Traumtangos

Der Blogger-Kollege Helge Schütt hat kürzlich sein überwältigendes Erlebnis eines „perfekten Tango“ geschildert: Auf einer Milonga tanzte er mit seiner Partnerin zum Gitarren-Solo eines Musikers. Bei den Klängen von „El Choclo“ gelang den beiden etwas, das der Autor so beschreibt: „Besser kann ein Tanz nicht werden!“

Alle anderen Gäste blieben sitzen – wohl in Erwartung des folgenden Auftritts des gesamten Orchesters. Das Paar war also allein auf der Fläche. Dabei stellten die beiden fest, dass der Musiker sie beobachtete und sein Spiel ihren Tanzbewegungen anpasste. Eine perfekte Symbiose mit dem Partner und der Musik!

Dem Autor und seiner Tänzerin ist zunächst einmal hoch anzurechnen, dass sie sich trauten, als Einzige – beobachtet wohl von der ganzen Besucherschar – das Parkett zu betreten. Dass sie dabei zur Sicherheit auf schwierige Bewegungen verzichteten, ist verständlich. Und ja – auch ich habe es schon erlebt, dass Musiker Tanzenden auf die Füße schauen und das Gesehene akustisch interpretieren. Eine überwältigende Erfahrung!

Helge Schütt zieht aus dem Erlebten drei Schlüsse:

Komplexe Figuren oder artistisch-dynamische Einlagen seien nicht erforderlich – stattdessen sollte man sich auf das konzentrieren, was man wirklich sauber und fließend tanzen könne.

Man benötige kein großes Orchester – die Intimität des Tanzes sei entscheidend.

Ebenso wenig müsse die Musik komplex sein. Dass er als Beispiel dafür ausgerechnet Piazzollas „Oblivion“ erwähnt, ließ mich ein wenig schmunzeln. Dieses Stück können auch mittelmäßig Tanzende einigermaßen hinbekommen.

„Wie sieht es bei Euch aus? Habt ihr solche Momente schon einmal selber erlebt?“ Diese Schlussfrage des Verfassers hat mich zu meinem Beitrag animiert:

Ja, sicher – ziemlich oft sogar! In erster Linie natürlich mit der besten Ehefrau von allen sowie einigen anderen, hervorragenden Tänzerinnen aus meinem persönlichen Umfeld. Weiterhin mit einer ganzen Reihe von Damen, die ich überhaupt nicht kannte und teilweise nie mehr wiedergesehen habe. Diese Erlebnisse, weil singulär, bleiben einem besonders im Gedächtnis haften. Und in 23 Jahren Tango kommt da einiges zusammen.

Was sind die Voraussetzungen, damit es zu Traumtänzen kommen kann?

Zunächst einmal: Man kann sie weder planen, steuern noch gar erzwingen, indem man beispielsweise die argentinische Starlehrerin auffordert. Auch der Besuch von hundert Workshops hindert nicht daran, dass der beabsichtigte Flug zu den Sternen schon auf der Startrampe endet.

Traumtänze passieren einfach. Und sie sind nicht das Verdienst des tollen Tänzers oder der brillanten Tänzerin respektive der himmlischen Musik. Das alles sind gute Voraussetzungen, die aber dennoch oft genug im Üblichen enden.

Der Flow, nach dem viele von uns süchtig sind, ist und bleibt ein Geschenk der Tangogötter an uns Irdische, für das wir nur dankbar sein können.

Klar kann man dafür etwas tun: Vor allem dürfen beide keine Sekunde mehr an die Choreografie denken, weil sie das von der Kommunikation im Paar, vor allem aber von der Beziehung zur Musik ablenken würde. Da haben Helge Schütt und seine Partnerin schon einmal alles richtig gemacht, indem sie nur das tanzten, was sie wirklich gut beherrschen. Wenn man komplexere Sachen mühelos draufhat, wird es aber noch spannender. Aber diese Erfahrung wird der Autor sicherlich zukünftig auch machen! Dann werden die Tänze wohl noch besser. Aber dazu muss man viele Kilometer runtertanzen – auf den Milongas.

Dabei wiederhole ich mich gerne zum unzähligen Mal: Ein Tangounterricht, der mehr auf Schrittkombinationen denn auf Musikalität setzt, ist das sicherste Mittel, Traumtänze zu verhindern. Ebenso einer, welcher das verzopfte Konzept vom „Führen und Folgen“ statt einer wechselseitigen Kommunikation propagiert. Im „Idealfall“ werden dann noch genaueste Vorschriften zur Art der Umarmung und zu den „Pistenregeln“ verkündet. Es ist zum Heulen!

Ohne Leichtigkeit, Freude und Kreativität wird das nichts.

Wie kommt es, dass man mit einer völlig unbekannten Tanzpartnerin (respektive Tanzpartner) schon nach einigen Takten das Gefühl hat, man habe sich bereits jahrelang auf dem Parkett bewegt? Ich meine, das ist zu einem guten Teil Zufall. Jeder Mensch hat ein individuelles Bewegungsmuster (das einem nicht mal Tangolehrer völlig abtrainieren können). Geraten nun zwei Leute aneinander, deren Aktionsweise frappierend ähnlich ist, entsteht dieses unglaubliche Feeling. Man versteht die Körpersprache des anderen halt mühelos. Und wenn die beiden dann noch die Musik fast in gleicher Weise hören und interpretieren, ist der Flug zu den Tangosternen schon gebucht.

Was mich an der Darlegung des Autors ein wenig stört, ist der Titelbegriff seines Artikels: Sollte ich jemals das Gefühl haben, einen „perfekten Tango“ vollführt zu haben, würde ich mit diesem Tanz aufhören. Was soll denn dann noch kommen? Nein, auch bei einem „Traumtango“ darf es mal wackeln. Physiologisch sind da gute Reflexe hilfreich, welche man andauernd trainieren muss. Psychologisch helfen Entspannung und Humor. Doch, man darf beim Tango auch mal lachen – und im ultimativen Flow sollte man es sogar! Nur dann gelingt es, kleine Patzer als „gewollt“ zu verkaufen. Hallo – es handelt sich nur um einen Paartanz, nicht um den Weltuntergang!

Ich erinnere mich noch heute an einen Tanz vor mehr als sieben Jahren, der alles andere als perfekt war – und mir gerade deshalb noch total gegenwärtig ist. Aber ich wusste schon damals: Die mittelmäßigen Tangueras triffst du einmal pro Woche – die „ungeschliffenen Diamanten“ einmal und nie wieder:  

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/09/abschied-von-einer-lieblingstanguera.html

Manchmal schafft man nicht einmal das. Die Ursache ist oft, dass sich auf den Milongas viele Leute herumtreiben, für die der Tanz eher Nebensache ist. Manchmal scheitern halt Traumtänze schon am Auffordern – wie in dieser Geschichte:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/05/liebes-tagebuch-39.html

Jedenfalls freut es mich für Helge Schütt und seine Partnerin, dass sie die geschilderte Erfahrung gemacht haben. Und da die beiden offensichtlich nicht ganz mehrheitstaugliche Ansichten über das Tanzen haben, vermute ich: Es wird nicht ihr letzter Traumtango gewesen sein.

Hier der Originaltext:

https://helgestangoblog.blogspot.com/2022/12/der-perfekte-tango.html

Und ja: Man kann auch zu Instrumental-Soli wunderschön tanzen. Vielleicht versuchen es die beiden (natürlich auch andere Leser) mal zur Bandoneón-Interpretation eines meiner Lieblingstangos : „Nunca tuva novio“. Es spielt Rodolfo Mederos:

https://www.youtube.com/watch?v=hAyrZ51HqLk

Kommentare

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