Spiegel an der Wand

 

„'Spieglein, Spieglein an der Wand: wer ist die schönste Frau in dem ganzen Land?' da antwortete der Spiegel aber wieder: 'Frau Königin, ihr seyd die schönste hier, aber Schneewittchen, über den sieben Bergen, ist noch tausend Mal schöner als Ihr!'“

Quelle: https://beruhmte-zitate.de/zitate/135772-gebruder-grimm-spieglein-spieglein-an-der-wand-wer-ist-die-sch/

Die Tatsachen dürften hinlänglich bekannt sein: Die Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Bündnis 90/Grüne) trat am 11.4. dieses Jahres zurück, nachdem immer mehr Details über ihr Verhalten anlässlich der Flutkatastrophe im Ahrtal bekannt geworden waren.

Ihr Engagement während der bewussten Nacht wurde in Frage gestellt. Am Tag nach dem Hochwasser soll es ihr darum gegangen sein, durch entsprechende Außendarstellung etwaigen Vorwürfen gegen sie und das Ministerium zuvorzukommen. Vor allem aber war sie zehn Tage nach der Flut zu einem vierwöchigen Familienurlaub in Frankreich aufgebrochen. Angeblich sei sie ihren Aufgaben jedoch telefonisch und digital nachgekommen. Dass sie online auch an den Kabinettssitzungen der rheinland-pfälzischen Landesregierung teilgenommen habe, musste sie nachträglich korrigieren.

https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Spiegel

Parteiintern hatte man der Ministerin schon am Tag zuvor den Rücktritt nahegelegt. Doch Spiegel versuchte, sich noch durch einen Live-Presseauftritt zu retten, der auch von altgedienten Journalisten als noch nicht dagewesen bezeichnet wurde. Mit brüchiger Stimme berichtete sie über Familieninterna wie den schlechten Gesundheitszustand ihres Mannes und die durch die Corona-Krise betroffenen vier Kinder. Ein Urlaub sei dringend nötig gewesen.

Neben dem pfälzischen Familienministerium habe sie ab Anfang 2021 noch das Umweltministerium kommissarisch übernehmen müssen, zusätzlich die Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl. Das habe sie total überfordert.

Das wird an ihrem Auftreten mehr als deutlich: Sie ist völlig durch den Wind und ringt nach Worten:

https://www.youtube.com/watch?v=CBIcy3MP5eQ

Ist Anne Spiegel so empathiearm, dass ihr das Schicksal der Bewohner des Ahrtals letztlich egal war und sie lieber in Urlaub fuhr? Den Eindruck macht sie überhaupt nicht. Eher den einer zwischen ihren vielen privaten und öffentlichen Pflichten hin und hergerissenen Mutter, die komplett den Überblick über die Außenwirkungen ihrer Aktivitäten verlor. Männlichen Politikern kann das kaum passieren: Die schieben die ganze Familienarbeit locker ihrer Gattin zu. Und wenn die es nicht schafft, wird sie ausgetauscht.

Aber wenn es schon in die familiären Details geht: So einen langen Urlaub im Ausland stelle ich mir nicht so stressfrei vor. Wieso hat man die Kinder nicht in eine Ferienbetreuung gegeben, auf dass der Ehemann sich daheim und allein erholen konnte? Aber es handelt sich wohl um einen traditionellen deutschen Irrsinn, Urlaub mit Erholung zu verwechseln…

Was mich aber viel mehr beschäftigt: Der gesunde Menschenverstand hätte der Ministerin sagen können, dass die Geschichte mit dem Urlaub nach der Flut böse enden würde – und es mit den ganzen Schwindeleien und Vertuschungsversuchen nur schlimmer würde. Und dass es keinen Sinn hat, sich in einem politischen Spitzenamt mit dem Privatleben zu entschuldigen. Sie hätte ihre Überforderung früher erkennen und entsprechende Konsequenzen ziehen müssen. Stattdessen merkte Spiegel viel zu spät, dass sie schon mit dem Rücken zur Wand stand.

Ich glaube aber, dass die meisten von uns schon mal in eine Situation gerieten, wo sie auf Deibel komm raus bei einer falschen Entscheidung bleiben wollten, weil sie völlig den Überblick verloren hatten – meist auf Grund emotionalen Irreseins. Da ist man dann dankbar für ein Umfeld, welches einen offen und ehrlich vor einem Blödsinn warnt.

Nebenbei gefragt: Wo waren eigentlich die Parteifreunde oder gar die Ministerpräsidentin? Ist der gar nicht aufgefallen, dass sich die Chefin zweier Ministerien für vier Wochen verabsentiert, ja nicht mal an den Kabinettsitzungen teilnimmt? Und das in einer solchen Krisenlage?

Ich fürchte, an solchen Korrekturmechanismen mangelt es umso mehr, je höher man in der Hierarchie aufsteigt. Die Versuchung ist groß, sich nur noch mit Jasagern zu umgeben. Und die bieten sich noch dazu massenhaft an, weil sie auch was werden wollen. Kaum eine Führungskraft hat den Schneid und die Nerven, sich sperrige Mitarbeitende zu leisten, die ganz eigene Ansichten vertreten und von denen man gelegentlich Kontra bekommt. Solche Leute machen keine Karriere, sondern werden auf Posten entsorgt, wo sie nicht mehr nerven können. Dabei wäre genau das so wichtig!

In meinem Berufsleben war das eine durchgängige Erfahrung: Schulleiter umgaben sich meist mit Kollegen (ich gendere hier bewusst nicht), denen die Stromlinienform angeboren war oder die zumindest so doof waren, dass von ihnen keine Gefahr ausging. Lehrkräfte mit Widerspruchsgeist wurden mit Arbeit von der Art eingedeckt, die zwar mühsam, aber nicht beförderungsrelevant war. So hatten bescheuerte Entscheidungen eine lange Halbwertszeit. Ein gutes Beispiel ist das achtjährige Gymnasium in Bayern, das erst 2024 mit dem letzten Abiturjahrgang Geschichte sein wird.

Auch im Tango wird viel zu viel Unsinn mit Ehrfurcht, Jubelgeheul und Bussis zugedeckt. So können sich schlimme Entwicklungen über viele Jahre ausbreiten. Dass Widerspruch nicht von Unkenntnis zeugen muss und keine Majestätsbeleidigung darstellt, hat sich noch immer nicht überall herumgesprochen.

Glücklicherweise bin ich in meinem engeren persönlichen Umfeld mit Menschen gesegnet, die mir durchaus nicht immer Recht geben. Und als Autor habe ich weiß Gott Gegner genug, die meine Texte genüsslich kritisieren. Erst gestern bestätigte mir ein Tangolehrer per Mail, meine Videos zum musikalischen Tanzen zeugten von purem Dilettantismus. Spezielle Gründe nannte er nicht.

Aber selbst solche klischeehaften Anwürfe beschäftigen mich durchaus und bewirken, dass ich Tatsachen genau recherchiere und meine Quellen überprüfe. Oft genug ahne ich dann schon vorher, was wieder kommen dürfte, und kann mich darauf einstellen. Vor allem aber: Ich muss im Tango nichts verdienen, ja nicht mal was werden. Das befreit ungemein.

Leider hatte wohl die Bundesfamilienministerin keinen sprechenden Spiegel, der ihr die Wahrheit über Schneewittchen mitteilte. Aber das hatte vielleicht noch mehr Arbeit wie sie: Immerhin musste es in der Folge sieben Zwergen den Haushalt führen.         

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