Ende der Märchenstunde


Was ich immer wieder mit Staunen feststelle: Wenn man im Tango jahrelang gegen festgefügte, aber historisch fragwürdige Erscheinungen anschreibt, beginnen doch die ersten Zweifel an deren Richtigkeit.

Bereits vor fünf Jahren hatte ich es gewagt, die geschichtliche Herkunft der „traditionellen Milonga“ samt ihrer Reglements in Frage zu stellen: Nach den Quellen, welche mir damals zur Verfügung standen, schien sie mir ebenso eine „erfundene Tradition“ zu sein wie der schottische Kilt, die Vuvuzela, der Sirtaki, das Dirndl oder der Schuhplattler.

Wer damals solche Gedanken publizierte, provozierte einen Sturm der Entrüstung im Tango-Mainstream-Lager:

„Warum fehlt Einigen einfach mal ‚nur‘ der Respekt und die Achtung vor dem, was war und auch Gottseidank bei vielen Tänzern noch ‚ist‘ im Tango. Nämlich die Historie, warum es den Cabeceo gibt, und all dem, was damit zusammengehört beim Tango?“
„Tango hat nicht nur Takte, sondern auch Tradition... Respektlos ist es, das zu ignorieren.“

Ideologisches Zentralorgan war damals der Blogger Cassiel und seine „Tangoplauderei“, wo ganze Serien von Artikeln erschienen, welche die Tangogemeinde auf das historische Gefüge von Musik und Verhaltensregeln einschworen.      

Vor einem Jahr nun dort der Umschwung:
„Traditioneller Tango … Welche Tradition soll es denn sein?“ betitelte nun der einstige Verfechter einen rigorosen Marsches in die Vergangenheit seine neuen Erkenntnisse:

„Der argentinische Tango blickt auf eine Geschichte von mindestens 150 Jahren zurück, vielleicht ist er sogar noch älter. Es erscheint offensichtlich, dass es den ‚traditionellen Tango‘ gar nicht geben kann; zu unterschiedlich sind die Auffassungen von Musik und Tanz im Laufe der geschichtlichen Entwicklung gewesen.“

Ich hatte diesen Gesinnungswandel erfreut kommentiert:

Die Saarbrücker Tangolehrerin Melina Sedó, Miterfinderin der Traditions-Chose, ruderte fast synchron zurück:

„Ich finde den Begriff ‚traditionell‘ tatsächlich auch schwierig, weiß aber, wie er entstand: Mit diesem Begriff grenzten sich Milongas mit traditioneller Musik (z.B. unsere) Anfang des Jahrtausends von denen ab, auf denen viel Neo/Electro-Tangos gespielt wurde, was ja zu der Zeit durchaus stark verbreitet war. Darüber hinaus ging es darum, enge Umarmung zu fördern und große Moves von den Pisten fern zu halten, wie eben auf den Milongas der Milongueros in BA. (Aus dem Englischen übersetzt)

Klar: Schlicht ein Werbe- (oder Kampf-)Begriff, erfunden Ende des letzten Jahrhunderts. Auch darüber habe ich berichtet:

Nebenbei: Ich bewundere schon die Chuzpe, mit der sich die einstigen Erfinder nun von ihrem eigenen Käse distanzieren, mit dem sie eine massive Spaltung der Tangoszene hinbekamen – muss man erstmal mit einer solchen Unschuldsmiene schaffen…

Doch was erblickten jüngst meine tränenden Augen: Nun ist dieser Umschwung auch dem Bremer DJ Volker Marschhausen aufgefallen – und die betuliche „Tangodanza“ hat es tatsächlich gewagt, in ihrer neuesten Ausgabe (3/2020, S. 83-85) einen Artikel von ihm zu veröffentlichen, deren Titel mir irgendwie bekannt vorkommt:

„Erfundene Tradition – die Kopie ohne Original“

Leider tut sich der Autor schwer damit, sensationelle Tatsachen auch interessant darzustellen – sein Text mit insgesamt 24 Fußnoten zu den Quellen und Zitaten ähnelt eher einer Seminararbeit. Aber immerhin: Die Fakten sind zweifellos gut belegt.

Ich fasse daher zusammen:

„Wenige Blicke in die Tangogeschichte genügen, um den traditionellen Tango als Kaiser ohne Kleider, als erfundene Tradition mit tabuisierten Schattenseiten zu entschleiern“, so Marschhausens Einschätzung.

Die „Tango-Codes und Rituale“ seien in den 1990-er Jahren als Abgrenzung zum Tango nuevo entstanden. „Sie dienten dazu, individuelle tänzerische und musikalische Freiräume einzuhegen und Tango mit dem Label ‚Authentizität‘ marktgerecht aufzubereiten.“

Ebenso sei die Ronda in historischen Filmaufnahmen eher selten zu erkennen. Na ja, halt so wie auf unseren Faschingsbällen…

Cabeceo und Mirada waren wohl eine Möglichkeit, einstige Sprachbarrieren unter den Einwanderern zu überwinden. „Die wortlosen Aufforderungsformen fanden in Europa erst Ende der 90er Jahre Einzug.“
Sein Urteil: „Sie sind nicht nur Aufforderungsformen (also Inklusion in die Milonga), sondern ermöglichen gleichzeitig Sanktionen für unerwünschtes Verhalten durch Ausschluss vom Tanz (Exklusion von der Milonga) bzw. durch Missachtung und Mobbing.“

Tja, so ungefähr… „Vielleicht spuckt dir mal eine Frau ins Gesicht weil du sie angesprochen hast und sie nicht wollte“, so äußerte sich der Münchner DJ Michael Tausch zu einer meiner Satiren über einen „Blinzel-Workshop“.

Die Tandas und Cortinas, so Marschhausen, seien lediglich „lupenreine DJ-Konzepte“, welche die Tatsache nachahmten, dass früher oft mehrere Live-Orchester zum Tanz spielten und es daher Umbaupausen brauchte.

Die Castigo („Bestrafung“) fuße auf der Reinigung des Tango vor allzu erotischen und subversiven Tendenzen seiner Frühzeit, um ihn einem bürgerlichen Publikum schmackhaft zu machen. Schon in den „gehobenen“ Milongas früherer Zeiten hätten dafür Pisten-Aufpasser gesorgt. Diese Entwicklung, so der Autor, gebe es auch in Europa:

„Zu den inquisitorischen Sanktionsinstrumenten gehören öffentliche Ermahnungen durch DJs, persönliche Verwarnungen der Organisatoren, Milonga-Verbot, Zurechtweisung durch Tanzpaare und demonstratives Ignorieren von Tanzeinladungen.“

Als patriarchale Dividende versteht der Autor eine „formalisierte, dissonante Atmosphäre, in der sich traditionelle Rollenverteilungsmuster und symbolische Herrschaftsverhältnisse frei entfalten können. Hauptprofiteure dieses Arrangements sind Männer auf jeder Hierarchiestufe des Milonga-Establishments.“

Sein Fazit:

„Der exklusive Authentizitäts-Anspruch setzte einheimische Tango-Organisatoren, DJs und Lehrer unter erheblichen Legitimationsdruck. (…) Durch diesen postkolonialen Kunstgriff wurde der Tango seiner langen und wechselvollen Geschichte entsorgt und firmiert seither unter dem universelleren Label ‚traditioneller Tango‘.“

Uff! Ich bin mal gespannt, ob dieser Artikel einen ähnlichen Shitstorm verursachen wird wie mein Tangobuch oder etliche meiner Blogtexte. Ich glaube es nicht. Im Mainstream-Tango schmiegt man sich derzeit nach Hasenart in die Ackerfurche. Hauptsache, Corona ist bald vorbei – und danach, so hofft man – kann es so weitergehen wie bisher. Abweichende Ansichten sollte man nicht durch Beschimpfungen noch bekannter machen, da hat man schlechte Erfahrungen…

Daher bin ich Volker Marschhausen sehr dankbar für die Deutlichkeit, mit der er dieses Thema angesprochen hat. Antworten aus diesen Kreisen wird er jedoch kaum erhalten.

Mir erging es jedenfalls so, als ich die Verfechter des „UNESCO-Weltkulturerbes Tango“ wiederholt mit der Frage konfrontiert habe, was sie eigentlich darunter verstünden: Nur den Tango der 1930-er bis 50-er Jahre? Und Piazzolla ist auch schon seit bald 28 Jahren tot – repräsentiert er keine „Tango-Tradition“? Man möchte die Märchenstunde halt noch nicht beenden.

Man ist ja in der Argumentation flexibel: Ist doch egal, ob eine traditionelle Milonga" historische Wurzeln hat - wir mögen es halt so. Gut, nur dann nennt es anders, beispielsweise „ausschließlich historische Aufnahmen bis 1955" und "Saarbrücker Verhaltensregeln"...  

Ich bin jedoch zuversichtlich: In höchstens fünf Jahren, so meine Schätzung, wird man sich auch mit diesem Thema wirklich beschäftigen und Antworten versuchen. Wahrscheinlich werde ich bis dahin noch ein Dutzend Artikel zu dieser Sache verfassen müssen. Daran soll es aber nicht scheitern!

Für heute bleibt mir für die Mehrheit der „Tango-Profis“, denen noch nicht klar ist, für welches „Kulturerbe“ sie eigentlich sammeln gehen, nur einer meiner Lieblingswitze:

Der schon etwas verkalkte Kavallerie-General möchte ausreiten. Sein Stallbursche bringt ihm den Zossen und stellt erschrocken fest, dass sein Chef falsch herum aufs Pferd steigt. „Melde gehorsamst, Herr General sitzen verkehrt rum im Sattel!“ Der schnarrt zurück: ‚Unsinn, Sie wissen  ja gar nicht, in welche Richtung ich reiten will!‘“

Einstweilen begeben wir uns ins aufregende Flair einer „traditionellen Milonga“ (erkennbar an den sitzenden Frauen im Vordergrund und dem lachenden Mann):


Kommentare

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