Die Angst der Männer vorm Tanzen
Derzeit darf ich wieder einmal gewaltige Kritik an meinen Artikeln einstecken. Das bin ich gewohnt. Etwas seltsam fand ich jedoch, dass gerade ein Text über meine Playlists heftiges (vermutlich männliches) Aufbegehren erzeugte. Ein anonymer (und daher unveröffentlichter) Kommentator schrieb über mich:
„Wer regelmäßig seine Ausführungen über Playlists, Musikstile und DJs liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier jemand mit akutem Geschmacksverlust seine eigene Unfähigkeit zur musikalischen Empathie kompensiert. Riedls Playlists sind bestenfalls uninspirierte Übungen in musikalischer Stagnation, die jede Milonga in ein musikalisches Niemandsland verwandeln würden.“
Nicht fehlen durfte der langjährige Standard-Vorwurf, ich könne nicht tanzen:
„Es ist schwer zu ertragen, wenn jemand, der selbst kaum tanzt oder allenfalls als Zuschauer an der Seitenlinie steht, sich ständig über die Praxis auslässt. Seine theoretischen Konstrukte mögen auf dem Papier schlüssig klingen, doch in der Realität des Tanzes sind sie so relevant wie ein Leitfaden für Fahrradfahren von jemandem, der nie auf einem Sattel saß.“
Nun muss man sehen, dass Männer sich in der Regel gerne vor dem Tanzen drücken. Auf Befragen nach den Gründen liefern soziale Foren ziemlich ähnliche Motive. Eine Auswahl:
„Ein Mann ist zunächst einmal ein Mann. Und als Mann gehört es sich einfach nicht, sich so zu benehmen, dass er das Gefühl hat, andere Männer lachen ihn aus. Tanzen hat bei vielen Männern, deren geistiges Niveau nicht über den Hosenschlitz hinausgeht, etwas Weibisches.“
https://www.gutefrage.net/frage/warum-tanzen-viele-maenner-so-ungern
„Weil männlich zu tanzen sehr, sehr schwer ist. Außerdem fürchten viele Kerle, dass die Damenwelt (wahrscheinlich meistens sogar zurecht) von den ‚Tanz‘ genannten epileptischen Zuckungen auf das Beischlafverhalten der Betroffenen (…) schließt.“
„In 50er und 60er Jahren war es noch selbstverständlich, dass die jungen Männer tanzen lernten. Das gehört(e) einfach zur guten Erziehung. (…) Seit aber einige geistige Tiefflieger das Tanzen als schwul diffamiert haben und die meisten wohl keine eigene Meinung haben, distanziert sich ein großer Teil der Männer und Jugendlichen vom Tanzen.“
„Ich habe zwar schon immer gerne getanzt. Aber es hat auch lange gedauert, bis ich es konnte. Ich denke, genau das ist das Problem der meisten Männer. Sie müssen erstmal recht lange zeigen, dass sie etwas nicht können.“
„Irgendwie komme ich mir lächerlich vor, wenn ich da so rumtanze. Für richtige Männer ist das nichts.“
https://www.gutefrage.net/frage/warum-tanzen-viele-maenner-nicht-gerne
„Die Mädels lassen es einfach knallhart raushängen, wenn ein Mann sich etwas ungeschickt anstellt beim Tanzen, und sind in der Regel nicht gewillt, eine Figurenfolge ein paarmal hintereinander durchzutanzen, wenn sie noch nicht ganz klappt. (…) Männer, die wirklich dauerhaft Spaß am Tanzen haben, kenne ich wenige. Die meisten, die tanzen, tun es, um Frauen kennenzulernen bzw. abzuschleppen. Dass ein Mann es genießt, sich mit Körperbewegungen ganz aufopferungsvoll einem Musikstück hinzugeben, ist, glaube ich, eher die Ausnahme, das ist eher Frauensache...“
„Ich steige gleich mit einer Unterstellung ein: Männer wollen tanzen! Sie haben nur Angst davor, sich beim Lernen blöd anzustellen, sich zu blamieren.“
https://www.gutefrage.net/frage/frage-an-die-maenner-hier-was-haelt-euch-vom-tanzen-ab
Nun bietet gerade der Tango den Männern aber einen heftigen Beweggrund: Sie dürfen, ohne dass sich der Staatsanwalt einschaltet, mit Frauen (sogar fremden) auf enge Tuchfühlung gehen. Und um nicht in Schwuchtel-Verdacht zu kommen, können sie beliebig den Macho raushängen lassen.
Bleibt aber die heftige Angst, sich gleich in zweifacher Hinsicht zu blamieren: vor der Tanzpartnerin sowie den zuguckenden Jungs.
Meine Vorschläge, zu unbekannter, vielleicht sogar schwieriger Musik zu tanzen, muss für viele Männer ein Albtraum sein: Vor der Angebeteten sinnlos rumzustopseln und wie ein Depp dazustehen. Daher werden meine Musikvorschläge praktisch nur von Männern heftig verurteilt.
Damit hängt wohl der manische männliche Drang zusammen, im Tango Souveränität zu zeigen: Beispielsweise, indem man ein riesiges Fachwissen vorgibt und sich der Ausbildung bei den diversen Granden rühmt. Endloses Theorie-Gelaber inklusive. Wenn einer wie ich sich dann auf sein „Bauchgefühl“ beruft, wird das als typisch weibische Vorstellung abgelehnt.
Und nicht vergessen: Der Mann führt! Mit meinen Zweifeln daran habe ich schon einmal einen Sport- und Tangolehrer zur Weißglut gebracht. Wenn „der Mann nix macht“, geht ja seine Dominanz flöten:
https://jochenlueders.de/?p=15907
Apropos: Für den durchschnittlichen Mann ist Bewegung ohne feste Regeln wenig attraktiv. Was ihn beim Fußball reizt, ist nicht das „Spiel“, sondern die Debatte über Abseits oder Handspiel im Strafraum. Dabei kann sich die maskuline Intelligenz bis zur Neige austoben! Und man genießt das Abreagieren von Aggressionen. Künstlerische Sportarten wie Eiskunstlauf entlocken dagegen nur ein müdes Gähnen.
Auch hier ist Angst der entscheidende Faktor. Regeln geben Sicherheit – ob nun zur Parkettbenutzung oder zum Auffordern. Die Furcht vor dem „Chaos“ ist immens.
So ist auch die Funktion des Cabeceo zu verstehen: Er schützt die empfindsame Männerseele davor, mit irgendwelchen Weibern tanzen zu müssen, die einfach daherkommen und fragen. Schrecklich – man weiß doch gar nicht, ob das klappt oder man dann blöd dasteht!
Dass die Blick-Aufforderung die Frauen vor Nötigung bewahrt, ist ungefähr so wahr wie die frühere Behauptung, Ehefrauen dürften ihr Geld nicht selber verwalten, um vor Betrügern geschützt zu sein. 1962 hat man diesen Unsinn bei uns abgeschafft. Die direkte Bitte um einen Tanz aber ist im Tango bis heute verpönt.
Männliches Unwohlsein hat offenbar auch mein Artikel über Taxitänzer ausgelöst. Ich meine, da ist ebenfalls Angst im Spiel. Zum maskulinen Souveränitäts-Bingo gehört es auch, Aufforderungen an genehme Damen zu vergeben respektive sie aufsässigen Weibern vorzuenthalten. Warum? Na, vielleicht, weil sie „mit den Falschen tanzen“, die übliche „Tangouniform“ verweigern oder auf dem Parkett nicht „folgsam“ genug sind.
Taxitänzer, welche „mit jeder“ aufs Parkett gehen, ja zudem noch tänzerisch geübt und sogar freundlich sind, könnten manche Strategie durchkreuzen. Zudem ist Konkurrenz unter Männern nicht gern gesehen. Das gilt auch für Frauen, die führen.
Einem Kommentator fielen dazu die Begriffe „Tanzhelden“ und „Tanzknechte“ ein – aufschlussreich, wie ich finde!
Wie gesagt: Die männliche Verdammungs-Prosa, welche mich seit vielen Jahren immer mal wieder erreicht, amüsiert mich eher als dass sie mich verunsichert. Ich habe gelernt, dass ganz häufig nicht mehr als nackte Angst dahintersteckt. Es würde ja schon Mut dazugehören, sich wenigstens nicht in der Anonymität zu verstecken. Aber selbst das schaffen viele nicht.
Daher, liebe Kritiker: Geht lieber viel tanzen – das stärkt euer Selbstvertrauen! Und ich schau auch bestimmt nicht zu…
Zum Weiterlesen:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/05/warum-wollen-manner-nicht-tanzen.html
https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/01/die-angstkultur-im-tango.htmlIllustration: www.tangofish.de |
Aus aktuellem Anlass:
AntwortenLöschenEs bringt überhaupt nichts, mich mit KI-generierten Kommentaren einzudecken. Nichts davon wird veröffentlicht!
Ich diskutiere hier nur mit echten Menschen, die auch einen richtigen und vollständigen Namen haben.
Lieber Gerhard,
AntwortenLöschenMänner brauchen sich nicht vor dem Tanzen zu drücken, weil es keine Pflicht zum Tanzdienst für Männer gibt. Es ist eine von vielen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Wenn einem das Gebotene nicht gefällt, macht man es halt nicht. Es sei denn, der Ehevertrag enthält gegenteilige Klauseln.
Das war anno dazumal bei der Pflicht zum Wehrdienst für Männer noch anders. Aber auch da hat eine Angsthasen-Rethorik nur begrenzten Erfolg gehabt. Und ob das Selbstvertrauen gestärkt wurde ... die einen sagen so, die anderen so. Wie auch bei der Pflicht zum Schulsport.
Lieber Martin,
Löschenbei kritischen Zuschriften lese ich mir stets noch einmal meinen betreffenden Artikel durch. Ich wünschte, Kommentatoren würden das auch regelmäßig tun.
Von einer „Pflicht zum Tanzdienst“ für Männer habe ich nichts gefunden. Aus meinen ganzen Veröffentlichungen geht hervor, dass ich im Tango ein Anhänger der Freiwilligkeit bin. Im Gegensatz zu anderen, welche auf festen Regeln zum Verhalten und zur gebotenen Musik bestehen. Oder nur Gäste akzeptieren, die sich an bestimmte Códigos halten.
Weil dann auch noch die Wehrpflicht als Vergleich herhalten muss: Ich weiß nicht, ob du bei der Kriegsdienstverweigerung aus eigener Erfahrung sprichst, du das unwürdige Theater mit den damaligen staatlichen „Gewissensprüfungs-Ausschüssen“ persönlich erlebt hast. Dann müsste dir eigentlich klar sein, wie absurd deine Parallele ist.
Die Frage, ob man im Krieg bereit ist, andere Menschen zu töten, hat nun wirklich mit dem Problem, dass sich Männer oft beim Tanzen nicht wohlfühlen, nicht das Geringste zu tun.
Lieber Gerhard, natürlich gibt es da sehr große Unterschiede. Diese du-bist-nur-zu-feige-Tonlage stimmt man gewöhnlich an, um ein Verhalten unterschwellig über die expliziten Normen hinaus zu beeinflussen, auch das Recht auf Wehrdienstverweigerung, auch das Recht auf Tanzdienstverweigerung. Ob das nun guten oder schlechten Zwecken dient ist Ansichtssache, oft auch rückwirkend. Und mit Deiner satirischen Tonlage bist Du ja auch nicht gerade ein Verbalpazifist.
LöschenVor dem Tango habe ich es mit Windsurfen versucht. Der Frauenanteil dort ist recht gering, wobei ein paar Damen mehr beim Camping und am Lagerfeuer durchaus angenehm gewesen wären. Aber ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass das "schwache Geschlecht" nur zu feige sein könnte, um bei Herbstwinden auf das Wasser zu gehen.
„Verbalpazifist“ ist ein schöner Begriff! Nein, das bin ich sicher nicht. Ich ziehe es tatsächlich vor, mit Worten zu kämpfen statt andere mit physischen Waffen zu traktieren. Und selbst bei der Wortwahl versuche ich, in den anderen Gegner und keine Feinde zu sehen.
LöschenUnd ja, das „schwache“ Geschlecht zeigt oft mehr Mut als das „starke“. Jedenfalls, wenn es ums Tun statt ums Reden geht.
Dass du dich mit Windsurfen beschäftigt hast, kann ich gut nachvollziehen. Auch als Tango-DJ muss man ja heute darauf achten, woher der Wind weht.