Cancel Culture


Der britische Biochemiker Sir Tim Hunt sollte auf einer Tagung in Südkorea eine launige Tischrede halten. „Es ist seltsam, dass so ein chauvinistisches Scheusal wie ich gebeten wurde, vor Wissenschaftlerinnen zu sprechen", begann er seine Ansprache – um dann auf die „Mädels im Labor“ zu kommen. Er sei in solchen Forschungsstätten für eine Geschlechtertrennung, denn: „Drei Dinge passieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich, und wenn du sie kritisierst, fangen sie an zu heulen." Das kostete ihm seinen Job als Honorarprofessor am University College London und seine Mitgliedschaft in honorigen Zirkeln wie der Royal Society.

Es nützte auch nichts, dass der Nobelpreisträger für Medizin 2001 (nach einem Gedächtnisprotokoll) hinzufügte: „Jetzt im Ernst, ich bin beeindruckt von der ökonomischen Entwicklung Koreas. Und Wissenschaftlerinnen spielten darin ohne jeden Zweifel eine wichtige Rolle. Die Wissenschaft braucht Frauen, und Sie sollten trotz aller Hindernisse Wissenschaft betreiben, auch trotz solcher Scheusale wie mir."

Seinen Arbeitgeber beeindruckte das nicht, und es gab auch keine Möglichkeit für Hunt, sich bei ihm zu rechtfertigen: Über so etwas mache man eben auch keine Scherze – obwohl eine Reihe von wissenschaftlichen Kollegen, unter anderem fünf Nobelpreisträger, sich für ihn einsetzten. Und Hunt sich für seinen Spruch entschuldigte. Skandalisiert hatte das Ganze eine Teilnehmerin der Tagung – und in Kürze wurde auf Twitter ein Shitstorm organisiert – abgesprochen mit zwei weiteren weiblichen Anwesenden.

Die Häme, welche damals über Hunt ausgeschüttet wurde, zeigt ein Kommentar von Ariane Bemmer im Berliner „Tagespiegel“. Unter anderen liest man da:

„Der alte Chauvinismus hat sich noch mal laut zu Wort gemeldet, aber – zack – hat er einen auf die Rübe bekommen, so dass nun wieder eine Weile Ruhe sein dürfte. Recht so.
Der alte Chauvinismus ist in diesem Fall der 72-jährige Nobelpreisträger Tim Hunt. Er hat auf einer Tagung in Seoul eine Bemerkung gemacht, die er, wie er nachgeschoben hat, für witzig hielt. Seither kann er sich in seinem hübschen Garten in der Grafschaft Hertfordshire nördlich von London um seine Quitten kümmern. (…)
Ihr Mann sei ‚kein Dinosaurier‘, hat Frau Hunt gesagt. Ist er doch. Gut, dass man ihm eins übergebraten hat.“

Titel: „Sexismus lohnt sich nicht, my Darling“

Der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Tipp: Jetzt Empörungswelle vorbereiten) distanzierte sich in einem Artikel für die FAZ zwar von Hunts Spruch, stellt aber fest:

„Ein trauriges Beispiel für ein Reaktionsmuster, das viele emanzipatorische Strömungen mittlerweile an den Tag legen: Die Strafe steht in keinem Verhältnis mehr zur Tat, und an die Stelle des aufgeklärten Diskurses und des Ringens um eine emanzipatorische Position tritt eine geradezu jakobinische Verdammnis. Traurig ist dies nicht nur für das Lebenswerk eines verdienten Wissenschaftlers, sondern für den Kampf gegen Sexismus selbst. Überreaktionen dieser Art befremden auch Menschen, die Sexismus strikt ablehnen.“

Aber auch Frauen sind nicht davor gefeit, in die Fänge solcher Sexismus-Erinnyen zu geraten. So bekam es der Bestseller-Autorin Joanne K. Rowling („Harry Potter“) schlecht, als sie der Ökonomin Maya Forstater beisprang, die für angeblich verächtliche Äußerungen über Transgender-Personen gekündigt wurde. Es ging um die Frage, was nun das Geschlecht entscheide: eher die Biologie oder die Mentalität. Rowling schrieb dazu auf Twitter:

„Zieh dich an, wie du willst. Nenn dich, wie du willst. Schlaf mit welchem Erwachsenen du willst. Lebe das beste Leben in Frieden und Sicherheit. Aber Frauen aus ihrem Job werfen, weil sie behaupten, dass Geschlechter real sind?“

Auch hier der übliche Empörungssturm in den sozialen Medien.

In einem Offenen Brief, den Harpers’s Magazine vorab online veröffentlicht hat, greift die Schriftstellerin zusammen mit über 150 Kulturschaffenden und Wissenschaftlern das „Klima der Intoleranz“ an. Bei den Unterzeichnern sind bekannte Namen wie Salman Rushdie, Margaret Atwood  und Gloria Steinem.
   

In dem „Brief über Gerechtigkeit und offene Debatte“ heißt es unter anderem:

„Der freie Austausch von Informationen und Ideen, das Lebenselixier einer liberalen Gesellschaft, wird täglich enger. Während wir dies von der radikalen Rechten erwarten, breitet sich die Zensur auch in unserer Kultur weiter aus: eine Intoleranz gegenüber gegensätzlichen Ansichten, eine Mode öffentlichen Heruntermachens und Ausgrenzung und die Tendenz, komplexe politische Fragen in einer blendenden moralischen Gewissheit aufzulösen. Wir halten den Wert einer robusten und sogar ätzenden Gegenrede von allen Seiten aufrecht. (…)

Redakteure werden entlassen, weil sie kontroverse Artikel veröffentlicht haben. Bücher werden wegen angeblicher Unechtheit zurückgezogen; Journalisten dürfen nicht zu bestimmten Themen schreiben. Professoren werden überprüft, wenn sie im Unterricht gewisse Werke der Literatur zitieren (…)

Was auch immer die Argumente für jeden einzelnen Vorfall sein mögen, das Ergebnis war, die Grenzen dessen, was ohne Gefahr von Repressalien gesagt werden kann, stetig zu verengen. Wir zahlen bereits den Preis für eine größere Risikoaversion bei Schriftstellern, Künstlern und Journalisten, die um ihren Lebensunterhalt fürchten, wenn sie vom Konsens abweichen oder sogar keine ausreichende Bereitschaft zur Übereinstimmung haben.

Der Weg, schlechte Ideen zu besiegen, führt über Enthüllung, Argumentation und Überzeugung, nicht über den Versuch, sie zum Schweigen zu bringen oder wegzuwünschen. Wir lehnen jede falsche Wahl zwischen Gerechtigkeit und Freiheit ab, die ohne einander nicht existieren können. Als Schriftsteller brauchen wir eine Kultur, die uns Raum für Experimente, Risikobereitschaft und sogar Fehler lässt. Wir müssen die Möglichkeit von Meinungsverschiedenheiten in gutem Glauben ohne schwerwiegende berufliche Konsequenzen bewahren. Wenn wir nicht genau das verteidigen, wovon unsere Arbeit abhängt, sollten wir nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit oder der Staat es für uns verteidigen.“

Ich fürchte, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern (wie viele es denn auch geben mag) wird nicht entspannter, wenn man wegen eines launigen Spruchs seinen Arbeitsplatz verliert oder im Internet mit Beschimpfungen überzogen wird. In meiner Jugendzeit war es jedenfalls noch möglich, dass Männer Frotzeleien über Frauen abließen und umgekehrt die Damen sich mit faulen Witzen über die Kerle revanchierten. Gelacht wurde in beiden Fällen – und meist von allen.

Dort, wo Frauen und erst recht Minderheiten tatsächlich benachteiligt werden, ist eine klare Null-Toleranz-Strategie angesagt – aber die wird nicht glaubwürdiger, wenn wir zu monströsem Gender-Sprech gezwungen werden oder nun in ein Schaumtörtchen statt einen Mohrenkopf zu beißen haben. Im Gegenteil: Genau das ist Wasser auf die Mühlen derer, welche unsere freiheitliche und liberale Gesellschaft wirklich nicht wollen.

Das Gute wird nicht besser, wenn es als jacobinische Sprachpolizei auftritt und die Mittel anwendet, die man in Amerika neuerdings als „Cancel Culture“ bezeichnet: Mit unliebsamen, provokanten Äußerungen setzt man sich nicht mehr argumentativ auseinander, nein: Man lässt das rhetorische Fallbeil sausen. Der Widersacher ist eben abgrundtief böse, daher: löschen, sperren, boykottieren, persönlich niedermachen, rausschmeißen!

Die derzeit grassierende Intoleranz und moralische Verblendung habe ich letztmals in meiner Jugendzeit bei Konflikten mit der katholischen Kirche erlebt, in die ich auch persönlich verwickelt war: Wer die Lehrmeinung der angeblich Frommen nicht nachplapperte, war eben des Teufels. Dass der gleiche Käse nun von angeblich emanzipatorischer, linker Seite kommt, macht ihn nicht besser.

In beiden Fällen hilft aber der Lackmus-Test der Satire: Wenn sie mit Köpfen zusammenstößt und es hohl klingt, muss es nicht an ihr liegen.

Das habe ich viele Male auch im Tango erlebt: Wenn man dort einen guten (oder noch besser: schlechten) Witz macht, trennt das die Welt schlagartig in niveaulos Verkicherte und schwer Angepisste.

Dass dann mein Arbeitsplatz nicht in Gefahr ist, beruhigt mich sehr – ebenso, dass ich nicht auf gewissen Tangoservern werben muss…  

P.S. Hier eine gute Zusammenstellung des Kriegs um Worte:


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