Piazzolla zum Tanzen 1

Es tut sich etwas mit dem berühmtesten Tangokomponisten aller Zeiten! Selbst der Münchner Neo-DJ Jochen Lüders, der früher damit warb, „keinen Piazzolla“ aufzulegen, bekennt nun in einem Kommentar zu seinem letzten Artikel:

„Sollen wir aufhören, zu Piazzolla zu tanzen, und nur noch zuhören? Nein, natürlich nicht!“ 

Na, das ist doch zumindest ein Anfang – wobei Lüders allerdings feststellt:

Wenn ich eine Piazzolla Tanda auflege, dann spiele ich immer ‚Tango Apasionado‘, ‚Libertango‘ und ‚Oblivion‘. Auf einer Milonga habe ich, wenn getanzt werden sollte, auch noch nie ein anderes Stück gehört.“

Na, da war er wohl nicht auf den richtigen Veranstaltungen – schon gar nicht in Pörnbach. Ich habe in etlichen Artikeln eine Vielzahl von Piazzolla-Titeln empfohlen und auch bei uns zu Hause aufgelegt. Und stets ließen sich unsere Gäste dazu auf dem Parkett inspirieren.

Daher habe ich mich nun entschlossen, mit einer Reihe von Artikeln zu beginnen, in denen wöchentlich eine Komposition Piazzollas mit einem bestimmten Interpreten als Tanzmusik vorgestellt wird. Und wie üblich möchte ich dazu auch über die beteiligten Künstler informieren und etwas zum Text der Stücke sagen.

Am Anfang soll eine Interpretin stehen, die viele Stücke des Komponisten gesungen hat: Milva (Maria Ilva Biolcati, 1939-2021). Neben Songs von Brecht / Weill, Edith Piaf und Mikis Theodorakis trat sie auch immer wieder mit Themen Piazzollas in Erscheinung, mit dem sie eine intensive Zusammenarbeit verband.

Heute möchte ich ihre Interpretation von „Los Pajaros perdidos“ („Die verlorenen Vögel“) vorstellen. Piazzolla komponierte den Titel 1973. Im Text von Mario Trejo heißt es:

„Zurück kommen die nächtlichen Vögel

Die blind über das Meer fliegen

Die ganze Nacht ist ein Spiegel

Der mir deine Einsamkeit zurückträgt.

Ich bin nur ein verlorener Vogel

Der aus dem Jenseits zurückkommt

Um sich in einem Himmel zu verlieren

Den ich nie mehr zurückerobern kann.“

https://www.genuin.de/pictures/Liedtexte_deutsch_EnsembleEncore.pdf

Im folgenden Video singt Milva das Stück zusammen mit dem Komponisten:

https://www.youtube.com/watch?v=e-kegm6ztb8

Wer es gerne etwas wuchtiger mag – hier begleitet sie das „Quintetto Argentino di Daniel Binelli“:

https://www.youtube.com/watch?v=ayTPeq8OPOw

Jochen Lüders schreibt (siehe obige Quelle):

„Mir ist schnurzpiepegal, ob die Leute zu seiner Musik ‚tanzen‘. Jeder darf nach Herzenslust rummurksen und sich blamieren. Man sollte halt nur nicht glauben, bzw. öffentlich verkünden, dass Piazzolla das wollte.“ 

Ich wüsste nicht, dass ich dies je getan hätte. Allerdings bezweifle ich auch, dass man sich blamieren wird, wenn man die „Verlorenen Vögel“ einmal auf dem Parkett probiert.

Und vielleicht hat Klaus Wendel sogar beinahe recht, wenn er mir gegenüber feststellt:

„Ein immer präsentes Thema und Trugschluss Nr.1 - das Beispiel Piazzolla. Nach jahrelangem Hin und Her über Ihre Proklamation, dass Piazzollas Musik allgemein als publikumstaugliche Milonga-Tanzmusik tauglich sei, gelingt es Ihnen immer noch nicht, zwischen persönlichen Musikvorlieben und dem Konsens für gut tanzbare Musikstücke für eine Allgemeinheit zu unterscheiden. Sie reden ständig damit an allgemeinen Bedürfnissen des Großteils der Tangoszene vorbei.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/05/es-kreite-der-berg.html

Nun habe ich nie behauptet, für „die allgemeinen Bedürfnisse des Großteils der Tangoszene“ zu schreiben, jedenfalls nicht der heutigen. Dazu müsste ich ständig über den „alleinseligmachenden Abrazo“, die „unfehlbaren argentinischen Maestros“ und die „unglaublichen musikalischen Feinheiten“ von mehr als 80 Jahre alten Tangoschlagern faseln. Und ich müsste meinen Leserinnen und Lesern einreden, dass sie nicht zu „Piazzollas Knarzen, Kratzen und Quietschen“ tanzen sollten.  

Aber in unseren Zeiten haben auch Minderheiten ein Recht auf Gehör – und es wäre respektvoll und achtsam, wenn sie pro Abend auch mal eine Piazzolla-Tanda serviert bekämen. Und – wer weiß – vielleicht steigert meine neue Reihe den Anteil von Piazzolla-Fans von einem auf zwei Prozent. Darüber würde ich mich sehr freuen!

Klar, Leute wie Klaus Wendel beschreiben den Status Quo – nur: Wer sich darauf beschränkt, verliert den Blick in die Zukunft.

In ihrem Buch „So kann man das nicht sehen“ beschreibt meine Tangofreundin Manuela Bößel eine Begegnung mit der Musik Piazzollas: Der Sänger, so schreibt sie, habe ihreine Maske nach der anderen vom Gesicht“ gesungen.

Das ist vielleicht der Grund, wieso es der Komponist bei einem Großteil der heutigen Szene so schwer hat!

Kommentare

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