Viedäoo!
„Denn, was man schwarz auf weiß besitzt,
Kann man getrost nach Hause tragen. “
(Goethe: Faust I)
Ziemlich oft besuchen wir eine lokale Milonga, die wirklich auf fast jede Art von Glamour verzichtet und uns schon deshalb recht sympathisch ist. Zudem kümmern sich die Gastgeber wirklich sehr nett um die Besucher, mit denen sie auch viel tanzen. Dass die Musik zu mindestens 98 Prozent altbacken ist, nehmen wir als Kollateralschaden hin.
Vor der Milonga gibt es meist irgendwelche Kurse, die ein argentinischer Tangolehrer veranstaltet. Da in diesen Kreisen Pünktlichkeit nicht zu den zentralen Kompetenzen zählt, kriegen wir öfters noch das Ende der Lehrveranstaltung mit.
Neulich erlebten wir, dass der Meister sich gegen Schluss mitten auf dem Parkett aufbaute und „Viedäoo“ rief, woraufhin die Schülerinnen und Schüler brav ihr Smartphone zückten und das aufnahmen, was der Maestro ihnen zusammen mit der Chefin vortanzte. Zu sehen war wohl die Schrittfolge, von welcher der Tangolehrer annahm, seine Gäste hätten sie gelernt – oder würden es noch tun.
Übrigens – auch das kriegten wir am Rande mit – durften nur diejenigen filmen, welche den Lehrgang auch bezahlt hatten. Daher bemühten wir uns, wegzuschauen.
Letztlich kenne ich das Verfahren von vielen Veröffentlichungen auf YouTube. Das Smartphone in Kopfhöhe als typische Armhaltung im Tango ist fast schon so populär wie die Boa constrictor-Umarmung:
https://www.youtube.com/watch?v=jE91Q0OzQrg
Kürzlich diskutierte ich mit einer Tangofreundin das aktuelle Thema „Digitalisierung im Bildungsbereich“. Persönlich halte ich das nicht für den Schlüssel zur Behebung der Misere. Ein guter Unterricht ist, so meine ich, ebenso – vielleicht sogar besser – mit Kreide und Tafel möglich.
Was würde ich heute – bei einer Aktualisierung meines „Lehrer-Retters“, dazu schreiben? Vielleicht das, was mal der genialste Zahnarzt, den ich je hatte, für seinen Bereich vorschlug: „Ich sollte mir ein neues Praxisschild machen lassen – mit der Aufschrift: „Wir machen Implantate… raus!“
Meine Freundin erzählte mir auch von einem Seminar, an dem sie kürzlich teilnahm. Die Dozenten hätten wichtige Begriffe auf Zetteln dabeigehabt, welche sie der Reihe nach auf einem Flipchart befestigten. Und was taten die meisten Teilnehmer? Sie fotografierten das Ergebnis ab!
Ich hätte mir die Begriffe aufgeschrieben. Diese Tätigkeit regt nämlich zu einer geistigen Verarbeitung an: Wie sind diese definiert, welche Zusammenhänge bestehen, was folgt daraus? Auch solche Dinge hätte ich dazu notiert. Will sagen, es wäre hoffentlich zu einer persönlichen Beschäftigung gekommen. Im anderen Fall ruhen die Wörter lediglich im Fotospeicher des Smartphones. Sollte man das Bild überhaupt wieder aufrufen, wird es schwierig, sich an das Drumherum zu erinnern.
Beim Video einer Tango-Figur ist es kaum anders: Bestenfalls kann man das Ding so nachtanzen. Im anderen Fall hätte man sich die Abfolge schon mal merken müssen – vielleicht wäre es so zum Experimentieren gekommen, zu Anpassungen an den eigenen Tanzstil, zur Speicherung im Bewegungsgedächtnis.
Ich fürchte aber, in den meisten Fällen schaut man sich das Video gar nicht mehr an. Schließlich kommt ja die Woche darauf ein neues. Es lebe die Abwechslung!
Klar, mir ist nicht im Einzelnen bekannt, wie der Kurs vorher verlief. Ich ahne aber: Der Meister tanzt etwas vor, die anderen sollen es nachmachen: Methode „Video“.
Wieso schickt man den Teilnehmenden den ganzen Lehrgang nicht gleich als Bilddatei? Das würde eine Menge Fahrkosten sparen!
In meinem alten Beruf sah ich stets die wichtigste Maxime darin: Der Unterricht muss besser sein als die Schulbücher. Sonst könnten die Kinder gleich zu Hause bleiben. Beim heutigen Zustand der Bildungsstätten wäre das häufig die bessere Variante. Zumindest wären dann vermutlich die Klos sauber.
Zu Goethes Zeiten schrieb man noch mit Tinte und Federkiel – schwarz auf weiß. Die bunten Videos kannte der Dichter nicht. Das Nachbeten von Lehrmeinungen jedoch war ihm im „Faust“ durchaus eine Ironie wert:
„Habt euch vorher wohl präparirt,
Paragraphos wohl einstudirt,
Damit ihr nachher besser seht,
Daß er nichts sagt, als was im Buche steht;
Doch euch des Schreibens ja befleißt,
Als dictirt’ euch der Heilig’ Geist!“
P.S. Bevor der Einwand kommt: Natürlich ist mir klar, dass Tangokurse auch der gesellschaftlichen Begegnung dienen. Einverstanden! Nur sollte man dann das lästige Tanzen lassen – und die Musik leiser drehen…
AntwortenLöschenHerr Riedl,
auch, damit Sie nicht denken, dass ich ihnen - in allem grundsätzlich - widerspreche, stimme ich Ihnen bei diesem gelungenen Artikel in allen Punkten zu. Seitdem ich in meinen Kursen Vidäoo-Aufnahmen per Smartphone nur dann erlaube, wenn diejenigen, die filmen, bei der nächsten Stunde den Unterrichtsstoff - erarbeitet - vor der Gruppe vorführen müssen, ist es mit der Filmerei etwas zurückgegangen, was ja Ihre These mit dem Film-Nirwana-Archiv etwas bestätigt.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Donnerwetter, das nenne ich pädagogische Wirksamkeit!
LöschenKlar, wenn ein Video die Grundlage für eine Auseinandersetzung mit dem Lehrinhalt führt, ist das völlig in Ordnung.
Als Tangoschüler hätte ich diese Herausforderung gerne angenommen.