Gerlinde geht zum Tango
„Männer und Frauen
sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin." Grundgesetz Art. 3
(2)
Ich
habe mich schon seit langer Zeit daran gewöhnt: In den Debatten, in die ich
verwickelt werde, geht es selten um den Inhalt meiner Artikel. Im Beitrag „Männermangel Berliner Art“ gehe ich
durchaus kritisch mit manchen weiblichen Beschwerden im Tango um.
Leider
ließ ich mich dann bei der Beantwortung eines Kommentars zu der Bemerkung
hinreißen:
„Ja,
wir sind im Tango von einer Gleichberechtigung noch weit entfernt.“
Dies
erregte bei einem Leser Widerspruch:
„Es dürfen doch sowohl
Männer als auch Frauen alleine oder in ausgewählter Begleitung zu so gut wie
jeder Milonga gehen, müssen aber nicht, wenn ihnen die Veranstaltung nicht
zusagt. (…)
‚Gleichberechtigung‘
geht um die Rechte, die jemand hat, also das, was man darf oder nicht. Nicht
darum, was sich jemand traut oder nicht traut zu tun. (…)
Natürlich, aber wenn
ich das Recht habe, aber nicht nutze, kann ich nicht darüber jammern, ‚nicht gleichberechtigt‘ zu sein.“
(voller
Wortlaut siehe Kommentarbereich)
Also,
die Damen haben doch die gleichen Rechte
– und können sie auch durchsetzen, wenn sie wollen. Oder?
Ich
versuche, das einmal an einer ziemlich realistischen
Situation durchbuchstabieren:
***
Gerlinde geht jetzt
zum Tango.
Einfach ist das für sie nicht.
Das
Geld reicht nämlich vorne und hinten kaum. Die Weichen dazu wurden schon vor
vielen Jahren gestellt. Während für ihre älteren Brüder das Geld für Gymnasium
und Studium da war, reichte es für sie nicht mehr. Aber sie als Mädchen
brauche das ja auch nicht unbedingt, oder? Und hätte sie es als Minderjährige
rechtlich durchsetzen können, eine höhere Schule zu besuchen?
Nach
einer Lehre als Einzelhandels-Kauffrau heiratete sie denn auch bald, bekam
drei Kinder – und wurde Hausfrau. Der Gatte, ein leitender Manager eines
Großunternehmens, verdiente genug. Hätte ihr Mann Elternzeit beansprucht, wäre
seine Karriere im Betrieb zu Ende gewesen.
Inzwischen
ist die Ehe geschieden: Eine deutlich jüngere Sekretärin hatte sich den fetten
Brocken geschnappt. Schlimmer noch: Er lebt inzwischen mit seiner Freundin im
Ausland, arbeitet dort angeblich für die dortige Zweigniederlassung seiner
Firma. Doch was Genaues weiß man nicht – außer: Er zahlt keinen Unterhalt.
So
agiert übrigens zirka die Hälfte der dazu rechtlich verpflichteten Väter – und ein
weiteres Viertel zahlt zu wenig oder unregelmäßig. Gerlinde ist froh, dass
inzwischen das Jugendamt den Unterhaltsvorschuss bis zum 18. Lebensjahr übernimmt – bis 2017 gab es Zahlungen nur, bis die
Kinder 12 waren – und auch das nur maximal 6 Jahre. 2016 lebten daher zirka 44
Prozent der Alleinerziehenden, so wie sie, in ärmlichen Verhältnissen. Denn:
Der Staat zahlt nur den Mindestunterhalt.
Klar,
der Vater müsste bei seinem Einkommen mehr entrichten. Einen juristischen Anspruch
darauf hat Gerlinde natürlich – und wenn sie sich einen im internationalen
Recht bewanderten Anwalt leisten könnte, würde sie wohl versuchen, sich durchzusetzen. Aber
den juristischen Beistand müsste sie zunächst selber entlohnen – bis sie in ferner Zukunft vielleicht
den Prozess gewinnt… Rechtlich durchsetzbar? Theoretisch schon, praktisch kaum!
Gerlinde
musste deshalb das große Haus aufgeben, das sie gemietet hatten. Sie war froh, eine
Sozialwohnung gefunden zu haben, ebenso einen Halbtagsjob als Verkäuferin. Wenn
sie abends ausgehen wollte, kostete das einen Babysitter – jedenfalls noch
einige Jahre, bis die Älteste groß genug war, auf die Kleineren aufzupassen.
„Jeder kann doch die
Milonga besuchen, die ihm zusagt“ hatte sie schon oft im Internet gelesen. Nun,
sie nicht: Da sie das Auto verkaufen musste, kamen nur Tangotreffs in
Reichweite ihrer U-Bahn-Monatskarte in Frage. Die wenigen Veranstaltungen in
dieser Preislage entsprachen musikalisch und von der Atmosphäre her nicht ihren
Vorstellungen. Ging aber nicht anders!
Diese
Milongas hatten allesamt einen recht konservativen Zuschnitt. Als Frau durfte
sie brav herumsitzen und warten, ob der Blickkontakt zu einem möglichen
Tänzer gelang. Klar war es ihr – falls der Organisator keine expliziten Grenzen
setzte – möglich, einen Mann direkt anzusprechen. Sie wusste nur: Dann drohte
nicht nur ein Korb, sondern auch die kollektive Verachtung – auch von Seiten
der anderen Frauen. Emanzipatorische Sprüche ließ man ebenfalls lieber – die Tangowelt
wurde, nicht nur im Internet, nach wie vor von Männern dominiert. Juristisch alles einwandfrei...
Sie
war also faktisch gezwungen, sich dem kollektiven Wettbewerb um Jugend und
Schönheit auszusetzen – für sie nicht nur altersmäßig ein Problem. Der neueste
Tangofummel oder die original argentinischen Stöckelschuhe waren nicht drin.
Klar wusste sie: Die Aufforderungschancen stiegen mit der Tiefe des Ausschnitts
und der Höhe des Rocksaums. Nun – weglassen kostet zwar nichts, aber da wäre
sie sich nicht nur arm, sondern billig vorgekommen.
Wollte
man in ihrer Lage allzu zimperlich sein, was männliche Übergriffigkeiten
betraf, kam man zu noch weniger. Daher sagte man lieber nichts, wenn gewisse
Tangueros mit Vorliebe Figuren übten, welche zwischen die Beine der Partnerin
gingen – und natürlich die enge Haltung im Schraubzwingengriff bevorzugten.
Sie
hoffte nur inständig, der klebrige Typ von neulich würde nicht wieder anwesend
sein, der ihr das letzte Mal nach dem Tanz den Hintern tätschelte. Sicherlich
nach § 184i StGB ein Tatbestand, der mit maximal 2 Jahren Haft bedroht ist.
Nur muss man es schon einmal beweisen: Hätte sie durch die Milonga laufen und
sich Zeugen (falls es die gab) notieren sollen? Anzeige erstatten? Mit welchem
Erfolg?
Sie
hatte dem Kerl lediglich in scharfer Weise mitgeteilt, dass er solche Dinge
unterlassen solle. Sie wusste aber von Kolleginnen: Daran würde er sich
voraussichtlich nicht halten. Also zum Veranstalter laufen und sich beschweren?
Würde der den Schneid haben, sich einzumischen? Juristisch dazu zwingen konnte man ihn nicht.
Gerlinde
geht weiterhin zum Tango. Und sie ist selbstverständlich gleichberechtigt. Die volle
Verwirklichung des zweiten Satzes im berühmten Artikel 3 (2) wird sie
vielleicht nicht mehr erleben:
„Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung
bestehender Nachteile hin."
***
Daher
sage ich zu der eingangs zitierten Ansicht:
Man darf Menschen, die ihre Rechte nutzen, keine Bereitschaft zum Martyrium zumuten.Männer führen, Frauen folgen? www.tangofish.de |
Hi Gerhard,
AntwortenLöschendu bemühst wirklich das Grundgesetz, weil es Gerlinde beim Tango nicht einfach hat?
Wirklich?
Willst du echt einen derartig totalitären Staat, der sich in die Privatangelegenheiten der Menschen einmischt (Milongas sind Privatveranstaltungen!) und dort alles zu regeln versucht??? Du willst bei jeder deiner Wohnzimmermilongas einen Politoffizier dabei, der kontrolliert und dann bestätigt, dass bei dir auch alles schön gleichberechtigt zugeht?
Irgendwie kann ich nicht glauben, was du da geschrieben hast.
PS: die Grundrechte waren mal Abwehrrechte der Menschen gegen(!) den Staat. Diese so zu verstehen scheint auch lang her zu sein.
Lieber Robert,
Löschenvielleicht solltest Du mal lesen statt zu glauben.
Ich wüsste nicht, dass ich "Politoffiziere" (gibts bei uns eh nicht, heißen hierzulande Polizisten oder Staatsanwälte) für Milongas (sind übrigens meist nicht privat, sondern öffentlich) gefordert hätte. Und wie es bei uns in Pörnbach beim Tango zugeht, müsstest Du ja selber wissen.
Mein Vergleich betraf das Thema "Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit". Gerlinde leidet vor allem daran, dass ihr Exmann sich vor dem Unterhalt drücken kann - nur 23 Prozent der Unterhaltsvorschüsse können vom Jugendamt dann eingetrieben werden. Wir alle zahlen also von unseren Steuergeldern solche Typen.
Und ja, es ist auch auf Milongas nicht ganz einfach, unangemessenes Verhalten, obwohl teilweise strafbar, zu ahnden. Dazu braucht es aber keine "Politoffiziere", sondern aufmerksame Veranstalter, die sowas nötigenfalls unterbinden - vor allem aber durch ihre soziale Intelligenz ein Klima schaffen, in dem Derartiges gar nicht erst entsteht.
Wir haben übrigens in Pörnbach schon mal einen Gast wegen solcher Tendenzen rausgeschmissen.
Natürlich sind die Grundrechte auch Abwehrrechte gegen staatliche Einflussnahme. Aber - das hat das Bundesverfassungsgericht schon in den 50-er Jahren festgestellt: Sie gelten ebenso für den zivilrechtlichen Bereich, also für den Umgang der Bürger untereinander.
Schöne Grüße
Gerhard
"Mein Vergleich betraf das Thema "Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit". Gerlinde leidet vor allem daran, dass ihr Exmann sich vor dem Unterhalt drücken kann - nur 23 Prozent der Unterhaltsvorschüsse können vom Jugendamt dann eingetrieben werden. Wir alle zahlen also von unseren Steuergeldern solche Typen."
LöschenDa gibts dann immer wieder mal markige Sprüche von Politikern, dass man "diesen Typen" z.B. den Führerschein deswegen entziehen will u.ä. Raus kommt dann regelmässig, dass die meisten, die keinen Unterhalt zahlen, diesen gar nicht zahlen können, diese Männer können sich einen Milongabesuch sowieso nicht mehr leisten (PS wusstest du, dass die unterhaltspflichtigen Damen, die es doch gelegentlich gibt, eine erheblich schlechtere Zahlungsmoral als die Männer aufweisen?).
Aber bei derartigen Themen stell ich bei dir immer wieder eine bemerkenswerte Einseitigkeit fest (auch wenn du gelegentlich auch den Frauen ihre Verantwortung für ihr Leben nahelegst).
PS: "Wir haben übrigens in Pörnbach schon mal einen Gast wegen solcher Tendenzen rausgeschmissen." Sehr gut. Aber das hast du als Veranstalter gemacht, und den vermutlich nicht durch die Polizei mit Berufung auf den Artikel 3 des Grundgesetzes abholen lassen. Oder?
Und jetzt drehen wir uns im Kreis: was zwingt eine Frau wieder auf eine Milonga eines Veranstalters zu gehen, der Übergriffigkeiten beiseitewischt und diesbezügliche Beschwerden ignoriert?
Weil sie ohne Auto halt sehr eingeschränkte Möglichkeiten zum Milongabesuch hat. Und die Polizei orientiert sich eher am StGB und der StPO. So schlimm wars aber damals nicht.
AntwortenLöschenÜbrigens den im Text verlinkten FAZ-Artikel schon gelesen? Dort findet man die genauen Zahlen: In 88 Prozent der Fälle sind die Männer unterhaltspflichtig, der Anteil der Herren mit unzureichendem Einkommen beträgt etwa 50 Prozent. Wie viele von ihnen sich lediglich "arm rechnen", weiß man nicht - ist aber eine beliebte Methode, den Zahlungen zu entkommen.
Wenn Du verlässliche Quellen hast, wieviel Prozent der Damen nicht den vollen Unterhalt zahlen - bitte, gerne hier veröffentlichen. Halte ich durchaus für möglich, da Frauen statistisch weniger verdienen.
Und klar, meine Blogartikel sind völlig einseitig, da ich stets nur meine persönlichen Ansichten vertrete. Das billige ich übrigens auch allen Gastautoren zu.
Daher gelte ich sowohl als Gegener des traditionellen Tango wie auch des Neo- und Contango, als rechts gestrickt sowie als linke Socke, als Frauenversteher als auch als Emanzipationsgegner.
Ich fühle mich recht wohl damit.