2019 – was war, was wird?


Wenn ich als Blogger auf das zu Ende gehende Jahr zurückblicke, freue ich mich riesig:

Noch nie lagen die Zugriffzahlen so hoch wie heuer: Die bisherige Rekordmarke war im Oktober mit 20631 Aufrufen erreicht – im Schnitt also täglich 665. Über 200 Beiträge sind 2019 erschienen – ebenfalls ein Höchststand. Dies verdanke ich auch Gastautoren, die mir spannende Texte lieferten – ich muss mich ja nicht immer an selbst Geschriebenem delektieren.

Nun würde ich dennoch nie von einer steigenden Übereinkunft mit meinen Veröffentlichungen ausgehen. Es kann jedoch auch nicht sein, dass immer mehr Leute meine Texte für abwegig, langweilig und uninteressant halten. Einiges habe ich wohl richtig gemacht – und das sehe ich als Erfolg.

Ich bin auch sehr froh, Ende Juli die Kommentarfunktion meines Blogs wieder geöffnet zu haben. Die Versuche von Trollen und Anonymen, alte Spielchen erneut zu beginnen, hielten sich seither in Grenzen. Offenbar hat man trotz fallweiser psychischer Verirrung gemerkt, dass es kein Erfolgserlebnis darstellt, ins Leere zu schreiben. Über 150 Kommentare konnte ich seither veröffentlichen – dass sich niemand zu schreiben traue oder ich abweichende Meinungen unterdrücken würde, ist natürlich eine dreiste Lüge. Jeder kann sich vom Gegenteil überzeugen!  

Was mich aber mindestens ebenso freut, sind die maßgeblichen Blogger-Kolleginnen und Kollegen. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen: Noch vor einigen Jahren gab in dieser Sphäre ein Herr „Cassiel“ den Ton an – in seiner „Tangoplauderei“ hetzten er und seine Gesinnungsgenossen gegen alles, was im Tango einen modernen Anstrich hatte. In den letzten zwei Jahren hat er noch genau drei Artikel veröffentlicht.

Inzwischen gibt es zum Tango argentino drei führende Blogs in deutscher Sprache: Die anderen beiden sind „mYlonga“ von Thomas Kröter sowie die „Berlin Tango Vibes“ – und alle agieren liberal und aufgeschlossen, wenngleich in Stilrichtung und Thematik durchaus unterschiedlich. Da kann fast jeder Leser das finden, was ihn interessiert, informiert und anregt – fernab von Ideologie oder gar Sektierertum. Gefallen muss mir nicht alles, aber diese Vielfalt macht mich sehr glücklich!

Die scheint sich – wenn auch gelegentlich noch in homöopathischen Dosen – nun doch im Tango auszubreiten. In der von mir überblickten Region jedenfalls ziehen die Milongas mit gemischtem Musikangebot und ideologiefreiem Reglement immer mehr Besucher an. Und von Leuten, die es wissen müssen, kommt die Botschaft, dass die geschlossenen, regelbewehrten Events stagnieren oder sogar zurückgehen. Selbst Hüter der reinen Lehre" äußern sich inzwischen kritisch zu tänzerischen Rollen-Festlegungen, beklagen Diskriminierung und erklären uns, was am Begriff „traditioneller Tango“ problematisch sei.

All dies sind Standpunkte, die ich in meinem Blog seit 2013 immer wieder vertreten habe. Manchmal kommt es mir vor, als würden meine Gegner von gestern heute von mir abschreiben… Ich sage aber voraus: Die Quotierung nach Geschlecht oder tänzerischer Rolle bei geschlossenen Veranstaltungen hat keine Zukunft, da sie mehr Probleme bringt als löst.

Die verbissenen Debatten über Cabeceo & Co nehmen immer mehr ab, gleichzeitig hört man von einer steigenden Zahl von Veranstaltungen, bei denen das Auffordern durch Frauen – egal in welcher netten Form – ausdrücklich erwünscht ist. Und selbst Hardcore-Konservative (außer in Russland) verwahren sich gegen den Verdacht, etwas gegen führende Frauen zu haben.

Den größten Durchbruch sehe ich aber heuer in der Akzeptanz zeitgenössischer Tango-Ensembles: Die Zahl ihrer Engagements auf Milongas hat explosionsartig zugenommen. Neben reinen „Cover-Gruppen“, welche die alten Arrangements nachspielen, gibt es genug Musiker, die ihren eigenen, zeitgemäßen Stil gefunden haben. Ich finde es aufregend, diese Entwicklung zu verfolgen! Was mich besonders amüsiert: Noch vor mehr als einem Jahr las ich immer wieder von „Fachleuten“, solche Auftritte seien nicht finanzierbar. So viel zum Thema „Experten“

Es gibt aber durchaus noch größere Städte, welche mir wie Inseln des Anachronismus erscheinen: kein frischer Wind, keine Livemusik, keinerlei Öffnung hin zu modernen Klängen – dafür öde Milongas, welche lediglich noch von ein paar Stammgästen aufrechterhalten werden. Man kann dort besichtigen, wie es deutschlandweit ausgesehen hätte, wäre man flächendeckend Sektierern wie Cassiel & Tobler gefolgt.   

Leider gilt dies weiterhin für die Mehrzahl der Tangolehrer. Obwohl ich Kurse schon lange nicht mehr von innen sehe, kann ich an der Werbung und vor allem der Tanzweise der Schüler keine große Wandlung erkennen. Immer noch glaubt man offenbar, Tango in Gruppenkursen vermitteln zu sollen, indem man je zwei Anfänger zusammenspannt, vorwiegend Schritte paukt und an der Mär vom Führen und Folgen" festhält. Hier können wohl nur die Kunden durch Abstimmung mit Füßen und Geldbeuteln Änderungen erwirken.

Gerechterweise muss man aber auch feststellen: Tango ist nicht für alle, auch wenn die Tanzlehrer dies natürlich behaupten. Nur eine Minderheit findet von rhythmischen Schritten wirklich zum Tanzen. Letzteres erfordert neben Begabung viel Zeit, Mühe und Einfühlung in die Musik. Ich glaube nicht, dass hier mehr als fünf Prozent der Menschen realistische Chancen haben.
Worauf es dabei wirklich ankommt, habe ich in einer Serie von Artikeln zu beschreiben versucht:
http://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Was%20Ihnen%20Ihr%20Tangolehrer%20nicht%20erz%C3%A4hlt

Veranstalter dagegen haben teilweise dazugelernt. Viele scheinen gemerkt zu haben, dass man mit dem Aushängen von Códigos oder gar dem Einsatz von Pisten-Aufpassern Besucher eher verscheucht als anzieht. Die Bestrebungen, Milongas flächendeckend auf „Law and Order“-Kurs“ zu bringen, darf man als gescheitert betrachten. Im Gegenteil: Viele bemühen sich inzwischen durchaus um soziale Qualitäten, so dass ich mich, oft trotz der Musik, dort ganz wohl fühle.

Neulich stieß ich zufällig auf einen dreieinhalb Jahre alten Artikel: „Große Schimpflitanei 2010-2016“.

Ich war selber ganz entgeistert von der Sammlung verbaler Grobheiten gegen mich, die ich dort aus den Anfangsjahren zusammengestellt hatte. Inzwischen wirken die wie Botschaften aus einer anderen Welt. Im zurückliegenden Jahr dagegen könnte ich fast vermuten, man fühle sich manchmal bedeutend, wenn man von mir mal veralbert wird. Im Ernst: Ich bekomme eher Zustimmung oder zumindest halbwegs faire Kritik.

Gut, in München meint man immer noch gelegentlich, ich dürfe mich nicht einmischen, wenn man einander mal wieder wegen unsozialen Benehmens niedermacht. Und nicht nur in Berlin gibt es weiterhin Krypto-Machos, die sich oft selber für maßgeblich halten und finden, ich hätte zu viel feministisches Verständnis. Auch einzelne Verwünschungen von Neo-DJs, durchgeknallten Südamerikanern und beleidigten Tangolehrern sowie Veranstaltern hatte ich hinzunehmen. Und natürlich die zeitlosen Vorwürfe, ich würde „illegal“ agieren.
Insgesamt jedoch – gemessen an früheren Shitstorms – eher ein „Mückenschiss“

Neulich hat mir ein Leser „Einseitigkeit“ vorgeworfen. Er weiß wohl gar nicht, wie recht er damit hat: Klar, meine Veröffentlichungen sind stets subjektiv und daher selten Mainstream. Daher wurde ich schon ebenso von Traditionalisten attackiert wie von Contango-Verehrern, werde ich weiterhin Frauen für ihren mangelnden Mut sowie ihr folgenloses Gejammer und Männer wegen ihres fehlenden Einfühlungsvermögens kritisieren, mich dagegen wenden, Disco-Gedudel „Neo-Tango“ zu nennen oder uns mit fast 100-jährigem Bandoneón-Gequäkse zu foltern – und „Ronda-Disziplin“ ebenso ablehnen wie fehlendes Navigationsvermögen.

Da bin ich völlig kompromisslos.

Gerade von Vertretern des konservativen Tango wird in Endlosschleife das Mantra vorgebetet, „jeder könne doch die ihm zusagende Milonga besuchen". Ob dies auch fürs flache Land gilt und welche Mengen an Kohlendioxid man so produziert, sei dahingestellt. Vor allem aber: Ich wäre froh, wenn diese elende Spaltung im Tango überwunden würde und wir uns wieder gemeinsam auf Veranstaltungen treffen, die für jeden und jede etwas bieten! Dafür hat sich dieses Blog immer eingesetzt.

Eigentlich ist es ganz einfach: Wer immer sich im Tango (oder sonst wo) aufbläst und meint, an seinem Wesen müsse die Welt genesen, alle anderen hätten sich daher an seinen rigiden Vorstellungen zu orientieren, wird mein Freund nicht. Ebenso wenig kann man bei mir mit vorgeblichem „Expertentum“ landen, wenn es nur dazu dient, andere klein zu machen. Und absolut nicht mag ich es, wenn man Anfänger beiderlei Geschlechts ignoriert oder auf der Tanzfläche abstraft. Oder gar Frauen (ob führend oder folgend) von Tangoveranstaltungen ausschließt oder nur auffordert, wenn sie Altherren-Fantasien bedienen.

Wer sich solche Sachen herausnimmt, muss damit rechnen, eher früher als später auf meinem Blog zu landen. Ebenso und noch lieber natürlich, wenn er oder sie die Vielfalt im Tango fördert!

Daher wird „Gerhards Tango-Report“ auch 2020 werbefrei und unabhängig bleiben. Neue Trends und Moden wird er stets kritisch begleiten. Wer meint, mir deshalb böse sein zu sollen, tut es auf eigene Rechnung.

Das Schönste im Tango aber ist und bleibt für mich unsere „Wohnzimmer-Milonga“, wo ich einmal im Monat zu genau der Musik tanzen darf, welche mir gefällt – und auch einige andere das gerne tun. Diesen Treff wird es auch noch geben, wenn ich im Rollstuhl an der Musikanlage sitze.

Vielleicht sogar postum.

Foto: www.tangofish.de

Kommentare

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