„Mein Tango“ im Kurcafé
Mein Tango ist mir an jenem unvergesslichen Abend auf der Münchner Praterinsel zugelaufen, als der Sänger Jaime Liemann mit seinem Ensemble „Youkali“ Piazzollas „Balada para un loco“ interpretierte. Ein traumhafter Moment, den ich nie vergessen werde! Die Musik und unser Tanz dazu haben dem seltsamen Geschöpf wohl gefallen, und in einem unbewachten Augenblick landete es zusammen mit den Schuhbeuteln im Kofferraum unseres Autos.
Seither lebt das koboldartige Wesen bei uns und ernährt sich vom Futter, welches es der ambulanten Hauskatze klaut. Sichtbar ist es nur für diejenigen, welche die damalige Stimmung mitbekommen haben. Mein Tango verwaltet meine CD-Sammlung, wo er heimlich Tango nuevo-Tonträger immer wieder ganz nach oben auf die Stapel legt und EdO-CDs so gut versteckt, dass ich sie oft monatelang nicht mehr finde.
Ansonsten zeigt dieser Hausgeist großes Interesse an meiner Arbeit als Autor, indem er mich immer wieder mit zu schreibenden Themen nervt und in unbewachten Momenten gar lästerliche Anspielungen in die Tastatur drückt. Ich verdanke meinem Tango einen Großteil der Wortspiele. Besonders stolz ist er beispielsweise auf das Motto vieler traditioneller DJs: „Musik ist Trump“. Und der besten aller Ehefrauen kann ich immer wieder versichern, die bösesten Sätze stammten gar nicht von mir, sondern von meinem Tango.
Als Fan schwieriger Tangomusik saust er beseligt auf unserem Wohnzimmer-Parkett umher, wenn wir wieder mal Gäste zum Tanz einladen. Bei auswärtigen Milongas ist er ziemlich kritisch – öfters nölt er schon bei der Hinfahrt: Was wir denn in diesem langweiligen Laden wollten, da hänge doch der Hund tot überm Zaun!
So zog er auch neulich eine Schnute, als wir beschlossen, nach vielen Jahren endlich wieder einmal den „Tango im Kurcafé“ zu besuchen – früher eine schöne Veranstaltung, in der auch mal „schräge“ DJs auflegten. Und wir waren eh in der Gegend. Was wir denn um Himmels willen da wollten? Es sei doch hinlänglich bekannt, dass in dieser Stadt seit vielen Jahren ein Tangoverein jeglichen Fortschritt verhindere. Da bleibe er lieber zu Hause!
Schön wär’s! Als wir in dem historischen Gemäuer unsere Schuhbeutel öffneten, sprang mein Tango heraus, deutete auf die DJane und krähte entsetzt: „Legt die etwa auf? Na dann gute Nacht!“
Grundsätzlich musste ich ihm recht geben. Ich kenne die Dame seit vielen Jahren und schätze ihre fundierten Musikkenntnisse. Allerdings war mir auch klar, dass sie kein Risiko eingehen würde – Aufnahmen nach 1960 waren zuverlässig nicht zu erwarten. Man will ja seinen Job behalten.
„Jetzt gib Ruhe“, forderte ich meinen Tango auf, „in dieser Stadt hätte es auch viel schlimmer kommen können“. Geistesgegenwärtig zog ich ihn von der Tonanlage weg und verhinderte so im letzten Moment, dass er einen Stecker aus dem Mischpult zog.
Zunehmend füllte sich der Raum mit Menschen, die ich gut kannte, obwohl ich sie schon viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Und sie tanzten auch noch exakt so wie in paläontologisch versunkenen Epochen: Milonga der lebenden Fossilien.
Schon die Fülle auf dem Parkett verhinderte kreative Ausschreitungen, die jedoch auch bei mehr Platz nicht zu befürchten waren. Same Procedure as im Mesozoikum, Miss Sophie…
In diesem Moment fiel mir wieder der kolumbianische Sänger ein, der das Intro von Piazzollas „Balada“ damals so abänderte: „Diese Abende auf der Praterinsel haben etwas ganz Besonderes…“
Dieser Abend nicht. Piazzolla ist tot – Liemann inzwischen auch. „Ya sé que estoy piantao, piantao, piantao … Ich weiß doch, dass ich verrückt bin, verrückt…“ Wohin ist dieser Zauber entschwunden? Stattdessen betätige ich mich hier im historischen Salon als Archäologe, der Fossilien aus den Gesteinsschichten kratzt.
Schnell verhindere ich, dass mein Tango einem
sitzenden Stemmbogen-Tanguero die Bändel beider Schuhe zusammenknotet. Ich bin
gegen jede Form von Gewalt. Selbst wenn die Füße voraussichtlich eh eng zusammenblieben...
Der Kobold windet sich in meinen Armen, versucht mich zu beißen und zetert: „Hast schon gesehen, dass der Typ dort hinten die ganze Zeit deine Begleiterin anstarrt?“ Na sicher – und nun kommt er sogar direkt auf sie zu! Im letzten Moment taucht sie ab und flüchtet zum Ausgang.
„Wer sie auf Facebook sperrt, hat keine Chance auf einen Tanz“, antworte ich. „Ach, ist das dieser Münchner Grobian?“ fragt mein Tango und setzt fort: „Keine Angst, der hat seinen fetten Mercedes in die Feuerwehr-Zufahrt gestellt. Das mögen die hier gar nicht!“ Er schafft es doch immer wieder, mich zu erheitern…
„Ich warte jetzt noch auf die einzige Milonga-Runde des Abends, dann hauen wir ab“, tröste ich meinen Tango. Kurz darauf kommt die auch, begleitet von seinem Hohngelächter: „Haha, Milongas… wusste gar nicht, dass die noch langsamer sind als die Tangos! Na dann, viel Spaß!“
Nun gut, wir trappelten drei Stücke lang durch den Wald der Untoten. Im Augenwinkel registriere ich die hinterm Tresen strickende Bedienung – die wohl vernünftigste Tätigkeit in diesem Raum. Nach einer halben Runde bemerke ich eine weibliche Retro-VIP, die Karins Schal vom Stuhl räumt und dort ersatzweise ihren umfangreichen Hintern parkt. Nun müsste ich dem Drama im Stehen beiwohnen.
Wir flüchten in die Garderobe – vorbei an bräunlichen Paneelen und Wandmalereien, die mir jünger als die Musik erschienen. Wie sagte Danny Wilde in „Die 2“? „Wenn Licht ist in der Gruft, dann liegt was in der Luft“. Klar – der Duft von Verwesung.
Beim Anziehen des Mantels bemerke ich, dass irgendein Spaßvogel die Ärmel aller Jacken verknotet hatte. „Ich war es nicht“, grinst mein Tango. „Ist ja gut“, antworte ich, „aber die Spendenbox bleibt hier!“ Ich entwinde ihm die Schachtel, wobei er lauthals zetert: „Die Mafia darf man nicht finanzieren!“
Wir gehen, vorbei an einem Abschleppwagen bei der Feuerwehreinfahrt, zu unserem Fahrzeug. Hatte mir mein Tango eventuell das Handy gemopst und angerufen? Egal – er würde es eh nicht zugeben…
„Los jetzt, ab in den Kofferraum“, befehle ich. Mein Tango schaukelt noch ein wenig an der Türklappe und bemerkt zuckersüß: „Diese Tante, die euch den Platz weggenommen hat… also, da liegen jetzt ein paar Reißnägel!“
Während ich den Motor starte, höre ich ihn lauthals sowie falsch singen:
„Weil – so halb tanzend und halb fliegend,
ziehe ich meine Melone Dich zu grüßen, schenke Dir ein Fähnchen und sage Dir:
Ich weiß doch, dass ich verrückt bin, verrückt, verrückt!
Siehst Du nicht, dass der Mond rundgeht in der Avenida Callau?
Dass ein Korso von Sternenfahrern und Kindern einen Walzer um mich tanzen?
Tanz! Komm! Flieg!“
Manchmal ist es schon schwierig mit ihm.
https://lyricstranslate.com/de/balada-para-un-loco-ballade-f%C3%BCr-einen-verr%C3%BCckten.html
https://www.todotango.com/musica/tema/192/Balada-para-un-loco/
https://www.youtube.com/watch?v=Y0e6hY2SxPs
P.S. Die Idee mit „meinem Tango“ verdanke ich Manuela Bößel. Herzlichen Dank dafür!
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