Das unbekannte Schöne

In einem Facebook-Forum, in dem sich häufig die konservativen Erleuchteten an der Konsole austauschen, tauchte neulich eine interessante Frage auf:

Da findet man ein ziemlich unbekanntes Stück Tango. Du denkst, es ist ein neues Juwel. Was ist dein bevorzugter Ansatz, um zu überprüfen, ob es zum Tanzen geeignet ist?

1. Ich bin der DJ. Ich weiß es einfach.

2. Versuche zu Hause selbst darauf zu tanzen.

3. Frage nach der Meinung anderer Leute.

4. Spiele es bei der nächstbesten Milonga und nutze deine Tango-Community als Versuchskaninchen (weil – warum nicht)

5. andere"

Eine Reihe von Antworten wirkt durchaus konstruktiv und wohlmeinend:

„1. Ich bin ein DJ, ich habe Prinzipien, um zu sagen, welcher Kandidat funktionieren könnte

2. durchhören, wenn nötig, durchtanzen. Stell dir vor, wie die Tänzer auf der Tanzfläche reagieren würden.

3. spiele ihn in einer Milonga, wo die Leute aufgeschlossener sind. Früh, bevor die meisten Leute kommen, oder spät, wenn alle high sind.“

„Ich probiere es bei meiner Practica aus, um die Resonanz abzuschätzen, bevor ich es in die Milonga einfüge. Wenn die Leute dazu üben oder darauf reagieren, überlege ich, ob ich es in eine Party einbauen soll.“

Gelegentlich wird sogar ein mutiges Vorgehen angeregt:

„In Wirklichkeit musst du tun, was du für richtig hältst. Manchmal ist es wichtig, ein Risiko einzugehen. In der Geschichte der Popmusik hat oft ein DJ aus Versehen die B-Seite einer Single aufgelegt, die dann ein Riesenhit wurde... Man weiß es einfach nie, bis man es versucht...“

„Ich spiele es zwanzig Mal hintereinander. Wenn es mich immer noch zum Tanzen bringt, fange ich an, eine Tanda zu kreieren.“

O nein, wenn ich ein Stück so oft hintereinander höre, hängt es mir zu den Ohren raus! Aber gut – als „traditioneller“ DJ muss man da hart im Nehmen sein…

„Tanze es einfach selbst, ich persönlich spiele kein Lied, das ich nicht selbst tanzen kann, es ist eine grundlegende Höflichkeit als TDJ meiner Meinung nach.“

Das könnte eine Erklärung dafür sein, wieso viele DJs so auflegen, wie sie es tun: Sie spielen nur, worauf sie selber tanzen können! 

„Ein Tango-DJ, der nicht tanzt, kommt mir immer komisch vor. Aber solche Fälle gibt es in BA zuhauf. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum sie das ‚Unbekannte‘ nicht erkunden?“

Apropos:

„In Buenos Aires habe ich die schlimmsten DJs meines Lebens gehört. DJs in Europa sind weitaus besser, deshalb würde ich mir kein Beispiel an BA nehmen. (…) Das war jeden Abend so, die ganze Nacht lang. Man hatte das generelle Gefühl, dass es dem DJ egal war. Es war, als ob die DJs einfach dieselben Playlists weiterreichten oder sich gegenseitig aus irgendeiner seltsamen Mode heraus kopierten. (…) Ich unterstütze die idiotische Idee, dass in BA alles besser ist, nicht. Meine Reise hat mir tatsächlich ermöglicht zu erkennen, dass die Leute, die solche Dinge sagen, es nur tun, um das, was sie tun, als ‚den richtigen Weg‘ zu rechtfertigen.“

Das blieb auf einem solchen Forum natürlich nicht unwidersprochen. Amüsiert hat es mich dennoch!

Insgesamt überwog jedoch die Skepsis: Ein unbekanntes und dennoch tolles Stück? Kann es das überhaupt geben?

„Ich spiele nur Lieder, an die ich mich erinnere, dass ich bei einer guten Milonga gerne getanzt oder sie gehört habe, ich glaube nicht an diese neue Edelsteinidee.“

„Ich glaube, ein neues Juwel zu finden, nachdem 100 Jahre lang Tango gespielt und getanzt wurde, ist ziemlich unmöglich. Wir alle kennen die Tangos, die wir alle tanzen wollen, und wir alle wissen, was die Leute hören und tanzen wollen.“

„Schmeiß ihn weg, denn wenn er unbekannt ist, bedeutet das, dass es viele andere Tangos gibt, die von besserer Qualität sind und darauf warten, getanzt zu werden.“

„‚Unbekanntes Stück Tango‘ und ‚ein neues Juwel‘ zusammen gibt es nicht.“

Und man darf keinesfalls so naiv sein, eine wunderbares neues Stück einfach aufzulegen – es muss ja nach den orthodoxen Gesetzen noch in eine Tanda passen:

„Ein Lied bedeutet nicht viel, wenn man damit keine homogene Tanda machen kann.“

„Dann beginnt der wahre Ärger. Kann ich noch 3 Lieder finden (vorausgenommen es ist Tango), die fast in energetischer Qualität sind, etwa zur gleichen Zeit aufgenommen wurden (man mischt kein Lied aus den 1920er Jahren mit den 1950er Jahren) und vom selben Künstler stammen? Letzteres war für mich normalerweise ein Problem. So bleibt mir ein wunderbares Lied übrig, zu dem niemals getanzt werden wird...“

Ich finde, nichts zeigt die mentale Deformation in dieser Szene so deutlich wie diese Antwort: Da kann man einen noch so schönen Tangotitel finden – wenn es nicht noch zwei ähnliche gibt, bleibt er ungespielt. Ich muss mal bei Kunsthistorikern erkundigen, wieso man die „Mona Lisa“ so isoliert und überhaupt ausstellt. Wo es doch vielleicht keine zwei weiteren, vergleichbare Kunstwerke aus derselben Zeit gibt…

Was mich noch mehr wundert, ist die musikalische Unsicherheit, die aus vielen Antworten spricht. Mit allzu viel Gehör gesegnet scheint man in der Branche nicht zu sein...

Wie ich das selber halte?

Natürlich würde ich eine solche Aufnahme spielen – ohne Wenn und Aber! Cortinas verwende ich nicht, und Tandas stellen für mich keinen Zwang dar. Vielleicht möchte ich an einer bestimmten Stelle des Programms gerade gewisse Kontraste einbauen. Auf jeden Fall suche ich eher nach dem unbekannten Schönen denn dem bekannten Mittelmaß.

Vor allem aber wundert es mich, dass in der konservativen DJ-Szene eine derartige Mutlosigkeit herrscht. Ist die dem Anpassungszwang geschuldet? Einige Male schon las ich, bereits ein unorthodoxer Titel könne bewirken, dass man auf einer „Blacklist“ lande. Sprich: Nie mehr eingeladen wird.

Wenn man ohne historische Scheuklappen auflegt, begegnet man immer wieder Aufnahmen, die man noch nie auf einer Milonga gehört hat. Oft suchte ich sogar danach. Wie entscheide ich, ob ein „neues“ Stück Eingang in mein Musikprogramm findet?

Bei dem Thema erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem Professor, der an einer Musikhochschule Klavier unterrichtete. Wir kamen auf das Thema Tanzturniere. Was er nicht verstand: Wie können Wertungsrichter in anderthalb Minuten die Leistungen von sechs bis acht Paaren beurteilen? Ich fragte ihn zurück: „Wie lange brauchen Sie, um zu erkennen, wie gut jemand Klavier spielt?“ Seine lächelnde Antwort: „maximal zehn Sekunden“.

Ähnlich geht es mir bei der Auswahl von Titeln, die mir zum Tanzen geeignet erscheinen: Vielleicht überzeugen mich schon die ersten zehn Takte, möglicherweise höre ich noch kurz in die Mitte der Aufnahme, eventuell in die „Schlusskurve“. Mehr brauche ich nicht.

Ansonsten halte ich mich an die alte Fußballer-Weisheit: „Entscheidend is‘ auf’m Platz.“ Sprich: Man muss halt sehen, was die Tanzenden auf der Piste draus machen. Hinterher ist man dann klüger. Aber meistens bestätigen sich die Erwartungen.

Sehr treffend finde ich den Satz, mit welchem ein Kommentator in der obigen Debatte einen alten Tanguero zitiert:

„Wenn die Musik dir Energie gibt, anstatt dass du Energie in das Tanzen investieren musst, dann ist es gute Tango-Tanzmusik.‘"

Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 3.12.22)

So ging es mir mit einem völlig unbekannten Stück, das vor Jahren meine Tangofreundin Manuela Bößel auflegte. „When a Gipsy makes his Violin cry“. Es stammt von dem ungarischen Komponisten, Geiger und Orchesterchef Emery Deutsch:

https://www.youtube.com/watch?v=pLMcbVH3lrY

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