DJ in 15 Stunden
Die Saarbrücker Tangolehrerin, Autorin und DJane Melina Sedó dürfte zu den Erfinderinnen der „traditionellen Milonga“ hierzulande zählen. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass zwischen uns herzliches Einverständnis besteht. In etlichen Artikeln habe ich mich mit ihren Veröffentlichungen beschäftigt:
http://milongafuehrer.blogspot.com/search?q=Melina+Sed%C3%B3
Eine Reaktion habe ich von ihr nie erhalten. Die Dame ist eine Meisterin des Totschweigens. Lediglich von ihrem Partner Detlef Engel wurde ich ein paar Mal angeranzt. Aber man ist ja schon für Kleinigkeiten dankbar…
Nun kündigt Melina Sedó für den Mai ein Wochenend-Seminar unter dem Titel „Spiel für mich“ an, in dem man wichtige Fähigkeiten als traditioneller DJ erwerben kann. In der Beschreibung heißt es:
„Den Kern bilden dabei folgende Fragestellungen: Wie strukturiere ich eine Milonga, wie baue ich Tandas auf und wähle harmonische Cortinas, wie unterscheide ich tanzbare und schwer-tanzbare Musik, wie erschaffe ich einen ‚Flow‘ indem ich verschiedene Tango-Stile einsetze, um den sehr unterschiedlichen Präferenzen der Tänzer/innen auf einer Milonga zu begegnen…
Weitere
Inhalte sind:
- Vorgehensweise beim Aufbau einer Musiksammlung (Hard- und Software)
- Dateiformate für Musik (Kompression, Datenrate etc.)
- Bearbeitungsmöglichkeiten für Musikdateien
- Technische Fragestellungen (eigene Ausstattung, Anschluß an vorhandene
Anlagen)“
Interessenten sollten sich schon einmal klar machen, dass dieses Angebot eine sehr eingeengte Sichtweise zur Gestaltung von Tango-Tanzveranstaltungen beinhaltet. Ganz selbstverständlich wird eine Gliederung in Tandas und Cortinas vorausgesetzt, ebenfalls der Anspruch, für Milongas gleich ein musikalisches Gesamtprogramm zu entwerfen. Vor allem aber hört bei Sedó die tanzbare Tangomusik Mitte der 1950-er Jahre auf. Auf ihrer Website schreibt sie dazu (von mir übersetzt):
„Die Musik arrangiere ich in Tandas mit Cortinas und einer festen Abfolge von Tangos, Milongas und Valses. Normalerweise ist dies TTMTTV mit 4 Tangos und 3 Milongas/Valses pro Tanda. Grundsätzlich verwende ich klassische Tangomusik, meist aus den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts mit Ausflügen in die späten 20er oder 50er Jahre.
Sehr selten spiele ich eine Tanda einer zeitgenössischen Tangoband oder eines alten nicht-argentinischen Tangoorchesters. (…) Ich spiele keinen Elektro-Tango, Tango Canciónes, Non-Tango, Piazzolla oder Tanzorchester wie das Forever Tango Orchestra. Salsa oder Chacarera spiele ich auch nicht, aber nach der Milonga habe ich Bock auf Discomusik.“
Na immerhin… Damit wird aber ein großer Bereich des musikalischen Tangoschaffens der Welt ausgeblendet. Klar kann man der Meinung sein, dass dieses halt nicht zum Tanzen geeignet sei. Allerdings gibt es auch durchaus gegenteilige, gut begründete Auffassungen. Das sollte man nicht verschweigen. Der Trend in dieser Szene geht jedoch dahin, ganz viel als selbstverständlich vorauszusetzen und gar nicht mehr auf anderes einzugehen. Das macht das Leben leichter…
Als kleinen Erfolg betrachte ich es, dass die Tangolehrerin nun von „schwer-tanzbarer“, nicht mehr von „untanzbarer Musik“ spricht. Da hat sich vielleicht auch meine jahrelange Halsstarrigkeit gelohnt.
Was sie dann aber unter dem Eingehen auf „sehr unterschiedlichen Präferenzen der Tänzer/innen auf einer Milonga“ versteht – oder unter „verschiedenen Tango-Stilen“, bleibt ihr Geheimnis. Hier wird eine Vielfalt vorgetäuscht, auf die man in Wahrheit nicht eingeht.
Interessant, dass Melina Sedó nun auch technische Hilfestellungen anbietet. Auf ihrer Website schreibt sie dazu noch: „Bitte beachten Sie: Ich bin kein Experte, wenn es um die technischen Aspekte des Auflegens geht, wie Klangqualität, Software, Systeme …“ Na ja, wird halt wohl von der Kundschaft verlangt…
http://www.melinasedo.com/for-tango-djs/
All dies ausgelobte Rüstzeug soll man in knapp 15 Stunden erwerben. Eine solche Ankündigung ist ganz typisch für die Entwicklung der Tangoszene: Man besucht ein Seminar und glaubt, sich dort die angepriesenen Fähigkeiten in kurzer Zeit aneignen zu können. Das ist natürlich reine Chimäre.
Für das Ganze darf man immerhin – je nach Teilnehmerzahl – zwischen 150 und 330 Euro löhnen. An einem Wochenende streicht die Lehrperson so gut 1000 Euro ein. Materialaufwand null. Und im Gegensatz zum Veranstalten von Milongas und der Erteilung von Tangounterricht kann man bequem hinter dem Laptop sitzen und gescheit daherreden.
Lernt der Schüler auf diese Weise, auf Tanzveranstaltungen aufzulegen? Nicht nur meine persönlichen Erfahrungen, sondern auch die von DJ-Kollegen sprechen eine andere Sprache:
Seit 1999 habe ich begonnen, Tangomusik zu sammeln. Das war ohne Internet alles andere als einfach: Man war froh, im Drogerie-Fachmarkt in der Sparte „Weltmusik“ die eine oder andere CD aufzutreiben. Irgendwelche Anleitungen zum Auflegen gab es nicht. Man musste halt ganz viel Musik hören und sich selber überlegen, welche Stücke, welche Reihenfolge passen könnte.
Acht Jahre später, also 2007, legte ich erstmals auf unserer eigenen Milonga auf. In meinem DJ-Koffer befanden sich damals etwa 100 CDs. Für das Musikprogramm hatte ich einen ungefähren Plan, den ich aber – je nach den Reaktionen auf dem Parkett – oft änderte. Dieses Feedback halte ich für den entscheidenden Faktor, um weiterzukommen. Und vor allem auch: Immer weiter nach Musik suchen, neue Gruppen und Aufnahmen kennenlernen, neugierig bleiben!
Wenn ich nun in der Beschreibung des Sedó-Seminars lese: „Vorgehensweise beim Aufbau einer Musiksammlung“, könnte ich weinend unter den Teppich kriechen. Ach, ihr fangt jetzt erst mit dem Sammeln an? Leute, beschäftigt euch erstmal ein paar Jahre mit Tangomusik und beobachtet die DJs auf möglichst unterschiedlichen Milongas, macht euch eigene Gedanken – dann wird’s vielleicht was!
Stattdessen sollen die armen DJ-Adepten bereits nach 11 Stunden Unterweisung am Samstagabend auf einer Milonga auflegen – natürlich wohl unter Aufsicht der Chefin. Das Seminar heißt ja „Spiel für mich“ – und nicht „Spiel für sie“.
Quelle: https://www.facebook.com/melina.sedo (Post vom 6.4.22)
Kein Zweifel, die Seminarteilnehmer werden auf diese Weise tango-ideologisch eingenordet. Nicht der persönliche Geschmack, das eigene Musikempfinden entscheiden, sondern die Vorgaben und Regeln für Engtanzumarmer.
Dazu sollte man sich aber – wenn schon – wenigstens etwas mehr Mühe geben. Der schweizer DJ – nein: TJ – Christian Tobler, lange Zeit der musikalische Chefideologe von Cassiels Blog, beschrieb einen weit realistischeren Werdegang:
„Bis vor einigen Monaten habe ich einen langjährigen DJ – der Name tut nichts zur Sache – im Rahmen meines TJ-Workshops als Einzelabreibung über eineinhalb Jahre hinweg begleitet und angeleitet, auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, motiviert und provoziert, damit er an sich und der EdO wachsen kann – in musikalischer wie technischer Hinsicht. (…)
Anfangs hat er meine Forderungen nach Tanzbarkeit überhaupt nicht verstanden. Aber es war Vertrauen da, und darauf lässt sich bauen und auch mal heftig streiten. Das hat es uns erlaubt, die Monate des Missverstehens zu überbrücken. Erst nach einem halben Jahr ist bei ihm der Knopf aufgegangen betreffend tanzbarem Repertoire. Vorher wollte er in jede Milonga das eine oder andere Experiment, die eine oder andere Innovation, die eine oder andere Überraschung einbauen. Kurzum, er wollte originell sein. Aber es hat weitere sechs Monate gedauert, bis er tatsächlich in der Lage war, einzuschätzen, ob ein gehört toller Tango auch an einer Milonga den Tänzern vor die Füsse geknallt werden darf.“
https://tangoplauderei.blogspot.com/2012/09/Michael-Lavocah-Tango-Stories-Musical-Secrets.html
Tja – originell zu sein bedeutet für den klassischen DJ die schwerste aller Todsünden. Aber immerhin, das muss man Tobler zugestehen, hat er sich für die Gehirnwäsche anderthalb Jahre und nicht nur 15 Stunden Zeit genommen!
Ich gestehe, dass mich der Seminar-Titel „Spiel für mich“ sofort in eine höchst alberne Stimmung versetzt hat und Assoziationen zum Musiker und Komiker Piet Klocke auslöste. Wenn ich mich recht erinnere, hat der mal die Lehrgangsbezeichnung „Nichtschwimmer in drei Tagen“ kreiert. Sein folgendes Seminar trägt den Titel „Hiphop für Angestellte“. Im Video erklärt er den Jazz – oder versucht es zumindest:
https://www.youtube.com/watch?v=mByhc8w1BO4
Für mich sieht das aus wie ein gut durchdachtes Konzept mit einer gut qualifizieren Lehrerin. Alle Beschränkungen des Inhalts scheinen mir mit Blick auf die Beschränkung auf ein Wochenende notwendig zu sein. Auch den Preis muss jemand nehmen, der davonleben will. Hast Du mal irgendwo etwas besseres gesehen?
AntwortenLöschenEine ganz andere Frage ist, ob man persönlich das braucht oder möchte oder zahlt. Hey, was nützt es ein Seminar über Briefmarkensammeln zu besuchen, wenn man eigentlich lernen will wie man Impfpässe fälscht?
Und ja, die Einstiegshürden für DJs sinken ständig. Niemand muss mehr in den Hinterhöfen von Buenos Aires oder den Drogeriemärkten von Pfaffenhofen nach CDs suchen. Und die frei verfügbaren Informationen steigen ständig. Das mag nostalgischen Schmerz auslösen, das kann einem aber in jedem Lebensbereich passieren.
Wenn es nötig ist, dann kann man nach einem Wochenende Vorbereitung auf seiner privaten Milonga halbwegs tanzbar Musik abspielen. Und nein, eine ehemalige Lehrerin kann einem da nicht vorschreiben, welche Musik.
Lieber Martin,
Löschenes ist der heutigen Tangogeneration schwer klarzumachen, dass man sich die Fähigkeiten in diesem Tanz früher vorwiegend selber beigebracht und sie nicht in Kursen und Workshops erworben hat. Wo hat eigentlich Frau Sedó Auflegen gelernt? Aha…
Sicher, so oder ähnlich wird man ein Programm aufstellen müssen, wenn man die Illusion verbreiten möchte, DJ könne man durch das Absolvieren von Kursen werden – und noch dazu an einem Wochenende. Und natürlich werden Anfänger durch solche Workshops hinsichtlich der Musikauswahl „eingenordet“ – da müssen wir uns doch nichts vormachen!
Von mir aus darf man auch für Sinnloses so viel Geld nehmen, wie man kriegt. Darauf beruht unser Wirtschaftssystem. Allerdings kenne ich viele Berufe, die deutlich unterhalb eines Stundenlohns von 65 Euro arbeiten. Für Pflegekräfte beispielsweise ein Traum…
Heute bestimmen Geschäftsleute und nicht Autodidakten die Richtung im Tango. Als Folge werden persönliche Stile, eigenständige Ideen Mangelware. Ich finde, das löst zu Recht „nostalgischen Schmerz“ aus.
Ich war auf einer vierstelligen Zahl von Milongas, wo ich den Eindruck hatte, die DJs würden die Speicherchips einfach an den Kollegen weitergeben. Statt persönlichem Geschmack herrscht öde Regelkunde.
Für mich ist gutes Auflegen das Ergebnis einer höchst eigenständigen, individuellen und langen Entwicklung. Und nicht das Resultat einiger Workshops.
Danke und beste Grüße
Gerhard