Eine Hommage an die alten Milongueros
Noch
gibt es sie, die „alten
Milongueros“ (und natürlich Milongueras) – wobei eine einfache Rechnung beweist:
Wer das Ende der „EdO“ (also um 1955)
noch auf der Piste erlebt hat, muss spätestens 1940 geboren sein, jetzt also zumindest 80 Jahre auf dem Buckel haben, eher mehr. Lange werden diese Zeitzeugen uns nicht mehr informieren
können.
Daher war ich froh, den Trailer eines Filmes von Rika Fukuda und José Ferraro aus dem Jahr 2019 zu
entdecken:
„MILONGUEROS: El compás de Buenos Aires – Tips
from the old school generation”
Darin erlebt man in fast acht Minuten eine Collage der Aussagen von Leuten, die
wohl am ehesten berechtigt sind, den Begriff „Tradition“ zu beanspruchen. Nach meinem Eindruck handelt es sich
bei den Personen nicht um Tango-Berühmtheiten, sondern eher um „normale“ Tango-Enthusiasten. Ich fand
diese Sätze derartig interessant, dass ich sie aus dem Englischen übersetzt und
auch in der Reihenfolge kaum verändert habe:
„Warum wird unser Tanz überall in der Welt
anerkannt und bewundert? Der einzige Ort, wo man ihn nicht schätzt, ist
Argentinien.“
„Wir Porteños haben
den Tango. Er ist unsere Folklore.“
„Der Tango ist
argentinisch. Das ist es! Der Tango ist von hier!“
„Die Milongueros
wurden früher kritisiert. Jetzt werden sie exportiert.“
„Ich liebe den Tango,
seit ich ihn zum ersten Mal sah.“
„Ich lernte selber
tanzen, durch Zuschauen.“
„Ich lernte mit einem
Besen tanzen.“
„Ich war mein ganzes
Leben mit Carlos zusammen. Alles, was ich über das Tanzen weiß, hat er mich
gelehrt.“
„Wie ich tanzen
lernte? Keine Ahnung!“
„Wir tanzten nicht
unter Männern. Wir übten nur. Wir lernten gewöhnlich miteinander.“
„Ich habe als Frau
getanzt, nie als Mann. Ich fragte mich immer: Wann werde ich anfangen, wie ein
Mann zu tanzen?“
„Und die Regel war,
anders zu sein als alle anderen.“
„Ja, jede Person
hatte ihren eigenen Stil“
„Niemand sah gleich
aus.“
„Keiner macht es wie
du.“
„Die Leute pflegten
zu sagen: Du willst neue Figuren? Dann gehe auf die Milonga und klaue sie.“
„Von 40 Leuten, die
tanzten, waren 39 gute Tänzer.“
„Weil wir Tango tanzten.
Den wirklichen Tango.“
„Damals gab es mehr
als 50 Orte, wo man tanzen konnte.“
„Ich spähte durch den
Vorhang und sah all die Frauen. All die Männer in der Mitte, und alle Mädchen
und ihre Mütter saßen außen herum. Stets in hochhackigen Schuhen und Strümpfen.
Und sie ließen dich ohne deine Mutter nicht herein.“
„D’Arienzo kam
normalerweise am fünften Samstag, und alle flippten aus.“
„Juan D’Arienzo mit
Biagi am Piano: Dieser Rhythmus – man musste tanzen. Die Mädchen hoben ab und
flogen!
„Ich hatte das größte
Glück, alle Live-Orchester gesehen zu haben.“
„Ich tanzte mit
Troilo, Di Sarli, Pugliese, Tanturi, D’Arienzo, zu allen Live-Orchestern. Das
wird es nie mehr geben.“
„Ich mag
Verzierungen, aber nicht, wenn sie vulgär sind. Sie sollten zart und delikat
sein.“
„Ich meine, diese
Mädchen heben ihre Beine zu sehr.“
„Und nicht die Beine
hochbewegen. Ich mag alles auf der Höhe des Tanzbodens.“
„Heute schauen alle
gleich aus, wenn sie die Beine hochwerfen, dass du sogar ihr Geburtsdatum
siehst.“
„Wenn der Mann sagt:
‚Spiel ein bisschen mit deinen Füßen‘, dann mach es, wenn du weißt, wie es
geht. Wenn nicht, dann blamier dich nicht.“
„Für mich ist Tanzen
aufrecht stehen, wissen, wie man geht, die Schritte ganz gerade machen.“
„Manche Leute
glauben, mit fünf oder sechs Stunden haben sie es gelernt. Das stimmt nicht. Es
dauert Jahre.“
„Heute kannst du
nicht auswählen – es gibt keine Männer mehr, die tanzen können. Wir sind
verloren. Gott sei Dank bin ich alt.“
„Es gibt immer einen
Trottel, der etwas erfinden will. Das ist falsch.“
„Heute mischen sie
einen Tango von 1945 mit einem von 1965.“
„Was tanzen die? Sie
hören D’Arienzo und tanzen wie Di Sarli. Sie hören Di Sarli und tanzen darauf
D’Arienzo.“
„Sie sollten
aufhören, zu Tangos mit Texten zu tanzen. Die sind nur gut zum Zuhören. Sie
sollten lernen, wie man tanzt, weil heute schauen sie alle gleich aus.“
„Mit dem Tango kann
man nicht stehlen. Wir degenerieren alles.“
„Es gibt keine
Milongueros mehr. Das geht zu Ende.“
„Ich pflegte zu
sagen, dass der Tango im Sterben liegt, weil die jungen Leute ihn nicht mögen.
Er wird mit uns dahingehen.“
„In unseren Armen
halten wir das schönste Instrument des Tangos – die Frau.“
„Die Frau übergibt
ihren Körper zum Tanz.“
„Es sind drei
Minuten. Begleite jeden, sogar die, welche nicht wirklich tanzen.“
„Alte Männer tanzen
nicht mehr mit mir. Sie bevorzugen junge Frauen.“
„Jetzt sind meine
Beine nicht mehr gut genug, aber ich werde weitermachen.“
„Dein Körper muss
sprechen.“
„Jeder Tango erzählt
dir, wie man ihn tanzt. Du sollst nicht einfach so Figuren machen.“
„Das Schwierigste ist
das Gehen.“
„Der Tango, der
Tanzboden ruft dich.“
„Ich hoffe, dass der
Tango nicht stirbt.“
„Wenn du dem Tango
zuhörst, geht er in dich hinein.“
„Wenn ich aufhöre zu
tanzen, werde ich krank.“
Sicher muss man bei diesen Aussagen das Alter bedenken: Es wäre geradezu ein Wunder, wenn diese Menschen nicht die Musik ihrer jungen Jahre für das Nonplusultra hielten. Ferner ist man natürlich stolz auf das „argentinische Produkt“ Tango (wobei man sowohl Einwanderer als auch Uruguayer übersieht). Und klar: Nie wieder wird es so sein wie damals, auch tänzerisch. Und dass alte Damen mit scheelem Blick auf junge Dinger sehen, die ihre Beine in die Luft werfen, kommt auch ganz ohne Tango vor.
Sicherlich besticht aber Tango als Gesellschaftstanz
durch Feinheit plus Raffinesse und nicht via artistische Höchstleistungen, welche – falls nicht beherrscht – nur
peinlich wirken.
Dennoch, so ist mein Eindruck, waren und sind
solche Senioren näher an der Essenz des
Tango als die heute Tanzenden. Warum?
In ihrer Kinder- und Jugendzeit hatten diese
Leute – zumindest in größeren Städten – kaum eine Chance, dem damaligen Tangofieber zu entkommen. Oft tanzten
schon die Eltern sowie Geschwister – gelernt wurde in der Familie oder sonstigen Verwandtschaft, mit dem Partner und auf den
Milongas. Männer übten oft
untereinander in Practicas. Häufig
musste man beide Rollen beherrschen.
Man kann es nur immer wieder betonen: Tangoschulen und Kurse im heutigen Sinne gab es nicht – eher privat organisierte
Übungsmöglichkeiten.
Ich bin mir aber sicher, dass auch im damaligen
Buenos Aires viele kaum Tango tanzten,
da sie mangels Begabung und Musikalität gegen die umfangreiche
Konkurrenz keine Chance hatten und ihnen auch das Interesse fehlte.
Für alle, die aber dabei blieben, wurde Tango
ein wichtiger Lebensmittelpunkt.
Schon deshalb, weil das damalige Freizeitangebot sicher nicht so groß war wie
heute. Ihr Können verdankten diese Menschen Zehntausenden von Stunden auf dem Parkett – und nicht einer größeren Zahl
von Kursstunden.
Und diese Aficionados kannten die Musik, welche damals angesagt war, in-
und auswendig – übrigens auch die Texte.
Sie wussten also sehr genau, worauf sie tanzten. Schritte und Figuren? Da
hätten heutige Tangolehrer ein schlechtes Geschäft gemacht: Musikalisch zu tanzen war oberstes
Gebot – choreografische Elemente Nebensache. Und bei Bedarf schaute man sich
diese auf den Milongas ab. Solche Leute waren aber Meister der Improvisation. Daher hatte jeder seinen
eigenen Stil.
Wie sieht es heute bei uns aus? Bis ins mittlere Lebensalter kannten viele, die
sich heute „Tangotänzer“ nennen, höchstens den Standard-Tanzschultango aus ihrer Schulzeit. Irgendwann nach der Scheidung und/oder dem Älterwerden der Kinder suchte man dann
ein Hobby mit genügend
künstlerischem und sozialem Charakter. Und vor allem die Frauen wollten eine Möglichkeit, unbemannt auszugehen. Die nötigen Schritte ließ man sich in einigen
Kursen einbläuen. Und auch fürs sonstige Zubehör
sorgte eine wachsende Tangoindustrie,
welche den Eventcharakter dieses Tanzes nach Kräften verstärkte.
Am schlimmsten jedoch ist die riesige Distanz zur Musik – und natürlich zu den Texten, da die wenigsten Spanisch
können und auch kein Interesse daran haben, sich Übersetzungen zu besorgen. Die
gebotenen (oft schon genügend einfältigen) Klänge werden weitgehend als Taktgeber missbraucht. Inzwischen
erzähle ich Tanzpartnerinnen nichts mehr über die gerade laufenden Stücke. Das Interesse daran ist ungefähr so groß,
als wenn ich Ihnen die städtische Friedhofsordnung erklären würde (obwohl… ich
sollte es mal versuchen). Der DJ
wird schon wissen, was er auflegt – und das kann man wörtlich nehmen: Wenn man
Glück hat, kennt er die Titel.
Engagement, ja Leidenschaft? Davon sehe ich in jedem Heimatfilm mehr. Sich in die
Musik fallen lassen? Oh nein, man muss ja an die richtigen Schritte denken, welche sich bei den meisten Tangolehrern
gleichen wie ein Ei dem anderen. Klar – es gibt nicht viel Auswahl für die verlangte
Schnellbleiche. Daher das uninspirierte Einerlei,
das heute auf dem Parkett üblich ist.
Wenn man zum Thema „alte Milongueros“ Videos auf YouTube sucht, ist man meist auf wenige
in spanischer oder englischer Sprache angewiesen. Deutsche Tangolehrer zeigen
lieber in Tausenden von Filmen, wie gut sie selber tanzen (und vor allem reden)
können. Es ist schon seltsam: Eine Branche, welche den Begriff „Tradition“ (oder gar „Weltkulturerbe") wie eine Monstranz
hochhält, interessiert sich in Wahrheit einen Dreck dafür. Ersatzweise huldigt
man einigen antiquierten Ritualen und begrenzt die Musik auf ein paar hundert
Titel einer engen zeitlichen Epoche. Man tut so, als sei man traditionell - und bietet dazu eine perfekte Parodie.
Wahrlich – ich kenne keine andere Szene, die
derart von der Spur abgekommen ist!
Daher werde ich mich weiterhin um die wirklichen Tangotraditionen kümmern.
Man kann nur erfolgreich erneuern, wenn man den wahren Boden kennt, auf dem
alles ruht. Die Zeitzeugen sterben nämlich weg. Daher stimmt es,
was einer der alten Milongueros am Schluss des Trailers sagt:
„Sie vergessen viele
Milongueros. Die sterben, und die Leute denken nicht mehr sie. So sollte es
nicht sein. Sie sollten ihnen von Zeit zu Zeit Ehre erweisen.“
Tipp: Bei den Filmemachern, Rika Fukuda und José Ferraro, handelt es sich offenbar um ein Tanzpaar:
Tipp: Bei den Filmemachern, Rika Fukuda und José Ferraro, handelt es sich offenbar um ein Tanzpaar:
P.S.
Mit dem Thema „Alte Milongueros" habe ich mich schon einmal beschäftigt – auch anlässlich eines
Films. Und mit annähernd gleichen Ergebnissen:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2019/07/legenden-des-tangotanzes.html
Tja, lieber Gerhard Riedl, ist das nicht überall so? Überall da, wo Technik Gefühle überlagert? (Hab da was von Techno-Tango gehört.) Das schönste beim Tanzen ist doch, einen sympathischen Menschen im Arm zu haben oder im Arm gehalten zu werden. Dieses tiefe körperliche Verlangen beherrscht Mensch, Tier und Pflanze, weil körperlich, weil Sehnsucht, weil Verlangen, weil Liebe. Oder Arterhaltung. Oder Fortpflanzung. Tanzen scheint mir da ein Vorspiel, eine Einstimmung, eine Trance zur völligen Hingabe. Könnte mich da geradezu reinsteigern in einen Tsunami der Gefühle. Aber ich gehöre ja in meinem Alter zu den Traditionalisten, den Bewahrern, den ewig Gestrigen.
AntwortenLöschenDie Diskrepanz zur Jugend bestand schon immer: Der Grünschnabel und der Weise.
Lieber Karl Klöpfer,
Löschenja, leider nimmt die Zahl der "Gefühlstänzer" im Tango ab. In der Szene ist es inzwischen Allgemeingut, dass man diesen Tanz nach technischen Kriterien in strengem Kursunterricht zu studieren habe.
Das Spannungsverhältnis zwischen den Bewahrern und den Aufmüpfigen finde ich nicht schlimm - im Gegenteil: Es ist Voraussetzung für die Weiterentwicklung.
Vielen Dank und herzliche Grüße
Gerhard