Warum schwierig, wenn’s auch einfach geht?

Kürzlich stellte ein noch nicht sehr erfahrener DJ in einem Facebook-Forum eine Frage, die von mir stammen könnte:

„Vor nicht allzu langer Zeit wurde ich für eine Pugliese-Tanda kritisiert, weil jemand sagte, Pugliese sei zu schwer.

Wenn man also nur das spielt, wozu 90 % der Leute 90% der Zeit tanzen KÖNNEN:

Vernachlässigt man nicht die Leute, die Pugliese und sogar Piazzolla tanzen können und wollen, oder dramatischere Musik oder romantischere Musik usw.

Diese Tänzer, die in der Lage sind, zu Piazzolla und Pugliese zu tanzen, würden im Allgemeinen zu den 90 % der Tänzer gehören, die 90 % der Zeit tanzen, aber wenn Sie diese Musik nicht spielen, beraubt ihr sie dann nicht einer besseren Erfahrung?

Ich habe schon Tanzflächen gesehen, auf denen, wie du sagst, 90 % der Tänzer 90 % der Zeit tanzen, und dann gibt es eine Tanda mit, sagen wir, entweder anspruchsvollerer oder modernerer Musik, zu der sich viele Leute nicht trauen zu tanzen, so dass für diese Tanda oft nur wenige Tänzer auf der Fläche sind. Ich habe schon erlebt, dass DJs nie wieder eine solche Tanda gespielt haben. Aber ist es wirklich so gut, die Tänzer zu benachteiligen, die das Können haben, diese Musik zu vertanzen? Denn wenn man nur Musik spielt, zu der 90 % der Tänzer 90 % der Zeit tanzen, dann gibt es im Allgemeinen eine Menge guter Musik, die nie gespielt wird. (…)

Ist das wirklich so eine gute Sache, diejenigen zu bestrafen, die zu den 90 % gehören, die Di Sarli, D'Arienzo tanzen können und wollen, aber dann wird ein hervorragendes Stück von Piazzolla oder Pugliese gespielt und nur wenige Leute sind entweder in der Lage, es gut zu tanzen oder entscheiden sich, es zu tanzen? (…)

Ja, ein DJ muss die Leute auf die Tanzfläche locken und dort halten, aber meiner begrenzten Erfahrung nach kehren die Leute auf die Tanzfläche zurück, sobald die Tanda vorbei ist und die nächste Tanda beginnt.

Warum ist es dann eine Kardinalsünde, den Tänzern, die ihre Kunst studiert und geübt haben, um gut zu werden und Kontrolle zu haben, keine Chance zu geben, Musik zu erleben, die sie anspricht?“

In den über 50 Kommentaren dazu wird von den Kollegen teilweise unheimlich gescheit dahergeredet – öfters aber an der Frage vorbei. Ich habe mir dennoch viele Übersetzungen angetan. Fazit: Pugliese geht grad noch – bei Piazzolla jedoch hört der Spaß auf! Einige Kostproben:

„Ich verstehe nicht, wie Pugliese, der jahrzehntelang von der tanzenden Menge verehrt wurde, und Piazzola, der dafür bekannt ist, dass er mehrfach ausdrücklich darum gebeten hat, NICHT zu seiner Musik zu tanzen, auch nur in einer einzigen Aussage über das Tanzen in Milongas vorkommen können. Oder vielleicht sprichst du von Piazzolas Orquesta in den 40er Jahren... irgendwie glaube ich das nicht...“

Die Falschbehauptungen hinsichtlich Piazzollas Äußerungen sind eben nicht auszurotten. Der Komponist hat nie gebeten, nicht zu seiner Musik zu tanzen. Er hat allerdings ab zirka 1955 nicht mehr auf Tanzveranstaltungen gespielt. Ich habe das mehrfach erklärt – anderslautende Zitate darf man mir gerne vorlegen – ich fürchte aber, man findet keine!

Aber manche Leute scheitern schon an der korrekten Schreibweise seines Namens

Weiterhin muss wieder mal das Argument herhalten, welche Musik zum Tanzen „gedacht“ war. Von wem und warum, wird kaum erklärt. Ich plädiere dafür, mal selber zu denken!

„Im Repertoire von Piazzolla gibt es nur sehr wenige oder fast keine Tangos, die zum Tanzen gedacht sind, was nicht verwunderlich ist, denn der Großmeister selbst ist bekannt für Aussagen wie ‚Die Tänzer sind mir egal, solange meine Musiker glücklich sind‘ und Aufforderungen, NICHT zu seiner Musik zu tanzen. Wenn Sie sich jedoch auf Piazzollas Aufnahmen mit Fiorentino Mitte der 40er Jahre beziehen, finde ich persönlich diese Aufnahmen extrem langweilig, aber vielleicht solltest du sie selbst spielen und die Reaktion des Publikums beobachten.“

Ich fürchte, die Abneigung, mal einen Tango nuevo aufzulegen, resultiert vor allem aus der Furcht, von den Stammkunden zerrissen zu werden:

„Piazzolla aufzuführen ist fast so, als würde man einen traditionellen Abend mit einer alternativen Musik-Tanda versehen. Ein großes Risiko, oder nicht?“

„Ich habe noch niemanden gesehen, der zu Piazzollas Stücken nach 1948 getanzt hat.“

Tja, dann vielleicht mal die eigene Blase verlassen?

Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum/permalink/2504330793067440

Ich kann das anfänglich zitierte Anliegen nur zu gut verstehen: Heute wird viel über den „Respekt vor Minderheiten“ geredet – im Tango ist dieser nur wenig erkennbar. Da wird gnadenlos simpelste Musik aufgelegt – ob nun traditionelle oder Neotango-Stücke. Maßstab ist stets, dass es noch der größte Dödel auf der Piste hinbekommt. Leute, die besser tanzen können und vielleicht auch musikalischer sind, gucken dafür den ganzen Abend in die Röhre. Viele Milongas sind eine ständige Einladung an Minderbegabte.

Dabei stelle ich immer wieder fest: Anspruchsvollere Musik muss die Tanzfläche nicht leeren – im Gegenteil habe ich schon Szenenapplaus registriert, wenn DJs mal etwas mutiger auflegten. Aber das trauen sich die wenigsten.

Und ich plädiere keineswegs dafür, nun den ganzen Abend Schwieriges zu spielen. Aber das Gegenteil ist ebenso behämmert.

Was kaum beachtet wird: Dies könnte ja auch zu einem Austausch des Publikums führen. So wie man jahrelang besser tanzende und musikalisch Verständigere aus den Milongas vertrieben hat, könnte sich ebenso der gegenteilige Effekt einstellen.  

Aktuell schreibt der Blogger-Kollege Helge Schütt:

„Wenn ich mir die Zeit der Goldenen Epoche anschaue, dann denke ich eher an das Spätwerk von Strawinsky oder an Schostakowitsch. Und Janacek ist auch noch nicht so lange her. Von der musikalischen Kraft dieser Musik ist der Tango Lichtjahre entfernt. Tango ist eine gefällige Musik, zu der man gut tanzen kann. Aber das ist es dann auch schon. Perfektion oder musikalischen Anspruch wie bei den genannten Klassikern findet man da ganz sicher nicht.“

https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/10/ein-hoch-auf-die-goldene-epoche.html

Na ja, Tanzmusik unterscheidet sich schon von sinfonischen Werken. Und es muss sicher nicht immer Piazzolla sein. Vielleicht, lieber Helge, versuchst du es mal mit einem meiner Lieblingstangos von Omar Valente (1937-2008): „Alegría de un teclado“ – „Freude an einer Tastatur“:

https://www.youtube.com/watch?v=_1JGwZGOY8o

Kommentare

  1. Omar Valente (1937-2008): „Alegría de un teclado“ – „Freude an einer Tastatur“

    https://youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_ndlG5ItJhnYTPB0Bl-Ry7_M1emaiO-3jE&si=oYxExgpewpxl1pRE

    Boah, Geil! Danke dir 🙏
    Sorry, Arbeiterkind 🤷‍♂️

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  2. Vielen Dank!
    Könntest du bitte darauf achten, dass die angegebenen Links auch funktionieren?

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