Willy Riedl: „Stille Nacht“ im Viehwaggon
Diesmal kommt der Weihnachtsbeitrag von meinem Vater. Über den Krieg und vor allem seine Kriegsgefangenschaft in Russland konnte er viele Jahre nicht sprechen. Als ich zirka Vierzehn war, begann er allmählich zu erzählen. Den folgenden Text habe ich in seinem Nachlass gefunden:
"Stille Nacht" im Viehwaggon
Heiliger Abend 1949 Bahnhof Brest in einem der Züge, die dort seit Tagen schon unter strenger Bewachung standen, und unter den tausenden deutscher Kriegsgefangenen auch Er.
Auf Breitspur waren sie aus dem Norden, Süden und Osten gekommen, und auf Schmalspur sollte es in den Westen weitergehen.
Zehn und mehr Jahre Krieg und hinter Stacheldraht, Lager in der Taiga, Tundra und am Eismeer, Donezbecken, Kasachstan und dem Ural hatten sie nun hinter sich, und aus dem fernen Osten waren sie seit Monaten schon unterwegs. Immer wieder ausgeladen, neues Lager, Zählappelle, Name, Vatername, immer wieder aussortiert, und alles hatte seinen Grund.
Der Beschluss der Alliierten, bis 31. Dezember 1949 alle Kriegsgefangenen zu entlassen, war den Russen zu früh gekommen. Kommissare, statt mit ihren Spitzeldiensten alles auszuhorchen und die Opfer zu vernehmen, mit Pistole und Versprechungen Geständnisse zu erpressen, hatten die ganzen Jahre mehr gesoffen und gehurt. Nun hatten sie es eilig, auch für die nächsten zehn und zwanzig Jahre Arbeitskräfte zu beschaffen.
Günther, Karl und „Er“ hatten auch das letzte Lager Lublino nördlich Moskau hinter sich – Lublino, wo jetzt am Soldatenfriedhof unsere Staatsmänner ihre Kränze niederlegen…
Lublino, wo bis zuletzt jede Nacht die „Grüne Minna“ kam, müde Kumpels von den Holzpritschen gerissen, mitgenommen wurden und nicht mehr wiederkamen – wo selbst morgens noch an der Wache Kumpels von den Lastwagen geholt, mitgenommen wurden, nicht mehr zur Arbeit durften, und am Abend nicht mehr da waren.
„Wisst ihr“, sagte Günther in die Stille, „… dass heute daheim Heiliger Abend ist?“
Er hatte noch im Oktober nach Hause geschrieben, an seine Mutter, seine Frau und seine drei Kinder, dass er Weihnachten daheim sein würde, und dann hatten die Verhöre begonnen.
Günther, Futtermeister beim Nachschub… Seine Pferde, gestohlene Pferde, hätten russischen Hafer und russisches Gras gefressen. Diebstahl sozialistischen Eigentums? Nein! Pferde und Hafer waren doch aus Deutschland! Auch das Heu! Und deutsche Pferde haben auch kein Gras gefressen!
Karl, Lokführer bei der Reichbahn. Vorwurf: Verschleppung russischer Frauen und Männer nach Deutschland als Zwangsarbeiter. Nein! Er geriet doch in Gefangenschaft! Schon auf der Hinfahrt mit Nachschub für die Truppe! Nur Lebensmittel! Ja, für die Pferde auch Hafer und Heu! Auch er hatte im Oktober geschrieben und wollte Weihnachten daheim sein.
Aber der lange Arm der Zentrale reichte auch bis Brest. Nur wurde jetzt nicht mehr von den Pritschen gerissen. „Aussteigen zum Zählappell“, hieß es nur noch jeden Tag. Und: „Alles mitnehmen!“
Alles? Es war doch bei den meisten nur das alte Wehrmachts-Kochgeschirr, die verrostete Blechbüchse mit einer Schnur um den Bauch.
Endlich zum Schmalspurzug, wo die Lok nach Westen zeigt?
Nein! Immer wieder Name, Vatername und Waggon-Nummer. Es wurden Listen abgehakt, und zurück in denselben Zug. Aber immer wieder fehlte einer, blieb ein Platz auf den Brettern leer, und die Schreckensmeldung, nur geflüstert: „Irgendwo steht ein Zug Richtung Osten, der wieder beladen wird.“
Auch Karl, der Lokführer, kam nicht mehr zurück. Sein Zug war damals auch durch Partisanengebiet gefahren, wo Geleise und Züge gesprengt und geschossen und erschossen wurde, und – auch Günther wusste es.
Und Er? Auch er war noch nicht daheim.
Daheim? Er wusste nicht einmal, wo das jetzt ist.
Weihnachten 1949 am Bahnhof Brest zwischen Breitspur aus dem Osten und Schmalspur nach Westen, und schon das fünfte Weihnachten hinter Stacheldraht…
1945 Weihnachten im Arbeitslager Uglitsch – Brennholz nur für die Küche. Und für die Krankenbaracke? „Selber holen“, hieß es bei der Lagerleitung. Alles, was nicht bettlägerig war, unter strenger Bewachung zu einem Nebenarm der Wolga, der zugefroren war, zu Flößen in meterdickem Eis. Jede der zwölf Mann starken Arbeitsgruppen musste mit Eisenstangen und Holzstücken, die herumlagen, einen acht Meter langen und bis zu 40 Zentimeter dicken Holzstamm aus dem Eis hacken, kratzen und scharren, schultern und ins zwei Kilometer entfernte Lager tragen. Je mehr Knochengerüste zusammenbrachen, desto weniger blieben zum Schleppen, und zuletzt wurden die Stämme nur noch, wo Schnee lag, gezogen, geschoben und gezerrt. Von 48 Holzholern hatten mit ihm 45 überlebt.
1946 im Krankenlager Galitsch – verlauste und halb verhungerte Jammergestalten aus den umliegenden Waldlagern hatten mit dem Fleckfieber auch das Sterben mitgebracht, und dazu die erste Post von daheim. „Adressant abgereist“ las er. Es war seine erste Karte, die Er im Oktober nach Hause geschrieben hatte.
1947 Weihnachten im Arbeitslager Perekop: Von der Suchpost erhielten die westlichen Suchdienste nichts. Lagerauflösung und erste Vernehmung: „Wer bist du?“ Name und Vatername wurden ihm nicht mehr geglaubt. Transport ins Arbeitslager Jaroslavl, dann Moskau.
1948 Weihnachten im Arbeitslager Lublino nördlich von Moskau – erstes Lebenszeichen der Angehörigen, zustande gekommen durch einen Heimkehrer über den Suchdienst des Roten Kreuzes in München… Sie leben! Im Westen! In Bayern! Unterdolling? Noch nie gehört, und von nun an wie Musik.
Aber nun: „Wo warst du?“ Soldbuch von den Tschechen abgenommen. Lebenslauf auf einem Blatt Papier abgeliefert und jetzt in den Akten – nichts wurde mehr geglaubt.
1949 Vorweihnacht im gleichen Arbeitslager Lublino – 10. Dezember: Morgens auch Er von den Arbeitskommandos getrennt. 10 Uhr letzte Vernehmung, die Pistole auf dem Tisch… „Du NSFO“ (nationalsozialistischer Führungsoffizier – zuständig für die Gegenpropaganda). Die russischen Kommissare wurden schon bei der Gefangennahme erschossen.
Und Er: „Nein, und ich war auch vorher nie in Russland!“ Und dann schrie er, wie man schreit, wenn es um Leben und Tod geht. Auch beim deutschen Lagerkommandanten, Russenwerkzeug und zuständig für Disziplin und Ordnung wie vorher in seinem Wehrmachts-Truppenteil, schrie Er, aber anders als vorher: „Ich will zum Bahnhof, Bretter nageln!“ Am Lagertor – Name, Vatername, langes Warten – und Er durfte mit, auch drei Tage später zum Zug. Aber als der anfuhr, waren auch zwei Bretternagler nicht mehr dabei.
26. Dezember, zweiter Weihnachtstag, Bahnhof Brest – auch sein Schmalspurzug setzte sich nach sechs Tagen Horror Richtung Westen in Bewegung.
28. Dezember, Ankunft Frankfurt/Oder – russisches Lager, und noch einmal Name, Vatername – wehe, man hätte sich in der Aufregung versprochen und etwas anderes genannt als damals vor fünf Jahren nach dem ersten „Hände hoch“! Und dann endlich das kleine Zettelchen: „Entlassen aus sowjetischer Obhut“.
29. Dezember: Deutsches Lager in der gleichen Stadt – Festabend, Begrüßung mit Musik und Trommelwirbel, Kindersing- und Tanzgruppen, und als ihm ein Funktionär und russisches Abziehbild die Hand reichen wollte, spuckte er aus. Und Fritz, bis dahin Aktivist im Lager mit Heimatanschrift Leipzig, verlangte einen Fahrschein nach Köln, wo seine Schwester wohnte. Die Eltern in Leipzig werde er nachholen. Ein Arbeiter- und Bauernstaat hatte ihm gereicht.
30. Dezember: Lager Hof-Moschendorf und endlich Zivilist: neue Schuhe, Hose, Rock und Mantel, Kragenhemd! Und dazu Eintopf, bis Er satt war! Welch ein Gefühl!
31. Dezember: Hauptbahnhof Ingolstadt, Wartesaal – und dann letzter Zug nach Dolling. Milly, seine Frau, und sein Vater schon am Bahnhof, und in Unterdolling, im Bierstüberl beim Gast- und Landwirt Zirngibl, seine Mutter. Vor vier Jahren hatten sie dort auf den Haustürstufen gesessen und geweint, aber dann wurden sie aufgenommen und hatten seither auf ihn gewartet.
Und als er in dem fahlen Mondlicht die Kirchturmspitze sah… „Ein Zwiebelturm, wie in Russland“, sagte er und lachte sogar. Und als vom Kirchturm die Glocke das Neue Jahr verkündete, wusste Er endlich und endgültig, dass er wieder frei war und daheim.
Er? Das war immer wieder ich. Er hat erzählt, und ich hab nur zugehört.
Gerhard und Willy Riedl |
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