Wo wir sind, ist vorn

 

Zunächst herzlichen Dank an Thomas Kröter, der mich via Facebook-Link auf die neueste Wortschöpfung der Tangolehrerin, Autorin und DJane Melina Sedó aufmerksam gemacht hat!

Kröter selbst mag dazu nichts sagen außer: ich finds fad & immer wieder wiederholend. ebenso die kritik an dieser position. the same procedure...“

Meine Antwort: „Lieber Thomas, kein Problem - ich übernehm das gerne!

Na denn – den Text finde ich nämlich so langweilig nicht. Im Gegenteil – er hat es verdient, in Gänze aus dem Englischen übersetzt zu werden:

„Zufällige Notiz – nicht neu

Neo Tango - die Musik und der Tanz - sowie das Tanzen zu Nicht-Tango-Musik sind in der Tat nicht neu oder modern, sondern Phänomene der Jahrhundertwende.

Seit den frühen 2000er Jahren hat der soziale Tango die Methoden des Tango Nuevo (nicht Neo) aufgenommen und sie mit den Ideen der respektvollen Ronda und der (meist geschlossenen) Umarmung verschmolzen. Als wir 2001 mit dem Unterrichten anfingen, tanzten wir Voleos, Ganchos und viele andere ausgefallene Sachen. Später verzichteten wir darauf, weil wir uns auf die Musikalität und unser Wohlbefinden konzentrierten. Und so auch die Mehrheit der fortgeschrittenen sozialen Tänzer auf der ganzen Welt in den letzten 15 Jahren. Wir haben uns weiterentwickelt.

Die Musiker ebenso: Die erfolgreichen modernen Tangoorchester spielen klassischen Tango, entweder Coverversionen der alten Orchester oder eigene Kompositionen. Aber keine Lounge-Musik. Romantik ist die neue Welle.

Ich möchte euch auch daran erinnern, dass Tango Nuevo (wie von Naveira, Salas und anderen eingeführt) in erster Linie eine Methode zur Analyse des bekannten Tangomaterials war. Einige haben damit extravagante, meist große Figuren entworfen. Wir haben es verwendet, um besser zu verstehen, was wir tun, und organischere Wege zu finden, uns auf der sozialen Tanzfläche zu bewegen oder zu kommunizieren. Dekonstruktion ist unser tägliches Brot, und wir entwickeln unsere Methoden und unser Verständnis ständig weiter. Wir unterrichten Tango Nuevo – was bereits viele Milongueros schockiert hat, die erwartet hatten, dass sie sich in unseren Klassen leicht verdauliche Schritte merken könnten.

Warum schreibe ich das überhaupt?

Weil ich mir nach 21 Jahren Unterrichten und 18 Jahren Auflegen immer noch Leute anhören muss, die mir sagen, dass das, was ich mache, altmodisch und traditionell ist, und dass sie sich nicht um antiquierte Konventionen kümmern. ARGH!

All diesen Menschen möchte ich sagen:

Auffällige Moves in einer offenen Umarmung zu Gotan Project oder Mozart zu tanzen ist nicht modern, und ihr seid nicht rebellisch. Weder DJs, die alle Arten von Musik ohne logische Reihenfolge spielen, noch Menschen, die sich weigern, Mirada/Cabeceo zu verwenden oder sich ungehemmt von der Ronda frei im Raum bewegen. Genau so war Tango vor vielen Jahren.

Ich kritisiere euren Stil nicht, weil ich finde, dass die Tango-Community Raum für alle Geschmäcker bietet. Was ihr tut, ist völlig eure Wahl und in Ordnung.

Aber es ist nicht fortschrittlich. Es ist purer Schnee von gestern. Ihr seid die Hippies des Tangos. Frieden!

(Zusatzbemerkung: Bitte beachtet, dass ich weder Leute angreife, die Neo-Tango bevorzugen, noch sage ich, dass das, was ich tue – sozialer Tango in enger Umarmung – besser ist. Ich finde Hippies eigentlich sehr süß und liebe alles retro-mäßige. Ich behaupte nur, dass Neotango nicht neu ist und es höchste Zeit ist, uns nicht mehr altmodisch zu nennen. Ach ja, und ich erkläre noch einmal, worum es beim Tango Nuevo ging. Für alle, die es entweder vergessen haben oder die noch nicht in die Tangowelt hineingeboren wurden, als er entwickelt wurde.)“

Quelle: https://www.facebook.com/melina.sedo (Post vom 12.4.22)

Im Gegensatz zu Thomas Kröter halte ich diese Argumentation für ziemlich neu. In Kurzform sieht Melina Sedó die Entwicklung so: Man habe das offene, raumgreifende und akrobatische Getanze von vor 30 und mehr Jahren zum sparsamen, engumschlungenen Getrippel mit den allseits bekannten Regeln „weiterentwickelt“. Tragischerweise tanzt man das jedoch immer noch zu einer mindestens 70 Jahre alten Musik.

Diese Darstellung hat halt zirka den Wahrheitsgehalt einer Meldung des russischen Verteidigungsministeriums.

Ansätze dieser Argumentation hat die Autorin schon vor über zwei Jahren verwendet: „Es gab keine ‚ungebrochene Tradition‘ des Tanzes und seiner Verhaltensregeln. (…) Und um diese Códigos umzusetzen, hat es geholfen, sie (zumindest virtuell) auf Tradition zu gründen. Hier wurde der Begriff ‚traditionell‘ wichtig: ‚So haben wir es immer gemacht, das sind unsere Traditionen‘, was dazu beitrug, dass die Menschen die Richtlinien respektieren. (…) Ich habe tatsächlich bewusst an diesem Prozess der ‚Traditionalisierung‘ teilgenommen. Aus diesem Grund bin ich auch kritisch gegenüber der Überbeanspruchung des Wortes.“

http://milongafuehrer.blogspot.com/2019/12/traditionell-ach-war-nicht-so-gemeint.html

Mit anderen Worten: Man hat in dieser Szene sehr lange den Begriff „Traditionen“ ventiliert und mit diesem Qualitätssiegel einen Haufen Leute angelockt, die stolz darauf waren, dass ihr ödes Herumgeschleiche zu fader Musik angeblich den „authentischen Tango“ darstellte, wie er zu den „Goldenen Tangozeiten“ getanzt wurde. Dass diese Traditionen teilweise erfunden waren, habe nicht nur ich in vielen Beiträgen nachgewiesen.

http://milongafuehrer.blogspot.com/2015/07/erfundene-traditionen.html

Dieses Museums-Marketing hat allerdings auch einen Nachteil: Von einigen wird man dann als altmodisch, ja ewiggestrig angesehen. Daher dreht man den Spieß nun einfach um und stellt sich an die Spitze des angeblichen Fortschritts. Ein wenig erinnert mich das an die zu Ende gehende DDR, wo die Politbüro-Greise auf dem Podium sich gerne als „junge Garde des Proletariats“ gerierten. Und wo die ist, war vorn.

Nein, liebe Melina, so wird das nix! Ihr habt vor bald 20 Jahren versucht, das Rad der Tangogeschichte zurückzudrehen. Das wurde intensiv und erfolgreich mit dem Begriff „traditionelle Milonga“ beworben. Dies jetzt als Fortschritt zu verkaufen, ist schon impertinent. Tatsächlich waren diese Bestrebungen reaktionär.   

Aber, meine Liebe, ich greife ebenso wenig Leute an, die historischen Tango bevorzugen. Und ich finde Tango-Omas süß – auch, wenn sie in der Erinnerung einiges durcheinander bringen.

Ich schlage jedoch vor, einfach Videos wie die folgenden einmal normalen Menschen (also solchen, die keinen Tango tanzen) zu zeigen und sie zu fragen, welche Darstellung sie als modern respektive altmodisch einstufen würden. Ich glaube, das Ergebnis fiele ziemlich eindeutig aus:

https://www.youtube.com/watch?v=mgPE8pWOsQo

https://www.youtube.com/watch?v=uPUsATBfkMk

Im Ergebnis werde ich Thomas Kröter wohl nicht von seiner Ansicht abbringen können, ich hätte lediglich den hundertsten Artikel zum selben Thema verfasst. Aber auch wenn es so wäre: Wie viele Texte mussten veröffentlicht werden, bis beispielsweise die Frauen das Wahlrecht erhielten? Und wie viele werde ich noch schreiben müssen, bis sie auch im Tango Männer direkt auffordern dürfen?

Es gibt noch viel Arbeit…

Kommentare

  1. Ich glaube, für Tangolehrer und -veranstalter sind die Zeiten schwierig, weil es seit mindestens einer Dekade keine keinen heißen Trend mehr gegeben hat, also kein "vorne". Ganz davon abgesehen, dass schon die Glamour-Werbeversprechen aus den späten 80ern nicht eingelöst werden konnten.

    Für "Konsumenten" ist es hingegen recht einfach. Man kann sich mannigfaltig informieren und dann auswählen, ganz ohne das mit mit gespreizten Konstrukten rechtfertigen zu müssen.
    Bis zum Beginn meines ersten Tangokurses hatte ich "Der noch größere Milonga-Führer" ebenso gelesen wie "Caminar Abrazados" und "Tangoplauderei". Und dann habe ich realistisch überlegt, wo und wie ich tanzen kann und möchte, und auch wie ich auffordere und aufgefordert werden möchte.

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    1. Na, dann warst du ja bestens informiert!

      Vielen Dank für den Kommentar, der allerdings wenig mit meinem Artikel zu tun hat. Dennoch kann ich weitgehend zustimmen!

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    2. Okay, ich denke, man sollte diesen konstruierten Begründungen nicht allzu viel Bedeutung beimessen, ebenso wenig den Gegenargumenten. Viele Personen scheinen den Drang zu verspüren ihre eigenen Sicht auf den Tango, ihr Verhalten innerhalb der Gruppe, als "richtig" darzustellen zu wollen.

      Man braucht für einen Gesellschaftstanz nun mal "Gesellschaft", zumindest Tanzpartner. Und da man diese zu einer Freizeitaktivität kaum zwingen kann, werden Hilfsargumente wie "traditionell", "modern", "kulturell", "gerecht", "gesund" oder paradoxerweise auch "freiheitlich" angeführt.

      Als Tangotänzer kann man sich das alles anhören oder auch nicht, berücksichtigen oder auch nicht, sich innerhalb seiner Möglichkeiten individuell entscheiden. Beispielsweise nachmittags oder abends(*) Beginn, historische(*) oder moderne Musik, nahe oder distanzierte(*) Aufforderung, nahe(*) oder distanzierte Tanzhaltung, wenig(*) oder viel Platz, lokaler oder überregionaler(*) Einzugsbereich, Stuhl oder Stehplatz(*), gegengeschlechtliche(*) oder gleichgeschlechtliche Tanzpartner. Und man kann seine Ansicht jederzeit ändern und das auch alles mischen.
      (*) Meine derzeitigen relativen Präferenzen

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    3. Klar - und für diese Freiheiten plädiere ich seit vielen Jahren.

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  2. Für gewöhnlich nehme ich die Gedanken von Melina Sedo als präzise, reflektiert und professionell wahr. Der Erkenntnis, dass auch "Nuevo/Neo" nicht mehr neu ist, kann ich jetzt wenig abgewinnen, da es m.E. generell im Tango seit mehr als einem Jahrzehnt wenig Neues gibt. (Vielleicht die organisierten Tangourlaube?) Ich bin auch fest davon ausgegangen, dass sie die Konzepte der vorhergehenden Lehrergeneration analysiert und in ihr eigenes Konzept integriert und dieses weiterentwickelt hat.

    Was mich jetzt überrascht ist, dass "viele Milongueros" erwarten sich "leicht verdauliche Schritte merken zu können". Hey, Melina hat das Veranstaltungsformat "Encuentro Milonguero" geprägt und hier
    https://melinas-two-cent.blogspot.com/2016/03/abc-of-tango-events.html
    auch eine Definition für "Milonguero, Milonguera, Tango Milonguero" aufgestellt.

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    1. Alles ganz schön widersprüchlich, gell?

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    2. Vielleicht erscheint das nur von außen widersprüchlich. Melina unterrichtet nun "double-role", was m.E. eine valide unternehmerische Entscheidung ist. Und die bedeutet in der Praxis, wie sie mal auf fb schrieb, 80% Frauen im Unterricht. Wie soll sich diese Zielgruppe noch mit dem Milonguero-Narrativ identifizieren? Da macht es doch Sinn, wenn sie ihre bisherige Arbeit neu betrachtet.

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    3. Dann soll sie halt schreiben, dass sie nun aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeiten zu einer neuen Auffassung gelangt ist.

      Sorry, ich bleibe dabei: Sie versucht, eine Rückkehr zu alten Musik- und Tanzformen als Modernisierung zu verkaufen. Das lasse ich ihr nicht durchgehen.

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