Stehschmusen die Zweite
Mein Artikel zum „Geronto-Stehschmusen“ hat große Aufmerksamkeit gefunden: In den letzten drei Monaten gab es nur zwei weitere Tage mit derart hohen Zugriffszahlen. In bislang 18 Kommentaren machte man vorwiegend sein Befremden über den Text geltend. Insbesondere der Tangolehrer Klaus Wendel ließ es sich wieder einmal nicht nehmen, seinen Weltschmerz an mir abzuarbeiten.
Ich hatte mit diesen Effekten gerechnet. Der Grund ist klar: Inzwischen hält es eine Mehrheit im Tango für angemessen, zu fast ausschließlich historischer Musik in der beschriebenen Weise zu tanzen – es kommt vielen also „normal“ vor, was die Paare auf dem Hamburger Parkett da treiben. Und auch die dazu gehörende Mimik ist typisch. Ein Kommentator des Videos auf YouTube hat sie so beschrieben: „A lot of beautiful happy follower faces. As usual, leads look like they are solving a difficult puzzle.”
Ich habe meine Veröffentlichung aber auch mit Leuten besprochen, welche die „wilden Tangojahre” um die Jahrtausendwende noch erlebt haben. Die waren ebenso entsetzt wie ich. Völlig klar: Hätten wir den Tango damals so kennengelernt, wären wir zu anderen Freizeitbeschäftigungen übergegangen.
Ich hatte auch mit diesem immerwährenden Vorwurf gerechnet: „Dass Sie gern über ältere Menschen herziehen, die ein Hobby anders betreiben, als Sie es gerne hätten. Deshalb, der persönliche Angriff. Denn Sie greifen diese Leute und wie sie tanzen ja auch an.“ (Originalton Klaus Wendel)
Das muss ich zurückweisen: Ich hätte über das Getanze auf dem Video eine glitzernde Satire verfassen können – so mit 10 Überspitzungen, 15 Wortspielen und 12 Kalauern. Das hier zu Beobachtende gäbe es locker her. Stattdessen habe ich lediglich meine Verzweiflung mittels zweier Gedichte namhafter Autoren dargetan. Das ist nicht aggressiv, sondern depressiv.
Zudem muss es sich heute jedes Hotel, Restaurant und jede Arztpraxis gefallen lassen, im Internet mittels Rezensionen beurteilt zu werden. Kluge Geschäftsleute beantworten Verrisse oft mit dem Angebot eines persönlichen Gesprächs oder versichern, die Missstände beseitigen zu wollen. Nur im Tango ist man entweder beleidigt oder schimpft lauthals herum.
Ein Grund, hier keinen satirischen Verriss zu schreiben, war auch dieser: Ich wollte nicht in die Schiene geraten, die ich von Kommentaren zu den paar Tanzvideos von mir kenne – das sei überhaupt kein Tango, ich könne halt nicht tanzen. Daher zum Mitschreiben: Natürlich wird in dem besprochenen Video Tango getanzt – und ich habe mir noch nie angemaßt zu bestimmen, wie man sich auf diese Musik zu bewegen hat. Ich kann nur meinen persönlichen Geschmack darlegen. Niemand muss sich danach richten. Tango ist ein weites Feld, auf dem viele Blümlein wachsen – manche in der Mitte, andere mehr am Rand.
Was die Herrschaften auf dem Tanzboden des Tangostudios „El Abrazo“ treiben, kenne ich aus meiner Jugendzeit als „Schwof“ – oder wienerisch „Lamurhatscher“. Vielen meiner Kumpels war es (männertypisch) lästig, zahlreiche Tanzkurse zu absolvieren. Andererseits kam man halt durch diese Betätigung ziemlich nah an die Weiber ran. Also wartete man, bis die Kapelle in einer Nahkampfdiele ein langsames Stück wie „Weine nicht, kleine Eva“ (von den Flippers) intonierte:
https://www.youtube.com/watch?v=GEs3m27Pk10
Weine nicht
kleine Eva
Wenn ich heut' auch von dir geh'
Ich werd' dich nicht vergessen
Bald will ich dich wiederseh'n
Schau mich
an kleine Eva
Sind die Tränen dir auch nah
Ich werd' immer an dich denken
Bis ich komm' im nächsten Jahr
https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=weine+nicht+kleine+eva+text
Ein typischer Tangotext, wie ich finde...
Oder es sang der jugoslawische Troubadour Bata Illic von der Platte: „Disch ergenn isch mit verbuhundnen Augän“:
https://www.youtube.com/watch?v=6m4paGPNWkQ
Gerne wurde bei einer solchen Tanzrunde auch das Licht gedimmt, und dann griff man sich seine Biggi und trat in Schmusehaltung, leicht drehend, von einem Fuß auf den anderen.
Ist das nun Tanzen? Na sicher – aber halt mit minimalem Aufwand. Solche Jungs mussten
dann meist nur noch einmal aufs Parkett – beim gefürchteten Hochzeitswalzer, den sie, mit fallweiser Betonung
auf der Zwei, irgendwie hinkriegten:
https://www.youtube.com/watch?v=TxGrgxTZ55I
Der große Unterschied: Solche Jungs meiner Generation erhoben bei ihren Aktivitäten nie den Anspruch, besonders gut zu tanzen oder gar irgendeine Tradition oder gar ein Weltkulturerbe zu vertreten. Das hat sich im Tango geändert, seit man den Leuten eingeredet hat, „umarmungsfokussiert“ zu tanzen und damit den mit höheren Weihen besprenkelten „traditionellen Tango“.
Dazu besteht nicht der geringste Anlass.
Daher sollen Artikel wie der vorherige schlicht bewirken, das Anspruchsgedöns ein wenig zu reduzieren. Zudem ist das Ganze in sich nicht stimmig: Wozu braucht man zu dieser Vierviertel-Trippelei eigentlich viele Kurse und noch mehr Choreografie? Und wenn immer behauptet wird, die alten Aufnahmen enthielten einen derartigen Reichtum an musikalischen Finessen: Ja, wo laufen sie denn? Ich kann bei der Umsetzung auf dem Parkett nur wenig erkennen. Erst recht gerate ich in alberne Stimmung, wenn ich dann noch höre, man lerne auf die Musik bestimmter „großer Orchester“ differenzierte Bewegungsstile. Und wolle dann eine Partnerin wählen, die sich besonders für D’Arienzo, Troilo oder sonst was eigne. Da kann ich nur sagen: Kennst du eine, kennst du alle!
Daher mein Fazit zu solchen Tänzen: viel Geplustere, wenig Ergebnis.
Aber, wie gesagt: Wem dieses Stehkuscheln in vorhersehbarer Atmosphäre reicht, soll es doch tun. Mit meinem Segen.
Für mich jedoch ist die Tangomusik – sogar die alte – viel zu aufregend, um Tempo sowie Stimmung einer Fronleichnamsprozession einzuhalten. Sorry – da muss ich mich schon etwas heftiger bewegen dürfen, auch wenn sich dann etliche Nasen rümpfen.
Um positiv zu enden: Ich wollte mit meinem Text das Tangostudio „El Abrazo“ nicht kritisieren. Da man die Räume auch mieten kann, weiß ich gar nicht, ob es sich im Video um eine Veranstaltung der Hausherren handelte. Auf rein traditionellen Tango ist man allerdings laut Website fixiert:
https://www.elabrazo-tangohamburg.de/
Dass man es auf dem Hamburger Parkett auch mal krachen lässt, zeigt das folgende Video. Ja: Auch das ist Tango – vielleicht ein wenig arg dramatisiert, auf jeden Fall sportlich und vor allem saucool. Und das ist ja auch was.
https://www.youtube.com/watch?v=DXNW62N23Vo
Was haben Rezensionen im Internet über Hotels, Restaurants, Arztpraxen o.ä. mit dem 'Thema' zu tun? Sie kritisieren Teilnehmer einer Veranstaltung. Das wäre so, als würden sich Kritiker über die Essgewohnheiten von Restaurantbesuchern, Gästen in Hotels oder Patienten in Praxen lustig machen. Verstehen Sie diesen Unterschied? Wohl kaum - sonst hätten Sie diesen unpassenden Absatz ja nicht geschrieben.
AntwortenLöschenGruß, Othmar Koeters
Ich rate Ihnen, hier niemanden zu unterstellen, dass er was nicht versteht – sonst landen Ihre Kommentare künftig im Spam, gell?
LöschenZum Vergleich: Es soll auch Rezensionen geben, die sich über das unpassende Benehmen von Restaurant- oder Hotelgästen beschweren – oder Arzthelferinnen, sogar Patienten. Aber wenn Ihnen die Parallele mit Amazon-Buchrezensionen besser gefällt: Dort darf man über die Autoren den größten Käse verbreiten.
In einer freien Gesellschaft muss sich halt jeder, der etwas öffentlich präsentiert, ebenso öffentliche Kritik gefallen lassen. Ich hoffe, man hat die Teilnehmenden darüber informiert, dass dieses Video im Internet veröffentlicht wird. Sonst wäre das Ganze ein wenig illegal. Aber das ist nicht mein Bier.
Was soll diese Drohung mit der Löschung meiner Kommentare? Sie haben eindeutig von Rezensionen über Hotels, Restaurants, u.ä. geschrieben und nicht über Kritik an deren Kundschaft. Und das hat mit ihrem Thema nun halt einmal gar nichts zu tun, gell?
LöschenGruß, Othmar Koeters
Die Kritik an der Kundschaft kommt halt in den Rezensionen über Hotels etc. vor.
LöschenAnsonsten: Was die "Drohung" soll, können Sie unterhalb der Kommentarspalte lesen. Ich akzeptiere keine persönlichen Abwertungen. Sie können es gerne ausprobieren. Kostet mich zwei Mausklicks.
"kennengelernt, wären wir zu anderen Freizeitbeschäftigungen übergegangen"
AntwortenLöschenDa muss ich definitiv zustimmen, so etwas hätte mich mit Sicherheit nicht vom Hocker gerissen, geschweige denn in irgendeine Tanzschule geführt.
Von mir aus soll jede*r tanzen wie er/sie/es mag, aber ich muss mir das dann nicht anschauen.
....und mein Tanzstil ist sowieso jenseits aller Tellerränder :-)
Herzliche Grüße
Carmen Giera
Liebe Carmen,
Löschenschön, dass es noch "Zeitzeugen" gibt, die mir bestätigen, wie "wild" man früher getanzt hat und welchen Spaß das machte.
Herzliche Grüße
Gerhard
Naja, angefangen hab ich im Tango ganz brav mit Gehen lernen und Figuren nachtanzen. Wirklich "wild" wurde es erst später, als etliche Jahre mit anderen Tanzerfahrungen dazugekommen waren...und ein Tanzpartner, der die Musik ähnlich hört und interpretiert wie ich.
LöschenBei uns ging es in einer Regensburger Tangoschule ähnlich los.
LöschenIch kann mich aber noch erinnern, wie nach einer Tangostunde die dortige Milonga losging und die Fortgeschrittenen wie wild loslegten. Das hat uns schwer beeindruckt - und wir haben uns erst nach einigen Monaten auf eine solche Veranstaltung gewagt. War aufregend!
Wir waren in derselben Schule ;-)
LöschenNa, dann muss ich ja weiter nichts erklären...
LöschenMir ist der Zusammenhang mit dem Video nicht klar - also wer den Anspruch erhoben hat, dass dort besonders gut getanzt wurde oder gar irgendeine Tradition oder gar ein Weltkulturerbe vertreten wurde.
AntwortenLöschenDas Video ist doch nur ein Beispiel - ohne dass ich den dort zu sehenden Tanzenden persönlich etwas vorwerfe! Ich kritisiere allgemein das Marketing, mit dem man diese Art von Milongas beworben hat - als "authentische" Art des Tangos, als hehre Anknüfung an uralte Traditionen.
LöschenAm Tango-Marketing kann ich mich auch oft erfreuen, vielleicht habe ich das das Tangodanza-Abo deshalb noch. Vorwiegend aber im Unterrichts- und Reise-Bereich, weniger bei den sagen wir mal "konservativen" Milongas. Solange es den Teilnehmern gefällt, wird dort so getanzt wie vergangenes Jahr, nicht wie im vergangenen Jahrhundert.
LöschenNa ja - aber vergangenes Jahr hat man halt meist auch getanzt wie vergangenes Jahrhundert...
Löschen