Geht’s los, geht’s los?


Die bekannte Frage, welche der Gallier Obelix vor dem obligatorischen Vertrimmen der Römer äußert, treibt momentan auch große Teile der Tangoszene um: „Wann dürfen wir endlich wieder tanzen – so wie früher (oder am besten ganz früher)?“

Wenn man sich im Internet auf Tangoseiten bewegt, ist das Hufescharren unüberhörbar – vor allem natürlich das der Tangoprofis, welche endlich Geld verdienen müssen. Aber selbstredend auch der vielen schon immer vom Tangovirus (jedoch hoffentlich nicht von Corona) Infizierten, welche endlich wieder ans andere Geschlecht ran wollen – und zwar ohne Begrenzung auf den eigenen Hausstand. Zuvörderst natürlich diejenigen, in deren Behausung sich niemand befindet, der Tango tanzt – oder sogar überhaupt keiner.

Klar, dass nun freudig die beginnenden Gelegenheiten genutzt werden, sich sagrotangereinigt und nach Zwischenlüftung mit einem festen Partner auf gekennzeichneten Spuren für maximal 60 Minuten wenigstens im Tango schulen zu lassen.  

Eine typische Debatte hierzu fand ich auf einer Facebook-Seite einer Tangotänzerin, deren Namen ich diskret verschweige. Warum? Es geht mir ausschließlich um die Sache. (Falls die Dame allerdings Wert auf eine Quellenangabe legt, möge sie sich bei mir melden.)

Sie teilte dort die Beschwerde eines Musikers, der sich „sehr verstimmt“ gibt:
Eine sehr gute Bekannte sei „vor wenigen Tagen von Hamburg nach Lissabon geflogen, in einer !!!ÜBERBUCHTEN!!! A320 mit einer Gesamtflugdauer von !!!4 Stunden!!! 180 Personen auf engstem Raum ohne Abstandsregeln für 4 Stunden mit internationalen Publikum.“

Als Gegenbeispiel führt er an:
„Die Kammeroper Köln (…) hatte ursprünglich im Parkett 183 Sitze (mit mehr Abstand als in einer A320) und einer Klimaanlage. Nun sind es 94 Sitzplätze im ! gesamten Zuschauerbereich ! mit Hygienemaßnahmen wie in OP und verkürzte Aufführungsdauern von 90 Minuten.“

Sein Aufruf:
„Wie lange wollen wir noch so Weitertümpeln und uns der Gefahr aussetzen, eines der prägendsten Künste für Herz, Geist und Seele in dieser Pracht und Vielfalt zu verlieren. Gerade in schwierigen düsteren Zeiten ist Oper/Theater dringend benötigte Seelennahrung.“

Zweifellos. Nur wäre halt meine Schlussfolgerung: Was Fluglinien sich da leisten, geht gar nicht. Wenn bei einem Konzert nur die Hälfte der Plätze besetzt sein darf, gilt dies ebenso für die Luftfahrt.

Und sicher ist es evident, wer hierbei die mächtigere Lobby hat. Aber auch das liegt doch an uns allen! Die Zahl der Deutschen, welche ohne einen Opernbesuch ihr Ende nahen sieht, ist halt viel geringer als die von denen, welche einen Sommer ohne Urlaubsreise an einen verdreckten Strand unmöglich aushalten können. Wir selber sind es doch, welche die Branchen mit Macht oder Ohnmacht ausstatten!

Es war absehbar, dass solche Meldungen Wasser auf die Mühlen derjenigen sind, welche es nicht mehr abwarten können, sich wieder in ungelüfteten, stickigen Räumen schwitzend an der Wange eines Tanzpartners zu kleben (was in Flugzeugen oder gar Konzerten eher selten der Fall ist):     

„Es wird Zeit, dass die berechtigt Empörten LAUUUTER werden. Himmelschreiend.“

„Ja, wir lassen es uns gefallen, ich fahre in die CZ, denn ich will Tango tanzen ohne Wenn und Aber. (…) Viren gibt es seit Menschengedenken, nur jetzt macht man ein Theaterstück daraus.“
„Deshalb darf man auch den Rest der Bevölkerung daran hindern, mit gesunden Menschen zu tanzen und Freude zu haben.“

Absehbar, dass eine solche Debatte Verschwörungsmystiker anlockt:

„Politiker würden die Situation nicht für innenpolitische Zwecke schamlos nutzen, sondern würden alles daran setzen die Bürger zu unterstützen.
* Die Politiker würden uns beruhigen müssen, sie wären sehr bewusst und vorsichtig in ihren Ansprachen zu uns.
* Die Politiker würden alles daran setzen UNS umfassend zu informieren, um für absolute KLARHEIT zu sorgen.“ (…)
Informierst du dich auch außerhalb von SZ, TAZ, MZ, ZDF, ARD...?“

Die Schreiberin jedenfalls hat es mehr mit den alternativen Fakten, welche sie auf Nachfrage aus folgenden Quellen bezieht:

„Den allseits bekannten Prof. Dr. med. Sucharit Bhakdi (Infektionsepidemiologe, Mikrobiologe), Dr. med. Wolfgang Wodarg, Dr. Bodo Schiffmann und und und... ja UND zu guter Letzt mein gesunder Menschenverstand.“

Sicher, den braucht man bei solchen Autoren dringend, um einen Faktencheck durchzuführen:

Auch eine andere Kommentatorin sieht in kleinlichen Bedenken zur Infektionsgefahr eher ein neurologisches Phänomen:
„Irgendwie kommt es mir vor, als ob bereits viele mit einem anderen unbekannten GehirnPanikVirus infiziert worden sind...“

Klar, immer sind es die Herrschaften mit der Gegenmeinung, welche einen an der Klatsche haben...

Man muss der Inhaberin des FB-Accounts zu Gute halten, dass sie sich eher vorsichtig gibt:

„Tango tanzen ‚wie vor Corona‘ sehe ich nach wie vor sehr problematisch. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden... es besteht schon noch ein Unterschied darin, ob zwischen Stühlen, Sitzreihen, Zuschauerraum oder Bühne ausreichend Abstand gewährt sein kann und einer eigenen Entscheidung, ob man über eine Viertelstunde lang sehr eng mit verschiedenen, meist fremden Personen zusammen tanzt, schwitzt usw., wo eine Ansteckung sehr wahrscheinlich ist. Corona ist immer noch da, es ist nicht weg.“

Auch ein anderer Kommentator schreibt:

„Sind wir so egoistisch, dass wir nicht einmal für ein paar Monate vorsichtig sein können, um andere nicht zu gefährden? Welche wirklich schweren Zeiten haben viele von ihnen hinter sich gebracht? Weltkrieg, Hungersnot und Kindererziehung in für uns kaum vorstellbaren Umständen. Jetzt sind sie schwach, können nicht einmal mehr für sich selbst sorgen.“

Ich musste dabei an meinen Vater denken, der in seiner Jugendzeit ein passionierter Tänzer war. Die wurde nur ziemlich abrupt durch den 2. Weltkrieg unterbrochen – inklusive fünf Jahre Kriegsgefangenschaft in Russland. Danach musste er sich, gesundheitlich schwer geschädigt, in seiner (durch die Vertreibung aus dem Sudetenland) neuen Heimat eine Existenz aufbauen. Tanzen habe ich ihn nur sehr selten gesehen. Da war irgendwie die Luft raus…

Daher erinnern mich solche Diskussionen an das Gequengel von Kleinkindern, denen man das dritte Eis an einem Tag verwehrt. Ja aber, der Kumpel hat es doch auch bekommen… wie ungerecht!

Sicher, auch bei mir hat die Corona-Krise – trotz häuslicher Tanzpartnerin – einen Großteil meines bisherigen Lebens gekillt, neben den Milongas die Zauber- und Musikauftritte. Und ich habe in meinem ersten Corona-Artikel am 29.2.20 eindringlich vor Panik gewarnt und mir damit schwerste Vorwürfe eingehandelt: Wie könne ich nur so verantwortungslos sein und andere gefährden wollen?

Nur: Damals gab es in Deutschland gerade einmal 54 nachgewiesene Infektionen. Gestern waren es insgesamt über 195000 – und täglich kommen derzeit zirka 500 dazu. Wer derzeit möglichst schrankenlose Öffnungen predigt, sehe sich einmal die Zahlen der USA an: über 2,6 Millionen bestätigte Fälle, mehr als 50000 Neuinfektionen täglich.

Setzt man das in Relation zur Einwohnerzahl (USA: 328 Millionen), wären wir bei diesem Verlauf in Deutschland bereits bei mehr als 12500 Neuinfektionen täglich, also dem 25-fachen Wert. Wollen wir das?

Mir fällt es auch ganz schwer, derzeit nicht wie früher tanzen zu können. Dennoch ertrage ich es, noch eine Zeitlang die Füße stillhalten zu müssen. Bis ich ein gutes Gefühl habe, wenn ich wieder Tango-Aficionados nach Pörnbach einlade. Die Wartezeit wird kürzer sein als bei meinem Vater.

Geht’s los? Na ja, der Asterix-Kenner weiß: „Römer können warten, Wildschweine nicht!“
https://www.myzitate.de/asterix-und-obelix/

Und auf die Gefahr hin, nun noch die letzten Fans zu verlieren: Die vermehrte Freizeit durch die Milonga-Ausfälle könnte man auch dazu nutzen, einmal über seine Lebensgestaltung nachzudenken: Wie konnte es dazu kommen, dass man sein Existenz derartig hundertprozentig mit dem Tango verknüpfte? Eine solche ungesunde Abhängigkeit zuzulassen? Warum hat man den Rest der Welt mit ihren vielfältigen Angeboten und Chancen ignoriert?

Vielleicht deshalb: Wenn man seine eigenen Befindlichkeiten über alles stellt, darf man sich nicht wundern, damit das Interesse anderer zu verspielen. Da greife ich sogar zu einem Lieblingssatz meiner Freunde der alternativen Fakten:

Darüber solltest du einmal nachdenken!

Und bis dahin:

Foto: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Gerade erreichte mich der folgende Kommentar:

    Hallo Gerhard,

    ja diese Diskussionen gibt es zuhauf!

    Was das Fliegen angeht: Der Unterschied wird gemacht, weil es ums Geld und den Erhalt der Fluggesellschaften geht. Auf Konzerte können wir notfalls verzichten, aber Fluggesellschaften sind natürlich systemrelevant. Dann wird halt schon mal behauptet, dass in Flugzeugen die Luft ja so gut abgesaugt würde, dass man sich nicht anstecken könnte.

    Ich bin ja beruflich sehr oft geflogen, und immer gab es Gerüche: das Parfüm einer Dame 5 Reihen vor mir, die Schweißfüße von irgendjemandem, ein Pups, das Essen, das hinter dem Vorhang in der Business-Class schon serviert wurde, von dem ich 10 Reihen entfernt gesessen habe, oder der Mundgeruch des Sitznachbarn. Und da sollen wir jetzt die Legende glauben, dass die Luft dort virenfrei wäre, auch wenn ein Infizierter dazwischen sitzt??? Es gefährdet den Zusammenhalt eher, wenn man mündigen Bürgern so lächerliche Propaganda vorsetzt und alle so tun, als ob sie das glauben.

    LG Annette

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    1. Liebe Annette,

      ich kann beim Thema Luftfahrt nicht wirklich mitreden, da ich in meinem Leben nur ein einziges Mal ein Flugzeug bestieg: eine Ju 52 im Deutschen Museum München. Ich warte schon darauf, dass mir Robert Habeck noch die "Goldene Klimamedaille" verleiht...

      Daher weiß ich auch nicht, wie wirkungsvoll heute die Lüftungssysteme in diesem Bereich sind. Deine Erfahrungen sind allerdings nicht sehr ermutigend.

      Ich gebe nur zu bedenken: Es ist doch nicht die böse Flugzeugbranche, welche die Menschen mit Gewalt in die Flieger zwingt. Nein - vielmehr scheinen es insbesondere die Deutschen kein halbes Jahr daheim aushalten zu können. Da muss man dann schon wieder dringend in die Ferne schweifen, auch wenn das Gute doch so nah liegen könnte.

      Und die Manager sind stolz auf das Statussymbol, sich in der Business Class räkeln zu dürfen. Also: Letztlich entscheidet der Kunde, wie einflussreich eine Branche ist.

      Wofür ich halt plädiere: Dass die Kulturbranche nicht ähnliche Gefahren schafft, sondern eher darauf dringt, dass sich auch andere Bereiche an die Vorsichtsregeln halten.

      Danke für Deine Anmerkungen und herzliche Grüße nach Offenbach
      Gerhard

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