Buenos Aires ist auch nicht mehr das, was es nie war…
Die Debatte zum „Tango-Manifest“
des US-Bloggers „Tango Voice“ geht
fröhlich (?) weiter!
Zu meinem großen Erstaunen beschrieb vor wenigen Tagen
ein Kommentator namens „jantango“ auf selbigem Blog,
wie es im Mekka des traditionellen Tango offenbar wirklich zugeht. Ich fand das
zu schön, um es nicht zu übersetzen:
Nach 17 Jahren Tanz auf den Milongas von Buenos Aires kann ich über die
Veränderungen und Evolution berichten, die ich hier gesehen habe.
Chacarera wurde zuerst in den Musikmix im „La Viruta" eingeführt; heute wird
sie auf den meisten traditionellen Veranstaltungen einbezogen.
„Viele Verletzungen der Milonga-Códigos werden von Ausländern begangen.“ Es
gibt Ausländer, die vor mehr als zehn Jahren nach BA gekommen sind, welche mehr
über die Códigos wissen als viele der einheimischen Tänzer. Zum ersten Mal
Reisende stechen aus der Masse heraus, aber wenn sie von Orten kommen, wo die
Milonga-Codes respektiert werden, haben sie kein Problem, sich zu
akklimatisieren.
Die alten Milongueros sterben aus, und die Milonga-Codes sterben mit ihnen.
So ist das halt. Nur im „Cachirulo" versucht man, die Ordnung aufrecht zu
erhalten.
Es gibt jetzt viele Berufstänzerinnen auf den Milongas, die in den letzten
paar Jahren mit Tango angefangen haben. Sie verändern, zusammen mit vielen
Ausländerinnen, die Milonga-Codes. Sie initiieren den Cabeceo Männern gegenüber
und fordern sie sogar am Tisch auf. (…)
Ganz zu schweigen von der eklatanten Missachtung hinsichtlich der
Navigation auf dem Parkett: Viele Frauen, die sich beeilen, zu ihrem Tisch in
der ersten Reihe zurückzukommen, gehen am Rand der Fläche gegen den Tanzfluss,
anstatt den Gang zwischen den Tischen zu benutzen oder auf die Cortina zu
warten.
Der Tanz zur Cortina-Musik ist eine andere Praxis, die es vor 17 Jahren
nicht gab. Die Touristen fingen damit an, und nun machen die Porteños mit.
„Tango for export“ ist ein großes Geschäft, aber er trägt nicht zum guten
Tanzen bei, weder hier noch auswärts. Ein Beispiel ist der Frauentechnik-Kurs,
der im August beim Tango Milonguero-Treffen angeboten wurde. Auf dem Werbevideo
lautet die Beschreibung:
„Konzipiert, um Eleganz, Sensibilität und Musikalität zu erhöhen, umfasst
der Frauentechnik-Kurs einen gründlichen Überblick zu Haltung, Balance und
Spiel mit dem freien Bein in einem beengten Raum. Er ist speziell zugeschnitten
auf die Milonguero-Umarmung, wo die Entspannung mit dem Partner und das
Eingehen auf die Musik, die jeden Schritt festlegt, von besonderer Bedeutung
sind. Sechs Elemente werden erkundet: Gehen, Vorwärts- und Rückwärtsochos,
Boleo, Kreuz und Drehung. Der Kurs beinhaltet auch Verzierungen.“
Wenn Tango primär ein sozialer Tanz in der Umarmung ist, brauchen die
Frauen sich nicht auf ihre Füße zu konzentrieren. Sie sind sensibel, weil sie
sich in den Armen des Partners befinden. Sie teilen die Musikalität in der
Umarmung und bewegen sich elegant. Verzierungen werden verkauft, weil die
Frauen glauben, sie erwerben zu müssen, um ihren Tango zu verbessern. (…)
Das Endergebnis sind Frauen, die sich aufs Tun, nicht auf das Sein im Tanz
und in der Musik konzentrieren. Sie wissen nicht, dass die Männer Partnerinnen
wollen, die zufrieden in der Umarmung und in der gemeinsamen Bewegung sind.
Unglücklicherweise arbeiten die bekanntesten Lehrer in Buenos Aires an der
Front, wo ein sozialer Tanz in einen verwandelt wird, den man nicht mehr als
Tango erkennt.
(…)
Heute werden neben den Milongas in BA 30 Practica angeboten. Ich glaube,
diese Zahl ist 20 Jahre alt, denn eine jüngere Generation ist interessiert am
Lernen, und auf Practica ist es nicht erforderlich, die Milonga-Codes zu
beachten. Neue Tänzer müssen kein bestimmtes Level erreicht haben, bevor sie
auf das Parkett gelangen, wie es in den 1940-er und 50-er Jahren der Fall war.
Die erste offene Practica wurde vor mehr als 20 Jahren im „Cochabamba 444“
abgehalten; davor waren Practicas ausschließlich für Männer. Heute sind es
Quasi-Milongas, die bis in die frühen Morgenstunden dauern, ohne dafür eine
Genehmigung der Ordnungsbehörde zu brauchen.
(…)
Die Zerlegung des Tanzes geht weiter, um Verbindung und Gefühl zu ersetzen.
Das ist die Evolution.
Dazu
die Antwort von Tangovoice, ebenfalls
von mir übersetzt:
Diese ausgezeichneten
Beobachtungen von jemand, der 17 Jahre in Buenos Aires lebt, sind hoch zu
schätzen.
Zur Musik der Cortina
zu tanzen ist auch in Nordamerika üblich. Das verhindert, dass die Tanzfläche
geräumt wird, um beim Start der nächsten Tanda ungestört den Cabeceo zu
verwenden. Dieses Tanzen kann vom DJ kontrolliert werden, indem er als Cortina
keine tanzbare Musik auflegt. (Anm. d. Übers.: Haha, Neotänzer tanzen sogar
auf das Pausenzeichen von Radio Luxemburg!)
Tatsächlich sieht es so aus, als ob es Im Buenos Aires der letzten Jahre
eine starke Zunahme von Tangoveranstaltungen gibt, die als „Practicas”
angekündigt werden. Die meisten davon werden von jungen Tänzern besucht, da sie
eine zwanglose Atmosphäre zum Tanzen Lernen und zur Geselligkeit bieten.
Einige davon sind wenig mehr als eine Bar oder ein Café mit einem
behelfsmäßigen Tanzboden. Viele bieten Livemusik an, die zumeist den klaren
Rhythmus vermissen lässt, der optimal zum Tango tanzen wäre. Es gibt keine
Geschlechtertrennung bei den Sitzplätzen. Der Cabeceo wird selten verwendet.
Mit anderen Worten sind das, bis auf den behelfsmäßigen Tanzboden (wenn
auch nicht in allen Fällen), die Bedingungen der geselligen Tanzveranstaltungen
in der Ersten Welt, die man dort „Milongas“ nennt. Probleme kommen auf, wenn
die Bedingungen dieser Practicas auf Milongas übergreifen, wo man die
Tangotraditionen beachtet.
Meine persönlichen Beobachtungen im Laufe von 15 Jahren beim Besuch von
Buenos Aires und seiner regulären Milongas zeigen einige offensichtliche
Veränderungen:
-
Die Häufigkeit und Dauer sehr bevölkerter Milonga-Bedingungen ging zurück,
wahrscheinlich größtenteils aufgrund wirtschaftlicher Bedingungen, die eine
häufigere Teilnahme sowohl für Argentinier als auch Touristen verhinderten –
obwohl es so scheint, als ob es in den letzten Jahren mehr Touristen auf den
Milongas gibt als in den frühen 2000-er Jahren. (Anm. d. Übers.: Vielleicht liegt‘s auch ein bisschen an der Langeweile…)
-
Die Kleidung wurde über diesen Zeitraum zunehmend lässig. Es gibt mehr
Männer, die keine Anzüge tragen, einige von ihnen haben sogar Blue Jeans an.
Mehr Frauen tragen Hosen oder andere legere Kleidung und nicht ein Outfit, das
zu einer formellen Tanzveranstaltung passt – oder selbst für den Arbeitsplatz
im Büro.
-
Dieser Wechsel der Kleiderordnung schließt Porteños ein, sogar solche im
mittleren oder höheren Alter.
-
Es gibt eine zunehmende Epidemie von Verzierungen bei den Frauen auf
einigen Milongas, meist denen, welche von Tangotouristen besucht werden.
-
Die Fähigkeit zur Navigation hat sich etwas verschlechtert. Einiges davon
ist auf Tangolehrer zurückzuführen, die sich auf Milongas produzieren, die von
Touristen besucht werden, um Tangostunden zu verkaufen. Den Rest kann man wohl
den Schülern dieser Lehrer zuordnen.
Folgende Punkte haben sich offensichtlich auf den Milongas in Buenos Aires
in den letzten 15 Jahren wenig verändert:
-
Die Musik, die zum Tangotanzen aufgelegt wird, blieb weitgehend
unverändert. Man könnte argumentieren, dass die Qualität der DJs, die Musik im
Laufe der Milonga zu arrangieren, abgenommen hat, aber dies ist größtenteils
subjektiv und schwer zu beweisen.
-
In genereller Sicht blieb der Tanzstil weitgehend unverändert. Der
Milonguerostil herrscht weiterhin auf den Milongas im Zentrum vor, obwohl der
Tangostil der Vororte einige Einbrüche dorthin geschafft hat. Man könnte
behaupten, die Qualität des Tanzens habe sich verringert, aber dies ist
wiederum subjektiv und schwer zu belegen, außer der Beobachtung, dass sich die
Navigation auf der Fläche verschlechtert hat, wie es die höhere Rate an
Kollisionen anzeigt – sogar obwohl die Dichte auf dem Parkett abnimmt (oder
vielleicht gerade deshalb).
-
Der Cabeceo ist immer noch die vorherrschende Methode zur Tanzeinladung auf
Milongas im Zentrum. Die nach Geschlechtern getrennte Sitzordnung wurde
beibehalten.
Ich darf mal zusammenfassen:
Buenos Aires gleicht Sodom, wenn nicht gar Gomorra – da
sollte man als rechtsgläubiger Tanguero doch zur Salzsäule erstarren wie weiland
Lots Weib:
Ausländer haben mehr Ahnung von den Milongaregeln als
Einheimische, die oft noch den Touristen Kurse verticken wollen und sich auf
den Milongas entsprechend aufführen – teilweise trotz fortgeschrittenen Alters
in BLUE JEANS!
Frauen in HOSEN blinzeln die Männer aktiv an, wenn sie
diese nicht gleich am Tisch akquirieren, und wollen Verzierungen tanzen, anstatt
sich schlicht und demütig mit einer maskulinen Umarmung zu begnügen.
Die jungen Leute gar weichen auf sogenannte „Practicas“
aus, damit sie die strengen Musik- und Benimmregeln umgehen können. Und
Grünschnäbel dürfen unverzüglich aufs Parkett, tz, tz…
Und man hat ein neues Feindbild entdeckt: Die lange Jahre geradezu gurumäßig verehrten argentinischen Tangolehrer! Na also, geht doch...
Und man hat ein neues Feindbild entdeckt: Die lange Jahre geradezu gurumäßig verehrten argentinischen Tangolehrer! Na also, geht doch...
Obwohl die traditionellen Milongas weniger Zulauf
haben, geht es dort auf dem Parkett immer wilder zu, bei eher abnehmender
Qualität von DJs und Tanzenden.
Die alten Milongueros sterben weg, und was danach
kommt, ist nicht mehr der wahre Jakob. Und auf die Cortinas wird getanzt –
sogar von Porteños – igitt!
Zusammengefasst lautet die Botschaft sozusagen:
In Mekka grillen sie Schweinefleisch!
In Mekka grillen sie Schweinefleisch!
Darauf wären nun zwei Reaktionen denkbar: Entweder „Nein,
das ist nur Tofu“ oder „Auf zum Dschihad, vertreibt die Ungläubigen
aus der Stadt!“ Stattdessen nehmen die Herren eher gelassen zur
Kenntnis, dass BA auch nicht mehr das ist, was es mal war.
Darf ich
schon dran erinnern, dass der Anspruch dieses pompösen Manifests lautete: „Many First World tango dancers who have danced in the milongas of Buenos
Aires desire to have in their home communities a traditional milonga supporting
the customs of Buenos Aires milongas.” Ja, was denn für Gebräuche? Hat es die überhaupt jemals
in dieser reinen und universellen Form gegeben? Heute jedenfalls nicht mehr!
Die
Blaupause, welche man für die restliche Welt einfordert, bezieht sich also auf
gar kein Original, sondern eher eine Wunschvorstellung, wie es in Buenos Aires
angeblich mal war oder es zumindest sein sollte!
Mich
erinnert das an die weltweiten „Oktoberfeste“,
auf denen das Bier noch würziger, die Deandl noch fescher und die Buam noch
uriger sind als in der bayerischen Landeshauptstadt. Mag der japanische Tourist
auch stets jodelnde Bayern, blumengeschmückte Kühe und resche Sennerinnen (oder
umgekehrt) erwarten – die Realität im Südstaat der BRD sieht (gottseidank)
etwas normaler aus. Aber man darf sich ja solche Wunschprojektionen schaffen
und diese dann „Oktoberfest“ oder „traditionelle Milonga“ nennen:
„Das zweitgrößte
Oktoberfest der Welt veranstaltet die chinesische Stadt Qingdao. In drei Wochen
strömen rund drei Mio. Besucher herbei! Die ostchinesische Region war von 1897
bis 1914 eine deutsche Kolonie. Damals wurde die Brauerei Tsingtao gegründet,
die noch heute den Großteil des Biers produziert, das auf dem Oktoberfest aus
den Zapfhähnen läuft. Am Münchner Fest orientiert man sich nicht nur beim
Hauptgetränk, sondern auch modisch: So viele Dirndl wie in Qingdao sind das
ganze Jahr über nirgendwo in China zu sehen.“
Vor
einiger Zeit habe ich schon einmal den Bericht eines Augenzeugen
veröffentlicht, der hinsichtlich Buenos Aires ganz ähnliche Beobachtungen
beschrieb:
Auch
damals reagierte die traditionelle Szene weitgehend ungerührt. So schrieb
Kollege Cassiel, also die „Tango Voice of Germany“:
„Der Veranstalter
gibt den Rahmen vor, das Publikum entscheidet. Dann ist die Frage, ob in Buenos
Aires die códigos gelebt
werden, plötzlich sekundär.“
Ah so. Nur, meine Lieben, eines lasse ich
euch nicht durchgehen: Erstmal mit aufgeblasenen Backen über die „geheiligten
Traditionen“ des Tango-Mekka schwobeln, sich bei schlechten Nachrichten von
dort aber in die Ackerfurche machen.
Von mir aus darf auch jeder im Baströckchen
und mit Knochen im Haar tanzen. Bei der Ableitung dieses Tuns von den
Traditionen Papua-Neuguineas bitte ich jedoch um etwas mehr Sorgfalt!
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