Liebes Tagebuch… 79

Neulich besuchten wir wieder einmal eine Milonga, die es sich noch leistet, modernere Musik anzubieten, für meinen Geschmack manchmal etwas sehr in Richtung „Tango-Pop“ – aber als leidgeprüftes Opfer der üblichen EdO-Dauerbeschallung ist man ja dankbar für fast jeden alternativen Ansatz…

Da meine Interviewer im aktuellen Tango-Podcast mich belehrten, es gebe auf etlichen Tangoveranstaltungen auch durchaus ein jüngeres Publikum, das aber die „alte“ Musik goutiere, schätzten wir den Altersdurchschnitt an diesem Abend ein: Er lag zwischen 55 und 60 Jahren. Unter 30 war genau ein Paar, das kaum tanzte und die meiste Zeit an der Bar herumhing und sich mit dem Chef unterhielt.

Na gut – die anderen Jugendlichen haben wohl eine Tradi-Milonga besucht…

Nach zirka zwei Stunden ergab sich eine Situation, die mir sehr zu denken gab: Der DJ spielte eine wunderbare Folge moderner Orchesterstücke, die alles boten, was den Tango für uns attraktiv macht: Dramatik, Sanftheit, Piano-Passagen, fulminante Einwürfe und traumhafte Melodien. Wir glaubten, beispielsweise Ennio Morricone („Cinema Paradiso“) zu erkennen, und flogen nur so übers Parkett – ganze sechs Titel lang. Hinterher beschlossen wir, zu gehen: Mehr konnte an dem Abend für uns nicht kommen!

Ich hatte lange genug Zeit, mich umzusehen: Getanzt haben die Wenigsten, die große Mehrheit saß an den Tischen und war tief in (teilweise recht laute) Unterhaltungen verstrickt. Niemand lauschte der Musik oder beobachtete das Treiben auf der Piste.

Keiner? Doch – eine Person, die alleine saß, ließ keinen Blick von den Tanzenden und widmete sich den Klängen. Wir kennen diesen Kollegen: Er ist – wie wir – auch schon gut 20 Jahre im Tango unterwegs und tanzt hervorragend musikalisch. Das ist halt der Unterschied zu Leuten, die erst in den letzten 10 Jahren zum Tango gestoßen sind.

Karin und ich haben auf der langen Heimfahrt ausführlich über dieses Phänomen gesprochen: Was treibt die Menschen heute zum Tango?

Wir waren uns einig: Die Musik kann es nicht sein. Es mag ja zutreffen, dass sich auf Encuentros etliche Spezialisten herumtreiben, die exakt die Jahreszahl benennen können, in der Orchester X mit dem Sänger Y den Titel Z aufgenommen hat. Ob man dann neben dem Lexikonwissen die Musik wirklich fühlt, sei dahingestellt.

Nach meinen langjährigen Erfahrungen auf den lokalen Milongas aber haben 95 Prozent der Gäste von Tangomusik weniger Ahnung als die Kuh vom Bergsteigen (die immerhin Almauftriebe bewältigen muss). Beschallung und Tanz werden erst halbwegs wichtig, wenn man auf der Piste steht. Und selbst dann nimmt man an den Titeln nur wahr, ob sie den üblichen „Schrumm-Schrumm-Rhythmus“ bedienen (den es in der Tradi-Auswahl ebenso gibt wie im Neo-Popmusikgedudel). Und dazu tappt man halt seine Schritte herunter. Man will es eben „gemütlich“ haben.

Tango als Ausdruck von Sehnsucht, Leidenschaft, Lebenslust, Enttäuschung, Blut, Schweiß und Tränen? Nee, det wüsst‘ ick…

Ganz aktuell hat diese Misere auch der Blogger-Kollege Jochen Lüders beschrieben:

„Und, sorry, Edoisten, eure Lobpreisungen der ach so wunderbaren Musik mit ihren ‚feinen Phrasierungen‘ und der ‚unerreichten Virtuosität‘ nehme ich euch einfach nicht ab, denn den meisten von euch ist die Musik doch völlig egal. Ihr quatscht erstmal ausgiebig, bevor ihr irgendwann anfangt, eher gelangweilt an der Stelle zu drehen, pardon, zu ‚tanzen‘. Kann man Musik einerseits völlig ignorieren und sie andererseits in den höchsten Tönen loben? Nee, passt leider nicht zusammen. Und es sind ja nicht nur einzelne Ignoranten, es ist (vor allem auf Encuentros) absolut üblich, bis zu 30 Sekunden (bei einer Länge von 2:30 also rund einem Fünftel) eines Stückes zu verquatschen, bevor es endlich losgeht. Da fliegt ihr quer durch Europa (Flugscham scheint bei euch ja völlig unbekannt zu sein), nur um den aus Argentinien eingeflogenen Star-DJ zu erleben, und dann ist euch völlig wurscht, was er/sie da spielt.“

https://jochenlueders.de/?p=16515

Die nächste Frage, mit der wir uns befassten: War das schon immer so – beispielsweise in der berühmten „Goldenen Epoche“ (also vor allem den 1940er Jahren)?

Nun, ich war damals nicht dabei, aber nach allem, was ich lesen konnte: nein. Wohl schon deshalb nicht, da die Leute am Rio de la Plata die spanischen Texte verstanden. Weiterhin glaube ich, dass die damaligen Tangos das Lebensgefühl vieler Menschen ausdrückten – und das war oft ziemlich gemischt. Klar, Tango war seinerzeit eine Modeerscheinung, welche sich selber verstärkte. Und es gab für einfachere Menschen nicht viel Auswahl einer erschwinglichen Freizeitgestaltung. Die Musik war jedenfalls wichtig – ich las von riesigen Fangruppen, die ihrem Lieblingsorchester nachreisten und fast jeden Auftritt verfolgten.

Offenbar war es damals ziemlich wichtig, gut tanzen zu können. Die jungen Mädel übten das zu Hause mit der Mama, dem Bruder oder Onkel. Und die Burschen lernten bei privaten Treffs unter Männern erstmal die Frauenschritte, bevor sie führen durften. Und mit 16 oder 17 schwindelte man sich auf eine Milonga, begleitet von einem älteren Kameraden, der seine weiblichen Bekannten bat, doch auch mal mit „dem Buben“ zu tanzen.

Die Auswahlkriterien waren wohl ziemlich hart: Wer scheiße tanzte, kriegte einen Korb – und fertig! Und es kam sehr darauf an, zur Musik zu tanzen – und nicht im luftleeren Raum irgendwelche „Figuren“ zu drechseln.

Nach diesen Maßstäben würde es wohl auf den heute üblichen Milongas Körbe nur so hageln…

Vor allem aber waren es ja die sehr einfachen Menschen, oft die verachteten Migranten, die den Tango entwickelten, bevor er allmählich ins Bürgertum vordrang. Aber auch zu EdO-Zeiten bestand wohl die Kern-Szene aus Arbeitern und kleinen Angestellten. Aus Biografien der „alten Maestros“ weiß ich, dass viele eher zu den Geringverdienern gehörten. Erst im hohen Alter machten sie einiges Geld damit, den „Gringos“ Tango beizubringen.

Und heute? Migranten oder andere Unterschichtler sind auf den Milongas die große Ausnahme. Mindestens zwei Drittel haben Abitur und führen ein bürgerliches Leben. Hoch ist der Anteil an Sozialberuflern, Heilpraktikern und Coaches für und gegen alle esoterischen Wehwehchen unserer Zeit. Tango wird nicht mit dem Gefühl getanzt, sondern intellektuell zu Tode analysiert. Und sie bewegen sich weiterhin unverdrossen zu Aufnahmen, die das Lebensgefühl von 1940 ansprechen.

Kaum eine Milonga wirbt mit konkreten Aussagen zur gebotenen Beschallung. Der DJ, so liest man in den Ankündigungen, biete „seine Lieblingsstücke“ oder lege „tolle Musik“ auf. Das muss reichen.

Was da auf vielen Internetforen „fachkundige DJs“ an Spezialwissen untereinander austauschen, ist für die Tonne. Meist würde es reichen, einen Computer auf Spotify und die „Tandas of the Week“ einzustellen und herrenlos vor sich hin dudeln zu lassen.

Wenn es die Musik nicht ist: Was treibt die Menschen unserer Zeit zum Tango? Einmal natürlich die Geselligkeit, die es auch älteren Semestern problemlos ermöglicht, nochmal die heimische Bude zu verlassen. Weiterhin kann man Parkinson und Demenz vorbeugen.Und die Attraktion des „sozialen Vereinslebens“ kennt man ja auch von den Kegelbrüdern oder Karnickelfreunden, wo das Rollen der Kugel oder das Züchten der Hoppler oft nicht die Hauptbeschäftigung ist.

Wenn man sich die Webseiten von Tangoveranstaltern und Lehrenden ansieht, wird klar: Verheißen wird nicht die Beschäftigung mit einem interessanten Gesellschaftstanz, sondern die Findung eines neuen Lebenssinns: In der Umarmung, so das Versprechen, erschließe sich eine ganz neue Qualität der Verständigung, stoße man in neue Sphären der Glückseligkeit vor. Natürlich vor allem in Orientierung auf das andere Geschlecht.

Ist es da ein Wunder, dass der Tango Menschen anlockt, die das bislang nicht auf die Reihe gekriegt haben? Irrende und Wirre sind ein bevorzugtes Opfer jeder Sekte, da macht der Tango keine Ausnahme.

Und was ist mit den Menschen, denen es um interessante Musik geht und den Ehrgeiz haben, besonders schön und abwechslungsreich zu tanzen? Ich fürchte, die sollten lieber mit Flamenco oder Modern Dance anfangen…

Im Tango jedenfalls wird es für sie schwierig. Als Beleg ein Video, das ich mir von Jochen Lüders ausgeliehen habe:

https://www.youtube.com/watch?v=Ahx8-KiJLU

  

    

 

Kommentare

  1. Sehr treffender und witziger Artikel! Danke für das Zitat. Trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten verbindet uns doch eine ganze Menge. ;-)

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    1. Natürlich ist das so. Vielen Dank!

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