Sie wollen Tango tanzen? Als Frau?

Also echt: Da haben Sie sich was vorgenommen! Schon deshalb, weil es eh schon mehr als genug Damen gibt, welche diese Absicht antreibt. Bei vielen Tangokursen heißt es: „Anmeldung nur paarweise“ (und gell, keine Frauenpaare!). Auch bei Tanzveranstaltungen müssen Sie fallweise damit rechnen, dass Ihre Registrierung nicht akzeptiert wird, weil Sie das falsche Geschlecht aufweisen. Sexuelle Diskriminierung? Aber nein – man will die Frauen nur davor schützen, dann tatenlos herumzusitzen…

Was ich nicht verstehe: Sie haben doch schon im restlichen Leben geschlechtlich die Arschkarte gezogen. Wieso muss es dann noch Tango sein?   

Ihnen ist sicherlich klar, dass Sie im Berufsleben statistisch nicht dasselbe verdienen wie die Männer: Je nach Berechnungsmethode bis zu fast 20 Prozent dürfen Sie im Schnitt vom Gehalt abziehen – nur, weil Sie kein Mann sind!

https://de.wikipedia.org/wiki/Gender-Pay-Gap

Und das, obwohl Mädchen die Jungen bei den schulischen Leistungen übertreffen!

Nach Andreas Hadjar, Professor für Erziehungssoziologie und Leiter einer Studie der OECD, gab es bei den Jungen „einen klaren Zusammenhang zwischen schlechten Leistungen und einer traditionellen Meinung über ihre Geschlechterrolle, nämlich, dass Männer Frauen ‚führen' sollen". Jungs mit diesen Merkmalen neigten außerdem eher dazu, den Unterricht zu stören, und schnitten deshalb schlechter ab: Sie erzielten ein um etwa acht Prozent schlechteres Jahresergebnis als der durchschnittliche männliche Schüler im gleichen Jahrgang.

https://www.sueddeutsche.de/bildung/luxemburger-studie-jungs-haben-wenig-lust-auf-schule-1.2523196

Tja, nicht nur im Tango gilt: Führen zu wollen macht Männer blöd!

Und vor allem: Als Frau leben Sie in Partnerschaften gefährlich:

Laut einer aktuellen Statistik des Bundeskriminalamtes zur Partnerschaftsgewalt haben die Behörden im Jahr 2021 bundesweit 143.016 Fälle registriert, in denen ein aktueller oder ehemaliger Partner Gewalt ausgeübt hat oder dies versucht hat.

80,3 Prozent der von Partnerschaftsgewalt Betroffenen waren im vergangenen Jahr Frauen. Bundesfamilienministerin Lisa Paus erklärte, es sei davon auszugehen, dass derzeit zwei Drittel der weiblichen Opfer nicht zur Polizei gehe.

In den meisten Fällen handelte es sich um vorsätzliche einfache Körperverletzung (59,6 Prozent). Jeder vierte registrierte Fall bezieht sich auf Bedrohung, Stalking und Nötigung.

Die Anzahl der Opfer bei vollendetem Mord und Totschlag lag bei 121, davon 109 weibliche und zwölf männliche.

https://www.tagesschau.de/inland/haeusliche-gewalt-bka-statistik-101.html

Als Frau hat man dabei also ein neunfach höheres Risiko, umgebracht zu werden – meist von einem Täter des persönlichen Nahfelds!

Können Sie sich dazu durchringen, sich im Fall des Falles an die Polizei zu wenden? Elke Ferner, Vorsitzende von „UN Women Deutschland“, sagt dazu:

Der Frauenanteil bei der Polizei beträgt im Bundesdurchschnitt immer noch weniger als 20 Prozent. Eigentlich müsste es zur Grundausbildung bei der Polizei gehören, wie sie mit geschlechtsspezifischer Gewalt umgehen und sich in einer akuten Situation verhalten sollen – und zwar sensibel gegenüber den Opfern. (…) Für Frauen ist der gefährlichste Ort der eigene Haushalt!“

Was sie zu den Lösungs-Perspektiven äußert, sollte auch im Tango gelten:

„Die Frage ist: Welche Frauenbilder haben wir in den Medien? Welche Rollenstereotype gibt es für Frauen und für Männer? Müssen Männer immer die toughen Bestimmertypen sein oder ist eine vermeintliche Schwäche nicht vielleicht auch Stärke? Das fängt bei den Kleinsten an und dabei, welches Bild, welche Handlungsmöglichkeiten wir ihnen im Elternhaus, in den Kitas und in Schulbüchern vermitteln: Zementiert das geschlechtsspezifische Rollenstereotype oder bricht es sie auf? Dann, glaube ich, kann sich auch etwas verändern.“

https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/misogyne-gewalt-103.html

Dennoch, werte Damen, haben Sie im Leben eher wenig zu sagen. Die Jungs erklären Ihnen die Welt. „Mansplaining“ (zu Deutsch „Herrklären“) nennt man diesen bekannten Effekt:

https://www.youtube.com/watch?v=xByk2nHlfb4

Dies gilt natürlich zuvörderst im Tango. Ich habe bei YouTube einmal die Suchworte „Tango argentino Unterricht“ eingegeben und gleich das erste Video genommen:

https://www.youtube.com/watch?v=eDGmE9G3Kx4

Eine im Tangounterricht bekannte Kombination: Alter Seckel und junges, rotblondes Mädel. Er redet ohne Unterlass, sie darf in gut 11 Minuten genau einen Satz beisteuern. Und der Tango beginnt mit einem Rückwärtsschritt – geradezu symbolisch! Immerhin wird in einer ADTV-Tanzschule unterrichtet und somit Musik eingesetzt.

Liebe Damen, die männliche Dominanz wird Ihre Tangokarriere prägen! Der führende Herr wird Ihnen ein Mitwirkungsrecht beim Tanzen oft nur zubilligen, wenn Sie aus seiner Sicht alles „richtig“ machen. Vor drei Jahren zitierte ich dazu einen DJ:

Ich gebe es keiner Dame, die… diesen Raum gebe ich keiner Dame, die nicht im Großen und Ganzen alle meine Führungssignale richtig versteht – und wo ich auch merke, dass sie die Musik… das mag jetzt arrogant klingen, aber ich bin auch Disc Jockey geworden … Tango DJ geworden, weil ich natürlich tief in der Musik bin und die Musik sehr gut kenne und die Instrumente höre und auch die Musiker meistens auch kenne – die großen Solisten beispielsweise, die großen Virtuosen – und wenn ich merke, die Dame, die kann jetzt mit den Sachen… die meint vielleicht, sie kann damit was anfangen, aber dem ist nicht so, in meinen Augen, dann kann ich ihr den Raum nicht geben, es ist für mich kein interessanter Tanz dann.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/10/gleichberechtigung-von-berlin-bis-passau.html

Gestern fand ich in einem Artikel eines anderen DJ das Bekenntnis, als Führender vertrage er „Eigeninitiative“ der Partnerin nur „in homöopathischer Dosierung“ (also in einer nicht durch Studien belegten Wirksamkeit).

In einem Kommentar dazu schreibt der Tangolehrer Klaus Wendel: Natürlich hat der Führende einen größeren Einfluss darauf, ob ein Paar souverän und elegant wirkt, aber eine erfahrene Folgende kann aus einem weniger guten Tänzer einen guten machen.“

https://jochenlueders.de/?p=15907

Na immerhin: Wenn’s bei einem Kerl mal nicht reicht, darf das Mädel aushelfen. Wie im richtigen Leben…

Sie werden nach alledem schon ahnen, dass Sie auch beim Auffordern die schlechteren Karten haben. Am besten dekorieren Sie ein Stühlchen und senden hoffnungsvolle Blicke. Ach ja: Bitte adrett zurechtgemacht mit Kleidchen und High Heels! Die Jungs dürfen dagegen gerne in ihren zerlumpten Jeans auftauchen. „Er ist ein Mann, und das genügt“ schrieb Kurt Tucholsky einmal. Direkt auf einen Typen zugehen und ihn um einen Tanz bitten gehört sich nicht. Frauen, welche unverblümt sagen, was sie wollen, kommen schlecht an – siehe Alice Schwarzer. Übrigens oft auch bei ihren Geschlechtsgenossinnen…

Fordert man Sie dennoch mal auf, dürfen Sie sich manchmal sexuelle Anzüglichkeiten anhören (oder diese spüren). Überlegen Sie aber: Vielleicht war der Rock doch zu kurz oder der Ausschnitt zu tief? Es liegt in der weiblichen Tradition, die Schuld erst einmal bei sich zu suchen.

Möglicherweise würden Sie die Kosten für den Tango auch gar nicht aufbringen können, gerade, wenn Sie alleinerziehend sind. Nur ein Drittel der unterhaltspflichtigen Väter zahlt regelmäßig den vollen Kindesunterhalt, der Rest zu wenig, nur sporadisch oder gar nicht – obwohl es sich die Mehrzahl finanziell leisten könnte. Man will schlicht der Mutter eins auswischen. Dann muss der Staat einspringen – mit dem Mindestunterhalt.

https://www.t-online.de/leben/familie/erziehung/id_76854700/kindesunterhalt-warum-viele-vaeter-nicht-zahlen-wollen.html

Können Sie bei akuten Bedrohungen in ein Frauenhaus flüchten? Da stehen Ihre Chancen schlecht: Nach der „Istanbul-Konvention“, welche auch Deutschland unterzeichnet hat, müsste es pro 10000 Einwohner einen Familienplatz geben. Nach dieser Berechnung fehlen bei uns fast 15000 Betten.

https://taz.de/Ueberlastete-Frauenhaeuser/!5521440/

Werte Damen, unter diesem Aspekt ergibt sich vielleicht sogar eine positive Aussicht: Betrachten Sie eine Milonga einfach als „Frauenhaus“: Dort werden Sie vielleicht sexuell diskriminiert oder belästigt, aber wenigstens nicht bedroht, geschlagen oder gar ermordet.

Dafür sollten Sie dankbar sein!

P.S. Zum Weiterlesen: https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/12/gerlinde-geht-zum-tango.html

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