Die Angstkultur im Tango


„Chorophobie – Angst zu tanzen – ICD-10 F40.2, spezifische Phobie
Die Chorophobie gehört zu den spezifischen Angststörungen und bezeichnet die krankhafte übersteigerte Angst vor dem Tanzen.
Bei dieser Angststörung meidet der Betroffene Tanzveranstaltungen und ähnliche Situationen (Disco, Volksfest), wo getanzt werden könnte. Auch kann schon eine Angstreaktion hervorgerufen werden, wenn andere Menschen tanzähnliche Schritte oder Bewegungen machen.
Ursächlich kann ein traumatisches Erlebnis zu Grunde liegen, bei welchem der Betroffene in der Vergangenheit vor einer Menge tanzen (musste) und einen Fehler machte und sich gedemütigt fühlte. Seitdem wurde das Tanzen  zu etwas, das Angst verursacht. Diese Phobie ist oft mit anderen Ängsten verknüpft, wie zum Beispiel die Angst vor Verlegenheit, soziale Phobie oder die Angst vor Menschenmengen.
Übliche Symptome bei einer Chorophobie sind:  Kurzatmigkeit, schnelles Atmen, unregelmäßiger Herzschlag, Schwitzen, Übelkeit, Panik und Vermeidung von Orten, wo Tanz stattfinden würde.“

Als ich das vorige Interview mit Javier Rodriguez übersetzte, konnte ich es wirklich kaum fassen: Wie kann ein international renommierter Tänzer und Tangolehrer einen solchen Stuss daherreden? Als ob man beim Tango gefressen oder beinamputiert würde, wenn man mal an ein anderes Paar stößt?

Nach einer Nacht dazwischen habe ich mir den Text nun noch einmal durchgelesen und bin auf die markante Stelle gestoßen:

„Man kam aufs Parkett und geriet einfach in Panik, weil jeder andere Mann über dir stand wie ein Riese. (…) Aber sie sahen dich mit dem Ausdruck an: ‚Berühre mich und du wirst es für den Rest deines armseligen Lebens bereuen. Ich schneide dir dein Bein ab, und du wirst unfähig sein, es zu verhindern.'“

Das Motiv, solche Sätze aus dem Unterbewusstsein purzeln zu lassen, ist schlicht Angst – hier davor, ein angesehener, alter Milonguero könnte exakt so einen Bannfluch über einen ergehen lassen:

„In meinen Augen bist du ein Schwachkopf…“

Und dann natürlich noch die männliche Todsünde, dass man seine arme, schwache Partnerin nicht genügend vor der bösen Welt schützen kann! Und dieser Angstkomplex bleibt bestehen, selbst wenn man an der Weltspitze tanzt…

Am anderen Ende der Leiter wird es natürlich nicht besser. Da ich sehr viel mit Anfängerinnen tanze, sind mir Sätze wie diese wohlvertraut:

„War das jetzt richtig so?“
„Hattest du das gemeint oder wolltest du etwas anderes?“
„Ich kenne noch nicht so viele Schritte."
„Tanze ich jetzt schon besser als beim letzten Mal?“

Meine Antwort, ich wisse das eh nicht so genau und sei zufrieden damit, wenn sie eine gebotene Option nach ihrem Gutdünken interpretiere, ich würde das dann mittanzen, wird generell als Notlüge aufgefasst. Glauben tut das keine: Der Mann führt ja…

Und meine Partnerin bekommt fast ebenso oft zu hören:

„Ich hab mich bisher nicht getraut, dich aufzufordern, weil du ja so viel besser tanzt.“
„Hoffentlich langweile ich dich nicht mit meinen Fähigkeiten."

Auch ihre Antwort, sie tanze sehr gerne mit Anfängern (respektive der Mann könne doch genug) wird gleichermaßen als reine Höflichkeit eingestuft…

Ich sage das noch zum hundertsten Mal, auf dass es irgendwann in die Köpfe passe: Klar ist Angst ein menschliches Grundgefühl, das uns ja vor Schäden bewahren soll. Aber in einem Tanzsaal gibt es weder Tsunamis noch Mörder oder Vergewaltiger, ebenso wenig wie giftige Schlangen oder Raubtiere – höchstens ein paar Ziegen und Kamele. Vielleicht wird man mal belächelt oder gerempelt; Lebensgefahr besteht nicht! Die herrscht statistisch viel eher bei der Autofahrt zur Milonga.

Und zur Sicherheit, wem es noch nicht klar sein sollte: Wer Anfänger/innen herablassend behandelt, ihnen gar einen Korb gibt, hat vom Tango rein gar nichts kapiert, nicht mal vom Gesellschaftstanz oder dem menschlichen Zusammenleben insgesamt!

Ich fürchte halt, diese Ängste werden kräftig geschürt von einem Tangounterricht, der von den Männern absolute Souveränität verlangt – also die exakte Steuerung einer Tänzerin. Und Frauen beziehen ihr Selbstwertgefühl immer noch daraus, eine optimal gehorsame Partnerin zu sein – ob im Tango oder im Leben: „Warum sie will, was er will“ lautet der Untertitel eines neu erschienenen Buches der Psychologin Sandra Konrad. Es würde sich lohnen, darüber nachzudenken.

Die resultierenden Verspannungen spüre ich bei vielen Tänzerinnen – nicht nur bei Anfängerinnen: „Ich bin so nervös, weil ich keinen Fehler machen möchte“ lautet dann der  Schlüsselsatz, den ich erst vor ein paar Tagen wieder exakt so hörte.

Angst regiert den Tango: Männer trauen sich nicht, Frauen aufzufordern, die anscheinend besser tanzen, weil sie sich nicht blamieren wollen, ebenso – aus dem gleichen Grund – Tänzerinnen, die noch am Anfang stehen. Und unbekannte Damen eh nicht – wer weiß, was da alles passieren kann! Anfängerpaare bleiben strikt unter sich, da sie meinen, sich nur dem armen, eigenen Partner zumuten zu können. Hat der das verdient? Frauen, die selbstbewusst auf einen Herrn zugehen und ihn um einen Tanz bitten, sind eh so selten wie die Blaue Mauritius. Und moderne Musik schürt die Furcht, sie auf dem Parkett nicht umsetzen zu können: Keine Experimente...

Was kann denn schlimmstenfalls passieren? Einen Korb muss man halt verkraften – und wenn man an einen hochnäsigen Hansel oder eine kapriziöse Zicke gerät, empfehle ich jedem Neuling, eine entsprechende Trottel- respektive dumme Kuh-Liste zu führen: Merken, zukünftig ignorieren und sich auf die Zeit freuen, wo denen das noch leidtun wird! Und kompliziertere Musik kann man nie hundertprozentig vertanzen, auch nicht nach 20 Jahren. Aber der Appetit kommt beim Essen!

Wenn man seine Hemmungen überwindet, stellt man schnell fest, dass die Mehrzahl der Tangomenschen wirklich nett und aufgeschlossen ist. Ja, es soll Männer geben, die ganz glücklich sind, wenn ihnen die „Qual der Wahl“ gelegentlich von einer Tänzerin abgenommen wird! (außer in Berlin und München… nein, Scherz)

Aber mit der Achselnässe ist es ja im zwischengeschlechtlichen Milieu noch nicht getan: Frauen trauen sich nicht zu führen, weil sie (eventuell wegen „Lesben-Verdachts") dann aus der männlichen Ortung verschwinden. Veranstalter wagen es ebenso wenig, einmal einen kreativeren DJ zu engagieren – könnten ja Beschwerden aus der Deutsche Eiche-Fraktion kommen. Und selbstredend ist das Wort des Tangolehrers, vor allem, wenn er mal 14 Tage in Buenos Aires war, Gesetz…
 
Kritik äußert man, wenn überhaupt, nur unter Pseudonym oder in privaten Mitteilungen: Bitte veröffentliche diesen Text nicht!"

Doch Angst ist keine Kultur, sie isst eher die Seele auf.

Wo sind die Tangoschüler, die sich trauen, einmal den teilweise horrenden Blödsinn, den die Lehrenden verzapfen, kritisch zu hinterfragen? Die beispielsweise einmal wissen wollen, warum man als Frau immer nur genau das tanzen darf, was der Männe führt? Notfalls könnte man sich ja auf mich berufen: „Ich hab mal in einem Tangoblog gelesen…“ Allein von dieser Vorstellung kann ich wochenlang leben!

Wahrlich, in einer üblichen Milonga riecht es nicht nach Erotik, sondern nach Angstschweiß! Leiden die durchschnittlichen Besucher unter Chorophobie? Sicher nicht in der extremen Form, sonst würden sie ja gar nicht zum Tango gehen. Viele pendeln aber zwischen der Attraktivität des Tanzens, des sozialen Miteinanders und andererseits einer Höllenangst, sich zu blamieren, „dumm“ dazustehen.

Insofern sind die immer mehr aufkommenden Reglements durchaus logisch: In einer „beschützenden Milonga“, wo Musik, Tanzweise, Tanzspuren und Aufforderungsrituale exakt vorgeschrieben sind, fühlt sich dieser Personenkreis wohler als im rauen Wind der Freiheit. Phobien behandelt man häufig mit einer kognitiven Verhaltenstherapie: Der Patient soll sich schrittweise (!) der angstbesetzten Situation aussetzen, welche aber in abgeschwächter Form dargeboten wird. Bei einer Arachnophobie beispielsweise muss er zunächst die Spinnen nur anschauen, nicht etwa sie berühren: „Niedrigschwellige Konfrontationstherapie“ nennt man diese Strategie. Beim Tango eben erstmal mit der Basse zu Di Sarli im äußeren Kreis – leider endet dies oft auch damit…

Arachnophobiker halten sich nach erfolgreicher Behandlung übrigens oft Spinnen als Haustiere! Ebenso schaffen es manche beim Tango, später einmal „wildere“ Milongas zu besuchen.

Sollten Sie über diese Parallele lachen können, wäre der erste Schritt zur Angstfreiheit schon getan.

Dabei behilflich sein könnte auch Robert Kreis mit einem Couplet von Otto Reutter: Alles wegen de Leut":


 
ww.youtube.com/watch?v=TCSI9MXfvds

Kommentare

  1. Ich habe mich sehr amüsiert und manches wiedererkannt, bei mir selber..... bei anderen vermute ich es nur :)

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    1. Liebe Dorothea,
      als Blogger bin ich natürlich neugierig und wüsste gern Näheres dazu.
      Über einen ausführlicheren Kommentar würde ich mich freuen!
      Beste Grüße
      Gerhard

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  2. Robert Wachinger10. Januar 2018 um 13:09

    Tststs ...
    Ich hab mich überhaupt nicht wiedererkannt.

    Drum hab ich solche Sätze wie "Aber sie sahen dich mit dem Ausdruck an: ‚Berühre mich und du wirst es für den Rest deines armseligen Lebens bereuen. Ich schneide dir dein Bein ab, und du wirst unfähig sein, es zu verhindern.'" einfach als legitime stilistische Übertreibung aufgefasst, nicht als Ausdruck von Angst. Bin ich naiv? ;-)

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  3. Vorsicht Fangfrage… nein, das musst dir schon alleine beantworten!

    Ich habe den Text des Interviews (übrigens wie alle Kommentatoren auf der entsprechenden Facebook-Seite) jedenfalls als drastische Warnung vor Zusammenstößen auf dem Parkett empfunden. Wenn du eine andere Interpretation hast, gerne.

    Die Frage ist für mich halt, warum der Herr so ein Gedöns darum macht.

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    1. Robert Wachinger11. Januar 2018 um 22:25

      "Die Frage ist für mich halt, warum der Herr so ein Gedöns darum macht."
      das ist es auch, was mich mittlerweile an meiner Interpretation zweifeln lässt. Wahrscheinlich krieg ich den "Krieg" aud der Tanzfläche schlicht nicht mit ...

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    2. Gott sei Dank ist es oft eher ein "gefühlter Krieg" als ein tatsächlicher!

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