Liebes Tagebuch… 69
Kürzlich besuchte ich mit einer Tangofreundin eine lokale Milonga. Die Musik… na ja, sie war ausschließlich konservativ, aber ganz nett zusammengestellt. Man ist ja im heutigen Tango bescheiden geworden…
Per Zufall sah ich dort eine Tanguera wieder, die ich aus „Tango-Urzeiten“ kenne. Vor mehr als 15 Jahren liefen wir uns auf einer Veranstaltung über den Weg, die wegen ihrer genial vielfältigen Musikauswahl ein „Must have“ für die gesamte örtliche Szene darstellte (damals gab es die heutige Spaltung im Tango noch nicht).
Ich forderte sie auf – und nach dem ersten Stück müssen wir einander ziemlich verwirrt angesehen haben: Es gab eine Verständigung, als ob wir schon jahrelang miteinander getanzt hätten! Sie fasste sich als erste und meinte in ihrer stets leicht spöttischen Art: „Ach, so tanzt man also in eurer Gegend?“ An meine Antwort kann ich mich nicht mehr erinnern, schließe jedoch aus, dass sie auch nur ansatzweise intelligent war…
Einige Jahre sahen wir uns öfters beim Tanzen, später führten unsere Wege wohl in unterschiedliche Tangoszenen – alle paar Jahre mal sahen wir einander, manchmal nur aus der Entfernung. Privatere Kontakte gab es kaum.
Neulich war es also wieder mal so weit – und wir bewegten uns zu einer ziemlich nichtssagenden Tanda. Allerdings waren wir beide wild entschlossen, das Letzte aus der ziemlich frugalen Begleitmusik herauszuholen – und das gelang uns wie zu längst versunkenen Zeiten.
Auf dem Heimweg unterhielt ich mich mit meiner Begleiterin, welche ebenfalls schon seit „Tango-Urzeiten“ aktiv ist, über dieses Phänomen. Wir waren uns einig: Es gibt eine Art zu tanzen, welche nur Leute hinbekommen, die schon weit mehr als zehn Jahre Tango auf dem Buckel haben.
Dabei meine ich nicht einen speziellen Stil, sondern eine gewisse Mentalität: Zu der gehört, dass beide Partner entschlossen sind, sich zunächst mal selber zur Musik zu bewegen. Ebenso aber, jene geheimnisvolle Verbindung zum Partner aufzubauen, die sich kaum in Worten beschreiben lässt. Die ist so sanft wie intensiv. Bei solchen Tänzerinnen habe ich das Gefühl, sie wüssten, was ich vorhabe, bevor es mir einfällt – umgekehrt natürlich ebenso.
Was heute gleichfalls fast ganz aus der Szene verschwunden ist:
Eine riesige Neugier, auf Musik zu tanzen, welche einem noch nicht
geläufig ist, das Experiment, die Herausforderung zu suchen. Von passionierten
Höhlenforschern (Speläologen) hörte ich, sie triebe vor allem das Ziel,
Räume zu betreten, in welchen sich noch nie ein Mensch aufhielt. Beim Tango
geht es mir ähnlich! Stattdessen las ich schon ein paar Mal, tanzbare Tangomusik müsse „voraushörbar" sein – eine Vokabel, die bei mir stets Übelkeit hervorruft.
Und so gerne wir zarte, schmelzende Melodien interpretieren – es geht nicht ohne einen Antrieb, den ich als „Rampensau-Gen“ bezeichne: Es zu temperamentvoller Musik einmal richtig „krachen zu lassen“, ganz bewusst an seine Grenzen zu gehen. Vielleicht liefert die folgende Interpretation von Miguel Ángel Zotto und Soledad Rivero eine Vorstellung davon:
https://www.youtube.com/watch?v=QbXcy_EEhPk
Meine Begleiterin erzählte mir dann noch von einem Gespräch mit einer Anfängerin, mit welcher sie getanzt hatte, und die ihr von einer Milonga erzählte, wo sie kein einziges Mal aufs Parkett kam. „Ich hab von ihr wissen wollen, warum sie nicht selber aufgefordert hat. Die hat mich angeschaut wie ein Auto: ‚Ja, wie jetzt?‘ Na, einfach hingehen und fragen! Ich hab ihr dann lieber nicht erzählt, dass ich in meinen Anfängerzeiten jeden Mann aufgefordert habe, der nicht bei drei auf dem Baum war.“
Ja, auch das gehörte zum Tango früherer Zeiten: Mut. Auch dazu, einen ganz eigenen Stil zu entwickeln und zu diesem zu stehen. Courage war auch nötig, als wir 2015 in aller Naivität beschlossen, in unserem Wohnzimmer zu Live-Musik einen Tango zu tanzen und das Ganze auf YouTube zu veröffentlichen. Der Hohn und Spott, welcher sich bis heute speziell über meine tänzerischen Fähigkeiten ergießt, ist rekordverdächtig – ebenso übrigens die immerhin fast 3300 Aufrufe. Ganz uninteressant scheint die Produktion also nicht zu sein:
https://www.youtube.com/watch?v=fX4SXOPa4cY&t=19s
Was die Kritiker natürlich nicht kapieren: Es gibt unendlich viele Tangostile – und genau das macht den Reiz dieses Tanzes aus. So kann man beispielsweise auch mit dieser Art als Lehrer- und Veranstalterpaar internationale Bekanntheit erwerben sowie Bücher und Lehrvideos veröffentlichen. Wegen meiner christlich-humanistischen Wertvorstellungen habe ich es stets unterlassen, dies mit ähnlich deftigen Vokabeln zu belegen:
https://www.youtube.com/watch?v=2pP5D0AtfsI
Nein, das alles ist Tango!
Was ich besonders amüsant finde: In unserer Szene wird über wenig so heftig abgelästert wie den Standard-Tango. Dabei hat man in den letzten fünfzehn Jahren dessen Maxime übernommen: Es gebe genau eine vorschriftsmäßige Weise, Tango zu tanzen, dazu natürlich korrekte „Figuren" – und eine Vielzahl von Preisrichtern, welche dann durch Hochheben mentaler Wertungstäfelchen dessen Qualität beurteilten – heute auch gerne analog bei Tango-Meisterschaften.
Mit dieser Methode hat man den Tango einer ganzen Generation kaputtgekriegt. Ich spüre das bei vielen Frauen, welche unseren Tanz erst in den letzten zehn Jahren erlernten. Kennst du eine, kennst du alle… Sie wurden nicht unterrichtet, sondern abgerichtet. Ich kann daher allen Neulingen im Tango nur raten, sich ihren individuellen Weg nicht verbauen zu lassen. Und zur Erinnerung: Nicht der Mann führt, sondern die Musik!
Der Zufall wollte es, dass mich heute eine Leserin auf die italienische Sängerin Milva hinwies, welche ja auch mit Astor Piazzolla zusammengearbeitet hat. Bei der Recherche stieß ich auf ein Interview, in dem der Komponist den dramatischen Wendepunkt seines Schaffens beschrieb:
1953 reichte Piazzolla seine Sinfonia Buenos
Aires beim Wettbewerb Fabien Sevitzky ein und gewann den ersten Preis.
Daran war ein Stipendium der französischen Regierung geknüpft. Ab 1954
studierte er daher bei Nadia Boulanger in Paris, was für Piazzolla zu einer
entscheidenden Wende in seiner kompositorischen Laufbahn führte. Piazzolla
selbst beschrieb diese Begegnung in einem Interview in der chilenischen Zeitung
"El Mercurio" (1989, Interviewer Gonzalo Saavedro):
„Als ich mit den Kilos an Sonaten und Symphonien unterm Arm zu ihr kam, sagte
ich zu ihr: ‚Maestra, hier sind meine Werke.‘ Sie las die Partituren, dann
begannen wir die Musik zu analysieren, und sie sagte in einem Satz, den ich
schrecklich fand: ‚Hier ähneln Sie Strawinsky, hier Bartok, hier Ravel, aber
wissen Sie was? Ich finde hier keinen Piazzolla.‘
Sie begann, mich nach meinem persönlichen Leben zu fragen, was ich machte, was
ich spielte, was ich nicht spielte, wo ich lebte, mit wem, ob ich verheiratet
war… ich kam mir vor wie beim FBI. Ich schämte mich sehr, ihr zu erzählen, dass
ich Tangomusiker war, ich schämte mich wirklich sehr. Und zum Schluss sagte
ich: ‚Und ich spiele in einem Nightclub‘. Ich war wütend, dass sie mich dazu
gebracht hatte, dies zu sagen. Und sie bohrte weiter: ‚Sie sagten, dass Sie
nicht Klavier spielen. Welches Instrument spielen Sie?‘ Ich wollte ihr nicht
sagen, dass ich das Bandoneon spielte, weil ich dachte, sie würde mich im hohen
Bogen aus ihrem Fenster im vierten Stock werfen. Schließlich gestand ich es
ihr, und sie wollte, dass ich ihr einen meiner Tangos vorspielte. Plötzlich öffnete
sie die Augen, nahm meine Hand und sagte: ‚Dummkopf, das ist Piazzolla!!‘ Und
ich nahm meine ganze Musik, zehn Jahre meines Lebens, und warf sie in zwei
Sekunden zum Teufel.
Nadia hat mich gelehrt, an Astor Piazzolla zu glauben und daran, dass meine
Musik nicht so schlecht war, wie ich meinte. Ich hatte geglaubt, dass es
verwerflich sei, Tangos in einem Kabarett zu spielen, aber jetzt entdeckte ich,
dass ich etwas hatte, was man Stil nennt. Ich fühlte eine Art Befreiung von dem
beschämten ‚Tanguero‘, der ich bis dahin war. Ich befreite mich plötzlich und
sagte mir: ‚Gut, ich muss also mit dieser Musik weitermachen.‘“
http://www.milva-gala.de/milva_piazolla.htm
Was wäre geschehen, wenn Piazzolla dabei geblieben wäre, so zu komponieren wie seine Vorbilder? Glücklicherweise stand er zu seinem eigenen Stil. Vermutlich treibt mich genau das immer wieder auf die Piste, wenn seine Musik einmal erklingt.
Für die Sängerin Milva hat er seinen wohl bekanntesten Titel neu arrangiert: „Oblivion“.
https://www.youtube.com/watch?v=lzC1kKZGxBg
P.S. Man wird mir in gewissen Kreisen wohl vorhalten, mal wieder einen „Früher war alles besser-Artikel“ verfasst zu haben. Mag schon sein. Ich finde die Vorhaltung allerdings von Leuten drollig, welche gerne zu 80 Jahre alter Musik tanzen…
Wiederspruch (zumindest aus Südhessen) zu: "Was heute gleichfalls fast ganz aus der Szene verschwunden ist: Eine riesige Neugier, auf Musik zu tanzen, welche einem noch nicht geläufig ist, das Experiment, die Herausforderung zu suchen."
AntwortenLöschenHier ist das lebendig. Sehr lebendig. :-) Zum Glück.
Lieber Carsten Buchholz,
Löschenwenn das so ist, freut es mich natürlich!
Auch bei uns gibt es Milongas mit anspruchsvoller, vielfältiger Musik, aber sie sind klar in der Minderzahl.
Da ich keine großen Reisen mehr unternehme, habe ich kaum konkrete Erfahrungen über den bayerischen Raum hinaus. Ich lese allerdings viele Einladungen und Ankündigungen, welche insgesamt schon ein sehr konservatives Bild zeichnen.
Nur, um nicht missverstanden zu werden: Meine Feststellung bezog sich nicht auf die Sorte von "Neolongas", wo man vorwiegend tänzerisch öde "Non Tangos" auflegt.
Danke und herzliche Grüße nach Hessen
Gerhard