Mit der Seele tanzen
Gestern sendete der WDR in seiner Reihe „Menschen hautnah“ das Porträt des Tanzlehrers Georg Stallnig: „Vom Glück zu tanzen“. Was da zu sehen ist, hat mich begeistert – und obwohl es nicht um Tango geht, empfehle ich es dringend allen meinen Leserinnen und Lesern.
Der 70-jährige Stallnig wartet nicht darauf, dass Leute in seine Tanzschule kommen. In der ersten Sequenz mischt er unter dem Motto „Bewegte Pause“ mit heißen Rhythmen eine Menge von Kindern am Schulhof auf. „Tanzen macht glücklich“ – so sein Motto. Sein Alter sieht man ihm nicht an: In Jeans und Sneakers springt er mit den Kleinen herum, ernennt gleich Kids zum „Tanzlehrer“. Wow, einer, der selber mittanzt – wie schmerzlich vermisse ich das beim Tango-Lehrpersonal!
„Wieso bist du so gut drauf?“ Nimmst du Drogen?“ werde er manchmal gefragt. Nein, so seine Antwort – er handle aus dem Bauch heraus. „Und meine Urkunde ist, wenn sie fragen: Wann kommst du wieder?“
Tanzen gelernt hat er in Erfurt, weil seine Schwester einen Tanzpartner brauchte. 1989 flüchte er über Ungarn in die BRD.
Viele der Pausenhof-Tanzenden kommen später zum Kurs in seine Tanzschule. Draußen vor der Tür schon begrüßt er die Jugendlichen. Paare werden bei ihm immer wieder gewechselt – egal, ob dann auch mal zwei Jungs oder Mädchen miteinander üben. Zum Schluss gibt es eine „Komplimente-Runde“: Jeder sagt zu seinem Partner etwas Nettes: „Hast du gut gemacht“ oder „Es war schön, mit dir hier zu sein“.
Die Kids finden es cool. Es habe überhaupt keinen Frust gegeben, es sei total entspannt gewesen. Man konnte mit allen tanzen, es war komplett egal. Ein Junge findet es sogar einfacher, mit einem männlichen Gegenüber zu lernen. Eine Stimmung, die ich beim Tango oft vermisse!
Doch auch Senioren bringt der Chef auf Trab: „Beschwingte Stunde mit Georg“ lautet in Altenheimen das Motto. Beim Intro rockt er sein Publikum mit Luftgitarre-Einlagen: „Raus aus den 30 Prozent – rein in die 110!“ Doch natürlich darf auch ein Strauss-Walzer nicht fehlen. Er sucht das persönliche Gespräch, nimmt jeden und jede ernst. Ob am Rollator oder im Rollstuhl – seiner guten Laune kann kaum eine und einer widerstehen!
Tanzen ist gut für die Seele. Eine neue Bewohnerin, die zunächst ob des Umzugs sehr traurig war, kürt er beim übernächsten Mal zur „Dancing Queen“, da sie die ganze Zeit getanzt hat. Aus Lethargie wird Euphorie.
Beim Ehepaartanzkurs lernen wird ein Paar kennen, das beim Tanzen zueinander gefunden hat – vor 51 Jahren. Sie hat zunehmende Probleme, da sie wohl an einer neurologischen Erkrankung leidet. Doch auch da hilft die Bewegung zur Musik über vieles hinweg.
Vorbereitung auf den Abschlussball mit der Ermahnung: „Handys schlafen, sie sind müde von der ganzen Woche“. Es werde nicht erwartet, dass die jungen Leute nach einem Grundkurs tanzten wie das Bolschoi-Theater. Aber man müsse sich auf die Schritte fokussieren, auf die Kommunikation mit dem Partner: „Leute, wenn alle wüssten, wie schön tanzen wäre!“
Wir begleiten ein Paar, das sich im Einzelunterricht einen Hochzeitstanz beibringen lässt. Es gelingt Georg tatsächlich, dem etwas hölzernen Gatten beim Fest einen annehmbaren Langsamen Walzer zu entlocken. Wie er die aus Deutschen und Chinesen gemischte Gesellschaft dann zum Toben bringt, ist sehenswert! Und er holt die Menschen natürlich mit modernen Klängen ab – ach, wie schön wäre das beim Tango!
Abschlussball des Schülertanzkurses: Die Jungs im Anzug, die Mädchen mit langem Abendkleid kostümiert. Aufgeregte Teenager, stolze Eltern, Polonaise: „Schließet den Keis, ihr Ritter der Sneakers!“ Auch beim (natürlich schaumgebremsten) Wiener Walzer geht alles gut. Und auch hier kriegt Georg Stallnig wieder alle auf die Fläche.
„Ich bin authentisch“, sagt er zum Schluss. „Ich spiele nicht Night Fever – ich bin Night Fever“. Das kann ich nur bestätigen.
Darauf, so meine ich, kommt es beim Tanzen an: Nicht auf
die technisch exakten Bewegungen, die perfekte Körperkontrolle. Wichtiger ist,
was sich in der Seele abspielt, das Glück zu fühlen, das uns
diese Tätigkeit schenkt. Man sieht es solchen Tänzen an.
Der Tanzlehrer lebt das vor. Er ist ein begnadeter Pädagoge. Hätte ich eine Privatschule, würde ich ihn auf der Stelle engagieren. Die Fächer könnte er sich selber raussuchen.
Für mich ist er das Gegenmodell zu manchen, die meinen, im Tango die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben: keine Verkrampftheit, kein arrogantes Getue, kaum kopfgesteuert. Seine Liebe zum Tanz gibt er an seine Schülerinnen und Schüler weiter – mit Herzlichkeit und Humor.
Zirka 40 Minuten, die sich wirklich lohnen:
https://www1.wdr.de/fernsehen/menschen-hautnah/sendungen/vom-glueck-zu-tanzen100.html
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