringt mein Rat vielleicht sogar zum Kollegen Thomas Kröter durch: Kommentare löschen, Urheber sperren – das geht mit wenigen Mausklicks.
Die andere Ursache hängt mit Politikern und anderen Prominenten zusammen:
Ich stelle mir gerade vor, Hans-Joachim Kulenkampff (der vor zwei Tagen Hundert geworden wäre) hätte in den 197er-Jahren die Theorie der Fake-Mondlandung vertreten – unvorstellbar! Promis waren damals Menschen, denen die Mehrheit vertraute. Kulenkampff bekam schon genug Ärger, weil er den Kanzlerkandidaten Willy Brandt öffentlich unterstützte…
Ebenfalls hätte unser oben erwähnter Dorftrottel nicht mal einen Stadtrat gefunden, der seine komischen Ideen verteidigt hätte. Dass eine ganze Bundestagsfraktion unwissenschaftlichen Irrsinn verbreiten würde, wäre damals niemanden in den Sinn gekommen. Heute leben wir in Zeiten, wo selbst Staatspräsidenten horrenden Quatsch behaupten können, ohne sich damit eine Zwangseinweisung einzuhandeln.
Vielleicht
könnten wir bei der Gelegenheit auch im Tango
mit Verschwörungsmythen aufräumen.
Beispielsweise, dass es eine historische Stammform der „traditionellen Milonga“ gegeben habe, wo man die ganzen Códigos erfunden habe. Oder dass es
genau vier führende Tangoorchester
gebe, Piazzollas Musik generell untanzbar
sei – um nur einige Fantastereien zu nennen. Auch in unserem Tanz wären einige Schrauben nachzuziehen.
Ich glaube, es muss bei aller Meinungsfreiheit wieder einen gesellschaftlichen Grundkonsens geben, was seriöse Persönlichkeiten von Übergeschnappten unterscheidet – und wissenschaftlich Belegbares von Hirn-Flatulenzen.
Daher empfehle ich die Initiative von Stephanie und Kai Wittschier – antik formuliert – der freundlichen Aufmerksamkeit meiner Leserinnen und Leser. Es gibt nicht viele Menschen, die den Rückweg aus Sekten oder Verschwörungsmythen finden – und sich dann auch noch trauen, dies öffentlich zu machen.
Dafür meinen höchsten Respekt!
Hier noch Informationen von meinem Lieblingsexperten Torsten Sträter:
https://www.youtube.com/watch?v=kHRwa9Qzpp
Wie ihr Ehemann gerade auf Facebook mitteilte, ist Stephanie Wittschier heute verstorben.
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