Traditionell? Ach, war nicht so gemeint…
Wenn
es im deutschsprachigen Tango zwei „Bußprediger“
gab, die für den konsequenten Rücksturz
unseres Tanzes in die 1930-er bis 50-er Jahre sorgten, so waren es
sicherlich der Blogger Cassiel und
die Tangolehrerin Melina Sedó. „Traditionell“ wurde vom Kampfbegriff zum absoluten Qualitätssiegel aller „traditionellen“ Milongas, wo
selbstredend nur „traditionelle TJs“ „traditionelle
Musik“ in „traditionellen Tandas und
Cortinas“ auflegen durften, inklusive der „traditionellen Códigos“. Dass man damals nicht auch noch „traditionelle Unterhosen“ verordnete,
halte ich für puren Zufall.
Die
Folgen sind bis heute fast
flächendeckend zu besichtigen: In weiten Teilen hat der Tango argentino den
Anschluss an die moderne kulturelle
Entwicklung verloren.
Bereits
vor einigen Monaten begann nun einer der Erfinder zu grübeln:
„Traditioneller Tango
… Welche Tradition soll es denn sein?“ lautete der Titel eines ziemlich
nachdenklichen Artikels von Blogger Cassiel.
Ich hatte ihn damals kritisch besprochen:
Vor
einigen Tagen legte nun die Traditions-Erfinderin Melina Sedó nach. Unter dem Titel „Tango Traditions“ beteiligt sie sich an der Meisterschaft im
Zurückrudern:
Da
sich Melina generell nur in Englisch ausdrückt, fasse ich den
Inhalt ihres sehr langen Elaborats zusammen:
Ihr
Beitrag solle zeigen, „wie fließend das
Konzept der Traditionen im Tango tatsächlich ist und wie sorgfältig man mit
diesen Ausdrücken umgehen muss“.
Das
mit den berühmten „Códigos“ sei halt
so eine Sache:
Nach
den 50-er Jahren wäre der Tango in Argentinien ja so gut wie ausgestorben gewesen. Nur noch im
privaten Umfeld und auf der Bühne überlebte er in Resten bis seinem Revival
Ende der Siebziger. Und erst in den späten 80-er und dann 90-er Jahren meldeten
sich die „alten Milongueros“ mit ihren Erinnerungen zu Wort, wie man früher in
den Salons tanzte. Aber auch diese Tänzer
waren in der Blütezeit des Tango noch sehr jung und bekamen vieles nur aus zweiter Hand mit – Verklärung der Erinnerungen inklusive:
„Es gab keine ‚ungebrochene
Tradition‘ des Tanzes und seiner Verhaltensregeln.“ (…) Lasst uns also ehrlich sein: Die
Wiederbelebung der Tangokultur war auch eine sehr komplexe Neuerfindung, und
vieles von dem, was wir zu wissen glauben, ist purer Mythos.“
Das
wollen wir dann schon mal zu Protokoll
nehmen…
Ab
dem Ende des 20. Jahrhunderts begann sich Melina
Sedó mit dem Tango zu beschäftigen. Von Reisenden nach Buenos Aires erfuhr
sie „wilde Geschichten“:
„Sie denken, dass Aufforderungen
in BA immer und überall mit Mirada + Cabeceo erfolgten? Nee. Bei manchen
Milongas war es völlig in Ordnung, wenn Männer eine Frau direkt fragten.
Auf anderen brauchte
man die Erlaubnis von Mutter oder Ehemann. Anderswo verwendete man frühe Formen
von Mirada und Cabeceo.
Gleiches gilt für die
musikalischen Programme. Sie glauben, dass Tango immer in Tandas mit Cortinas
präsentiert wurde? Weit davon entfernt! Einer der bekanntesten argentinischen
DJs, die Anfang der 2000er Jahre durch Europa tourten, war Felix Picherna.
Soweit ich mich erinnere, hat er keine Cortinas verwendet, er hat die Zahl an
Tangos, Milongas und Valses zufällig verändert und manchmal sogar alle drei
Stile in einem Tanda gemischt. In diesen Jahren, als der authentische
Gesellschaftstanz der Porteños auf der ganzen Welt verbreitet wurde, war also
keineswegs klar, was authentisch eigentlich bedeutete.
(…)
Der Rest der ‚Regeln‘
variierte je nach Milonga oder war vage. Es gab keine Tangotradition. Es gab so
viele wie Milongas oder zumindest Stadtviertel."
Nehmen
wir also zu Protokoll: „Es
gab keine Tangotradition.“
Hätte
man uns auch früher sagen können…
Melina
und ihre Mitstreiter hätten sich somit entscheiden müssen, was es bedeute, „Milongas
wie in Buenos Aires“ zu veranstalten. Ähnlich in Argentinien, wo man
ungeschriebene, fallweise hier oder dort geltende Regeln für die Touristen via „Códigos“
festzurren wollte.
Und
dabei habe es natürlich sehr genützt, das böse
Wort zu verwenden:
„Und um diese Códigos
umzusetzen, hat es geholfen, sie (zumindest virtuell) auf Tradition zu gründen.
Hier wurde der Begriff ‚traditionell‘ wichtig: ‚So haben wir es immer gemacht,
das sind unsere Traditionen‘, was dazu beitrug, dass die Menschen die
Richtlinien respektieren. Damals war ich mir dieses kreativen Prozesses nicht
so sehr bewusst, aber rückblickend finde ich es erstaunlich, wie jeder dazu
beigetragen hat, eine Reihe gemeinsamer Traditionen zu formen.“
Halten
wir fürs Protokoll fest: Die heutige
gültigen Códigos wurden Anfang
dieses Jahrtausends neu erfunden –
nach dem, was vermutlich in früheren Zeiten da oder dort mal üblich war. In Europa tanzen wir seither nach der „Saarbrücker Etikette".
Es
folgt nun eine Aufzählung der üblichen
Regularien. Interessant, was die Autorin zur Musikauswahl schreibt:
„In den letzten
Jahren hat der Brauch, neuere und zeitgenössische Orchester zu verwenden, eine
Wiederbelebung erfahren. Einige DJs spielen jetzt ausschließlich 40s-60s +
contemporary. Dies ist eine Frage des persönlichen Geschmacks und der
Anweisungen, welche die Organisatoren bestimmter Veranstaltungen geben.“
Auch
bei der Form von Aufforderungen sei
sie offen für Neuerungen. Noch benutze sie Mirada und Cabeceo:
„Aber wer weiß, was
die Zukunft bringt? Höchstwahrscheinlich eine spezielle App für das Telefon.
Ich werde sicherlich zu den Ersten gehören, die es ausprobieren.“
Ebenfalls
lässt St. Petersburg grüßen:
Selber,
so die Autorin, stehe sie Rollenwechslern
und gleichgeschlechtlichen Paaren
positiv gegenüber. Da diese Tendenzen derzeit zunähmen, gebe es auf der
Gegenseite eine gewisse Radikalisierung.
„Sie werden
hyper-traditionell und reagieren dementsprechend, z.B. durch Organisation von
Veranstaltungen, bei denen der Tanz in einer geschlechtstypischen Rolle nicht
nur verpönt, sondern eigentlich verboten wird. Ich finde das bedauerlich,
verstehe es aber auch als natürlichen Verlauf menschlichen Verhaltens, wie wir
es in allen anderen Bereichen der Gesellschaft und Politik sehen können. Ich
hoffe, dass es sich - nach einer gewissen Zeit der Reibung - in einer neuen,
freieren Behandlung dieser spezifischen Frage auflösen wird.“
Melinas Fazit:
„Also ... Traditionen
... ein schwieriges Konzept im Tango!“
„Ich habe tatsächlich
bewusst an diesem Prozess der ‚Traditionalisierung‘ teilgenommen. Aus diesem
Grund bin ich auch kritisch gegenüber der Überbeanspruchung des Wortes. (…)
Aber diese Richtlinien wurde von keinem Tangogott in der Epoca d'oro in Stein
gemeißelt und waren nie universell. Sie waren immer in verschiedenen Gemeinschaften
unterschiedlich und werden ständig an die Bedürfnisse jeder neuen Generation von
Tänzern angepasst. Einige Códigos sind sehr neue Entwicklungen.
(…)
Weil Tango kein
anachronistisches Rollenspiel ist. Er ist das wirkliche Leben.“
Tja,
da hat man sich zehn Jahre daran abgearbeitet und liest nun tränenden Auges
solche Sätze… Manche könnten von mir sein!
Mir
fällt dazu eine private Geschichte
ein:
Als
ich vor vielen Jahren mit Karin eine gemeinsame Bleibe suchte, wurde uns die
Anmietung eines „Austrags-Häusls“ in einem kleinen Dorf angeboten. Was den
Bauern allerdings gewaltig störte: Wir waren damals noch nicht verheiratet –
man war dort sehr katholisch. Nach einigem Zögern – und wohl wegen seiner
bisherigen vergeblichen Versuche, das ziemlich runtergekommene Gebäude
anderweitig loszuwerden – kriegten wir schließlich den Zuschlag. Und heirateten bald darauf.
Einige
Zeit später bekam freilich das Töchterlein – ebenfalls noch unverehelicht – ein
Kind. Was wir durch den Dorftratsch längst wussten, wurde uns schließlich auch
offiziell mitgeteilt. Das listige Bäuerlein kommentierte dies mit der „Nationalhymne
der Wendehälse“:
Illustration: www.tangofish.de |
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